Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

wen hat. Jener war im Anfang seiner Carriere nur ein aufrichtiger Reform-
minister gewesen. Was er damals erstrebt: die Türkei aus eine durchaus im
modernen Zeitgeiste und in dem der Cultur umgewandelte Grundlage zu
stellen, das hat Mehemmed Kiprisli getreu aufgenommen und zu seinem leiten¬
den Richtpunct gemacht; aber ohne bis jetzt in jene persönliche und wesent¬
lich intriguante Politik einzugehen, die Neschid so meisterhaft. zu handhaben
wußte, um seine eigensten Interessen zu befördern und zu vertheidigen.
Der heutige Großvezier war vor zehn Jahren Gesandter der Pforte in
London und Paris; er hatte in den beiden Hauptstädten seine Ausbildung
erhalten und namentlich mit französischem Wesen sich bekannt gemacht. Dar¬
nach ging er als Commandeur des Armeecorps von Arabistan nach Sy¬
rien, bekämpfte die Drusen, aus Anlaß der von ihnen verweigerten Rekruti-
rung, mit zweifelhaftem Erfolg und kam darnach als Generalgouvemeur nach
Adrianopel, von wo er gleich nach Ausbruch des Krieges als Marineminister
nach Constantinopel berufen, und darauf für einige Wochen Großvezier
wurde. Das ihm seitdem verbliebene Prädicat "Hoheit" stammt aus jenen
Tagen. Nachdem er das Präsidium des Divan niedergelegt, lebte er ab¬
wechselnd als Minister und ohne Amt. Er war mehrere Jahre hindurch
Präsident oder Mitglied des Tansimat-Conseils. Erst seine Ernennung zum
Großvezier im Frühjahr 18K0 scheint eine entscheidende Wirksamkeit für
ihn eröffnet und eine große staatsmännische Laufbahn ihm gesichert zu haben.
Es muß als sehr wichtig angesehen werden, daß er ganz im Gegensatz zu
seinem Großvezierat vom Herbst 1859. dessen man sich in Europa kaum noch
erinnern wird, in jener letztgewonnenen Stellung zum ersten Mal das Ver¬
trauen Englands und seines hiesigen Vertreters, des feinen und sehr gewand¬
ten Sir Henry Bulwer.fich erworben hat. Es war ein traditionell gewor¬
denes Urtheil des Lord Stratford de Redcliffe gewesen, daß Mehemmed Kiprisli
Pascha nur ein orientalischer Charlatan und als activer Staatsmann aus erster
und vorderster Linie schwer zu verwenden sei.

Die Besiegung dieses Vorurtheils war kein kleiner Gewinn und zum
größern Theil hat er ihr seine heutige Stellung, die besser wie jemals, wenn
auch eine immerhin eine noch bedrohte ist, zu danken. Wir sind nicht aus¬
reichend in die augenblickliche Lage der Dinge und die fremdmächtlichen Be¬
gehungen eingeweiht, um ein sicheres Urtheil über Mehemmed Kiprisli's Ver¬
hältniß zu Frankreich und zur hiesigen französischen Gesandtschaft nussprechen
^ können. Im Herbst 1859 scheinen diese Relationen ihm günstiger gewesen
^ sein, wie heute, wo sie allem Anschein nach etwas erkalteten. Man will
wissen, daß Frankreich gegenwärtig Risa Pascha seine Unterstützung zukommen
I"sse. und allerdings spricht Manches für diese Annahme. Jedenfalls wird Herr
von Lavalette, der hiesige französische Botschafter, nichts unterlassen haben, um


wen hat. Jener war im Anfang seiner Carriere nur ein aufrichtiger Reform-
minister gewesen. Was er damals erstrebt: die Türkei aus eine durchaus im
modernen Zeitgeiste und in dem der Cultur umgewandelte Grundlage zu
stellen, das hat Mehemmed Kiprisli getreu aufgenommen und zu seinem leiten¬
den Richtpunct gemacht; aber ohne bis jetzt in jene persönliche und wesent¬
lich intriguante Politik einzugehen, die Neschid so meisterhaft. zu handhaben
wußte, um seine eigensten Interessen zu befördern und zu vertheidigen.
Der heutige Großvezier war vor zehn Jahren Gesandter der Pforte in
London und Paris; er hatte in den beiden Hauptstädten seine Ausbildung
erhalten und namentlich mit französischem Wesen sich bekannt gemacht. Dar¬
nach ging er als Commandeur des Armeecorps von Arabistan nach Sy¬
rien, bekämpfte die Drusen, aus Anlaß der von ihnen verweigerten Rekruti-
rung, mit zweifelhaftem Erfolg und kam darnach als Generalgouvemeur nach
Adrianopel, von wo er gleich nach Ausbruch des Krieges als Marineminister
nach Constantinopel berufen, und darauf für einige Wochen Großvezier
wurde. Das ihm seitdem verbliebene Prädicat „Hoheit" stammt aus jenen
Tagen. Nachdem er das Präsidium des Divan niedergelegt, lebte er ab¬
wechselnd als Minister und ohne Amt. Er war mehrere Jahre hindurch
Präsident oder Mitglied des Tansimat-Conseils. Erst seine Ernennung zum
Großvezier im Frühjahr 18K0 scheint eine entscheidende Wirksamkeit für
ihn eröffnet und eine große staatsmännische Laufbahn ihm gesichert zu haben.
Es muß als sehr wichtig angesehen werden, daß er ganz im Gegensatz zu
seinem Großvezierat vom Herbst 1859. dessen man sich in Europa kaum noch
erinnern wird, in jener letztgewonnenen Stellung zum ersten Mal das Ver¬
trauen Englands und seines hiesigen Vertreters, des feinen und sehr gewand¬
ten Sir Henry Bulwer.fich erworben hat. Es war ein traditionell gewor¬
denes Urtheil des Lord Stratford de Redcliffe gewesen, daß Mehemmed Kiprisli
Pascha nur ein orientalischer Charlatan und als activer Staatsmann aus erster
und vorderster Linie schwer zu verwenden sei.

