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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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behielt im Ganzen seine alten Bewohner. Denn Thüringer, Kollen, wie die
meisten Stämme der Niedersachsen kamen nur zu partiellen Schwärmen; sie
wurden wahrscheinlich stark decimirt in Durchmärschen fremder Völker und in
Auszügen der Stammgenossen, sie wurden anch, z. B. die Thüringer,
vielfach durchsetzt von fremden Haufen, welche sich unter ihnen niederließen;
aller ein Kern der alten seßhaften erhielt sich doch in allem Wogen und
bewahrte treu altheimische Ueberlieferungen, Spracheigentümlichkeiten. Sitte,
Recht.

So vermögen wir von der Gegenwart aus in einer wenig unterbroch-
ner Continuität zurückzublicken bis in die entfernteste Vergangenheit unserer
Nation, und wir verdanken solches reiche Wissen vorzugsweise den Discipli¬
nen, welche neben und mit der deutschen Sprachwissenschaft seit dem ersten
Jahrzehnt dieses Jahrhunderts herausgewachsen sind. Von solchem Stand¬
punkte aus würdigen wir auch' die neuen Werke, welche zur Besprechung
vorliegen.

Sagen. Gebräuche und Märchen aus Westfalen, heraus¬
gegeben von Adalbert Kühn. Leipzig 1859. F. A. Brockhaus.
2 Theile.

Unter den Sammlern der Volksüberlieferungen nimmt Kühn vielleicht
die erste Stelle ein. Groß ist seine Ausdauer -- er sammelt für deutsche
Mythologie seit länger als 20 Jahren, zumeist auf Territorien des niedersäch-
sischen Stammes -- musterhaft ist seine Genauigkeit und die Zuverlässigkeit des
Mitgetheilten; und ungewöhnlich groß ist seine wissenschaftliche Tüchtigkeit.
Denn er ist einer der wenigen Gelehrten, dem Sprache und Literatur des al¬
ten Indiens nicht weniger vertraut sind, als die der deutschen Vorzeit. Wenn
er sorgfältig die Städte verzeichnet, in welchen nach dem Volksglauben einst
unsre alten kleinen Zwerge gehaust haben, und wenn er unermüdlich von mär¬
kischen Bauerfrauen zu erforschen sucht, wo Frau Harke -- die mütterliche Göttin
mehrer sächsischen Stämme und der Thüringer -- ihr Borstenvieh aus der
Unterwelt herausgetrieben habe, so gewinnt diese Aufzeichnung des Details
deshalb bei ihm besondere Bedeutung, weil er zugleich mit unübertrefflicher
Kühnheit, ja oft mit großem Blick diese zertrümmerten Ueberreste im deutschen
Volksgemüth in ihrem Zusammenhange mit den verwandten Vorstellungen
der Vedas darzustellen, versteht. Sein großes Werk: die Herabkunft des
Feuers und des Göttertrankes hat der mythologischen Forschung ein
neues Gebiet erobert, man kann nicht mehr über Entstehung und Umbildung der
Völkermythen schreiben, ohne dasselbe zu dem eigenen Wissen gehalten zu haben.
Denn jetzt ist für einen Kreis der ältesten mythischen Vorstellungen bei Griechen,
Germanen, Sclaven der innere Zusammenhang und ihre allmälige Entwicklung
aus den ältesten asiatischen Vorstellungen nachgewiesen, ja die Grundzüge des ge-


behielt im Ganzen seine alten Bewohner. Denn Thüringer, Kollen, wie die
meisten Stämme der Niedersachsen kamen nur zu partiellen Schwärmen; sie
wurden wahrscheinlich stark decimirt in Durchmärschen fremder Völker und in
Auszügen der Stammgenossen, sie wurden anch, z. B. die Thüringer,
vielfach durchsetzt von fremden Haufen, welche sich unter ihnen niederließen;
aller ein Kern der alten seßhaften erhielt sich doch in allem Wogen und
bewahrte treu altheimische Ueberlieferungen, Spracheigentümlichkeiten. Sitte,
Recht.

So vermögen wir von der Gegenwart aus in einer wenig unterbroch-
ner Continuität zurückzublicken bis in die entfernteste Vergangenheit unserer
Nation, und wir verdanken solches reiche Wissen vorzugsweise den Discipli¬
nen, welche neben und mit der deutschen Sprachwissenschaft seit dem ersten
Jahrzehnt dieses Jahrhunderts herausgewachsen sind. Von solchem Stand¬
punkte aus würdigen wir auch' die neuen Werke, welche zur Besprechung
vorliegen.

Sagen. Gebräuche und Märchen aus Westfalen, heraus¬
gegeben von Adalbert Kühn. Leipzig 1859. F. A. Brockhaus.
2 Theile.

Unter den Sammlern der Volksüberlieferungen nimmt Kühn vielleicht
die erste Stelle ein. Groß ist seine Ausdauer — er sammelt für deutsche
Mythologie seit länger als 20 Jahren, zumeist auf Territorien des niedersäch-
sischen Stammes — musterhaft ist seine Genauigkeit und die Zuverlässigkeit des
Mitgetheilten; und ungewöhnlich groß ist seine wissenschaftliche Tüchtigkeit.
Denn er ist einer der wenigen Gelehrten, dem Sprache und Literatur des al¬
ten Indiens nicht weniger vertraut sind, als die der deutschen Vorzeit. Wenn
er sorgfältig die Städte verzeichnet, in welchen nach dem Volksglauben einst
unsre alten kleinen Zwerge gehaust haben, und wenn er unermüdlich von mär¬
kischen Bauerfrauen zu erforschen sucht, wo Frau Harke — die mütterliche Göttin
mehrer sächsischen Stämme und der Thüringer — ihr Borstenvieh aus der
Unterwelt herausgetrieben habe, so gewinnt diese Aufzeichnung des Details
deshalb bei ihm besondere Bedeutung, weil er zugleich mit unübertrefflicher
Kühnheit, ja oft mit großem Blick diese zertrümmerten Ueberreste im deutschen
Volksgemüth in ihrem Zusammenhange mit den verwandten Vorstellungen
der Vedas darzustellen, versteht. Sein großes Werk: die Herabkunft des
Feuers und des Göttertrankes hat der mythologischen Forschung ein
neues Gebiet erobert, man kann nicht mehr über Entstehung und Umbildung der
Völkermythen schreiben, ohne dasselbe zu dem eigenen Wissen gehalten zu haben.
Denn jetzt ist für einen Kreis der ältesten mythischen Vorstellungen bei Griechen,
Germanen, Sclaven der innere Zusammenhang und ihre allmälige Entwicklung
aus den ältesten asiatischen Vorstellungen nachgewiesen, ja die Grundzüge des ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/82>, abgerufen am 15.01.2025.