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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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um so weniger Anspruch machen, als sie nur Theile des Ganzen betreffen und
dadurch nur die Masse der Rechtsquellen vermehren helfen. In Kriminalsachen
besteht noch immer die langsame, schriftliche Praxis früherer Zeit; nur für die
Schlußverhandlungen ist ein öffentliches, mündliches Verfahren eingeführt.
Daß dies für die Criminalrechtspflege ohne besondere Bedeutung sein muß,
liegt auf der Hand und zeigt sich übrigens auch im Gange der öffentlichen
Verhandlungen, Die Langsamkeit des Verfahrens hat sich schon so häufig
drückend fühlbar gemacht, daß Anordnungen zur leichtern Ueberführung
von Verbrechern nothwendig geworden sind, die jedoch, fo wünschenswert!)
sie an und für sich sind, sich in Rücksicht auf unschuldig Angeklagte als sehr
bedenklich erweisen. Daneben bestehn noch heute auf dem Territorium der
Ritterschaft die Patnmonialgerichte. Institute der Vorzeit, deren Verwaltung
in den Händen von Einzelnrichtern liegt, die der Gutsherr unter den Candi-
daten, welche das Richterexamen bestanden haben, bestellt und die theilweise
sogar kundbar sind. Auch diese Art von Rechtspflege geht aus den "wohler¬
worbnen Rechtest" einzelner Personen im Staate hervor. Es soll hier nicht
behauptet werden, daß eine gewisse Art von Parteilichkeit mit ihr nothwendig
verknüpft sein müsse; aber mit dem Begriffe einer wohlgeordneten und unpar¬
teiischen Rechtspflege wird sse Niemand im identificiren vermögen. Die Pa-
trimonialgerichte sind dem gesunden Sinne des Volks so sehr zuwider, daß z. B.
die Gutsuntergebnen sie mit der größten Energie hassen. Ob sie es verdient
haben oder nicht, bleibt hier ganz gleichgiltig, obwol sich auch Ersteres nicht
leicht in allen Fällen und namentlich rücksichtlich der frühern Zeiten wird be-
streiten lassen. Man wird doch immerhin eine Rechtspflege nicht gesund oder
zweckmäßig nennen können, auf welche der bei weitem größte Theil des Volks
mit Abneigung blickt. Es braucht aber kaum hier noch erwähnt zu werden, daß
eine einheitliche, alle Classen des Volks gleichmäßig umfassende Gesetzgebung
unmöglich ist. so lange die jetzigen Verhältnisse der ständischen Vertretung be¬
steh", da schon von vornherein der Begriff des Einheitlichen jedes Sonder¬
recht aufheben muß, und umgekehrt.

Die Verhältnisse des Lehnswesens sind im Laufe der legten Jahre auf
die strengsten Feudalprincipien zurückgeführt worden. Die Verkäuflichkeit und
Verschuldbarkeit der Lehne sucht man mehr und mehr zu beschränken; die früher
gestattete Allodisicirung derselben ist factisch fast ganz aufgehoben; die letzt¬
willige Dispositionsfähigkeit der Lehnsbesitzer ,se durch die neuerliche Gesetz¬
gebung hinsichtlich der Töchter beschränkt, überhaupt unsicher geworden. Die
ganze Lehnsgesctzgebung ist aufs Aeußerste verwickelt und selbst vielen der
tüchtigsten Juristen in Mecklenburg*) undurchdringlich; der Gang derselben zeigt
aber deutlich, daß auch hier das Streben auf eine Zurückführung in frühere



"1 Bergl. Danckwardt, das "mecklenburgische Lehnrecht von Prof. Paul Roll" beleuchtet.

um so weniger Anspruch machen, als sie nur Theile des Ganzen betreffen und
dadurch nur die Masse der Rechtsquellen vermehren helfen. In Kriminalsachen
besteht noch immer die langsame, schriftliche Praxis früherer Zeit; nur für die
Schlußverhandlungen ist ein öffentliches, mündliches Verfahren eingeführt.
Daß dies für die Criminalrechtspflege ohne besondere Bedeutung sein muß,
liegt auf der Hand und zeigt sich übrigens auch im Gange der öffentlichen
Verhandlungen, Die Langsamkeit des Verfahrens hat sich schon so häufig
drückend fühlbar gemacht, daß Anordnungen zur leichtern Ueberführung
von Verbrechern nothwendig geworden sind, die jedoch, fo wünschenswert!)
sie an und für sich sind, sich in Rücksicht auf unschuldig Angeklagte als sehr
bedenklich erweisen. Daneben bestehn noch heute auf dem Territorium der
Ritterschaft die Patnmonialgerichte. Institute der Vorzeit, deren Verwaltung
in den Händen von Einzelnrichtern liegt, die der Gutsherr unter den Candi-
daten, welche das Richterexamen bestanden haben, bestellt und die theilweise
sogar kundbar sind. Auch diese Art von Rechtspflege geht aus den „wohler¬
worbnen Rechtest" einzelner Personen im Staate hervor. Es soll hier nicht
behauptet werden, daß eine gewisse Art von Parteilichkeit mit ihr nothwendig
verknüpft sein müsse; aber mit dem Begriffe einer wohlgeordneten und unpar¬
teiischen Rechtspflege wird sse Niemand im identificiren vermögen. Die Pa-
trimonialgerichte sind dem gesunden Sinne des Volks so sehr zuwider, daß z. B.
die Gutsuntergebnen sie mit der größten Energie hassen. Ob sie es verdient
haben oder nicht, bleibt hier ganz gleichgiltig, obwol sich auch Ersteres nicht
leicht in allen Fällen und namentlich rücksichtlich der frühern Zeiten wird be-
streiten lassen. Man wird doch immerhin eine Rechtspflege nicht gesund oder
zweckmäßig nennen können, auf welche der bei weitem größte Theil des Volks
mit Abneigung blickt. Es braucht aber kaum hier noch erwähnt zu werden, daß
eine einheitliche, alle Classen des Volks gleichmäßig umfassende Gesetzgebung
unmöglich ist. so lange die jetzigen Verhältnisse der ständischen Vertretung be¬
steh», da schon von vornherein der Begriff des Einheitlichen jedes Sonder¬
recht aufheben muß, und umgekehrt.

Die Verhältnisse des Lehnswesens sind im Laufe der legten Jahre auf
die strengsten Feudalprincipien zurückgeführt worden. Die Verkäuflichkeit und
Verschuldbarkeit der Lehne sucht man mehr und mehr zu beschränken; die früher
gestattete Allodisicirung derselben ist factisch fast ganz aufgehoben; die letzt¬
willige Dispositionsfähigkeit der Lehnsbesitzer ,se durch die neuerliche Gesetz¬
gebung hinsichtlich der Töchter beschränkt, überhaupt unsicher geworden. Die
ganze Lehnsgesctzgebung ist aufs Aeußerste verwickelt und selbst vielen der
tüchtigsten Juristen in Mecklenburg*) undurchdringlich; der Gang derselben zeigt
aber deutlich, daß auch hier das Streben auf eine Zurückführung in frühere



»1 Bergl. Danckwardt, das „mecklenburgische Lehnrecht von Prof. Paul Roll" beleuchtet.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/98>, abgerufen am 15.01.2025.