Die Besiegung dieses Vorurtheils war kein kleiner Gewinn und zum
größern Theil hat er ihr seine heutige Stellung, die besser wie jemals, wenn
auch eine immerhin eine noch bedrohte ist, zu danken. Wir sind nicht aus¬
reichend in die augenblickliche Lage der Dinge und die fremdmächtlichen Be¬
gehungen eingeweiht, um ein sicheres Urtheil über Mehemmed Kiprisli's Ver¬
hältniß zu Frankreich und zur hiesigen französischen Gesandtschaft nussprechen
^ können. Im Herbst 1859 scheinen diese Relationen ihm günstiger gewesen
^ sein, wie heute, wo sie allem Anschein nach etwas erkalteten. Man will
wissen, daß Frankreich gegenwärtig Risa Pascha seine Unterstützung zukommen
I"sse. und allerdings spricht Manches für diese Annahme. Jedenfalls wird Herr
von Lavalette, der hiesige französische Botschafter, nichts unterlassen haben, um


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0145" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/111039"/>
          <p xml:id="ID_409" prev="#ID_408"> wen hat. Jener war im Anfang seiner Carriere nur ein aufrichtiger Reform-<lb/>
minister gewesen. Was er damals erstrebt: die Türkei aus eine durchaus im<lb/>
modernen Zeitgeiste und in dem der Cultur umgewandelte Grundlage zu<lb/>
stellen, das hat Mehemmed Kiprisli getreu aufgenommen und zu seinem leiten¬<lb/>
den Richtpunct gemacht; aber ohne bis jetzt in jene persönliche und wesent¬<lb/>
lich intriguante Politik einzugehen, die Neschid so meisterhaft. zu handhaben<lb/>
wußte, um seine eigensten Interessen zu befördern und zu vertheidigen.<lb/>
Der heutige Großvezier war vor zehn Jahren Gesandter der Pforte in<lb/>
London und Paris; er hatte in den beiden Hauptstädten seine Ausbildung<lb/>
erhalten und namentlich mit französischem Wesen sich bekannt gemacht. Dar¬<lb/>
nach ging er als Commandeur des Armeecorps von Arabistan nach Sy¬<lb/>
rien, bekämpfte die Drusen, aus Anlaß der von ihnen verweigerten Rekruti-<lb/>
rung, mit zweifelhaftem Erfolg und kam darnach als Generalgouvemeur nach<lb/>
Adrianopel, von wo er gleich nach Ausbruch des Krieges als Marineminister<lb/>
nach Constantinopel berufen, und darauf für einige Wochen Großvezier<lb/>
wurde. Das ihm seitdem verbliebene Prädicat &#x201E;Hoheit" stammt aus jenen<lb/>
Tagen. Nachdem er das Präsidium des Divan niedergelegt, lebte er ab¬<lb/>
wechselnd als Minister und ohne Amt. Er war mehrere Jahre hindurch<lb/>
Präsident oder Mitglied des Tansimat-Conseils. Erst seine Ernennung zum<lb/>
Großvezier im Frühjahr 18K0 scheint eine entscheidende Wirksamkeit für<lb/>
ihn eröffnet und eine große staatsmännische Laufbahn ihm gesichert zu haben.<lb/>
Es muß als sehr wichtig angesehen werden, daß er ganz im Gegensatz zu<lb/>
seinem Großvezierat vom Herbst 1859. dessen man sich in Europa kaum noch<lb/>
erinnern wird, in jener letztgewonnenen Stellung zum ersten Mal das Ver¬<lb/>
trauen Englands und seines hiesigen Vertreters, des feinen und sehr gewand¬<lb/>
ten Sir Henry Bulwer.fich erworben hat. Es war ein traditionell gewor¬<lb/>
denes Urtheil des Lord Stratford de Redcliffe gewesen, daß Mehemmed Kiprisli<lb/>
Pascha nur ein orientalischer Charlatan und als activer Staatsmann aus erster<lb/>
und vorderster Linie schwer zu verwenden sei.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_410" next="#ID_411"> Die Besiegung dieses Vorurtheils war kein kleiner Gewinn und zum<lb/>
größern Theil hat er ihr seine heutige Stellung, die besser wie jemals, wenn<lb/>
auch eine immerhin eine noch bedrohte ist, zu danken. Wir sind nicht aus¬<lb/>
reichend in die augenblickliche Lage der Dinge und die fremdmächtlichen Be¬<lb/>
gehungen eingeweiht, um ein sicheres Urtheil über Mehemmed Kiprisli's Ver¬<lb/>
hältniß zu Frankreich und zur hiesigen französischen Gesandtschaft nussprechen<lb/>
^ können. Im Herbst 1859 scheinen diese Relationen ihm günstiger gewesen<lb/>
^ sein, wie heute, wo sie allem Anschein nach etwas erkalteten. Man will<lb/>
wissen, daß Frankreich gegenwärtig Risa Pascha seine Unterstützung zukommen<lb/>
I"sse. und allerdings spricht Manches für diese Annahme. Jedenfalls wird Herr<lb/>
von Lavalette, der hiesige französische Botschafter, nichts unterlassen haben, um</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0145] wen hat. Jener war im Anfang seiner Carriere nur ein aufrichtiger Reform- minister gewesen. Was er damals erstrebt: die Türkei aus eine durchaus im modernen Zeitgeiste und in dem der Cultur umgewandelte Grundlage zu stellen, das hat Mehemmed Kiprisli getreu aufgenommen und zu seinem leiten¬ den Richtpunct gemacht; aber ohne bis jetzt in jene persönliche und wesent¬ lich intriguante Politik einzugehen, die Neschid so meisterhaft. zu handhaben wußte, um seine eigensten Interessen zu befördern und zu vertheidigen. Der heutige Großvezier war vor zehn Jahren Gesandter der Pforte in London und Paris; er hatte in den beiden Hauptstädten seine Ausbildung erhalten und namentlich mit französischem Wesen sich bekannt gemacht. Dar¬ nach ging er als Commandeur des Armeecorps von Arabistan nach Sy¬ rien, bekämpfte die Drusen, aus Anlaß der von ihnen verweigerten Rekruti- rung, mit zweifelhaftem Erfolg und kam darnach als Generalgouvemeur nach Adrianopel, von wo er gleich nach Ausbruch des Krieges als Marineminister nach Constantinopel berufen, und darauf für einige Wochen Großvezier wurde. Das ihm seitdem verbliebene Prädicat „Hoheit" stammt aus jenen Tagen. Nachdem er das Präsidium des Divan niedergelegt, lebte er ab¬ wechselnd als Minister und ohne Amt. Er war mehrere Jahre hindurch Präsident oder Mitglied des Tansimat-Conseils. Erst seine Ernennung zum Großvezier im Frühjahr 18K0 scheint eine entscheidende Wirksamkeit für ihn eröffnet und eine große staatsmännische Laufbahn ihm gesichert zu haben. Es muß als sehr wichtig angesehen werden, daß er ganz im Gegensatz zu seinem Großvezierat vom Herbst 1859. dessen man sich in Europa kaum noch erinnern wird, in jener letztgewonnenen Stellung zum ersten Mal das Ver¬ trauen Englands und seines hiesigen Vertreters, des feinen und sehr gewand¬ ten Sir Henry Bulwer.fich erworben hat. Es war ein traditionell gewor¬ denes Urtheil des Lord Stratford de Redcliffe gewesen, daß Mehemmed Kiprisli Pascha nur ein orientalischer Charlatan und als activer Staatsmann aus erster und vorderster Linie schwer zu verwenden sei. Die Besiegung dieses Vorurtheils war kein kleiner Gewinn und zum größern Theil hat er ihr seine heutige Stellung, die besser wie jemals, wenn auch eine immerhin eine noch bedrohte ist, zu danken. Wir sind nicht aus¬ reichend in die augenblickliche Lage der Dinge und die fremdmächtlichen Be¬ gehungen eingeweiht, um ein sicheres Urtheil über Mehemmed Kiprisli's Ver¬ hältniß zu Frankreich und zur hiesigen französischen Gesandtschaft nussprechen ^ können. Im Herbst 1859 scheinen diese Relationen ihm günstiger gewesen ^ sein, wie heute, wo sie allem Anschein nach etwas erkalteten. Man will wissen, daß Frankreich gegenwärtig Risa Pascha seine Unterstützung zukommen I"sse. und allerdings spricht Manches für diese Annahme. Jedenfalls wird Herr von Lavalette, der hiesige französische Botschafter, nichts unterlassen haben, um

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/145
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/145>, abgerufen am 26.08.2024.