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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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Bericht des Römers in Mercur den höchsten Gott anbetete. Auch die Nach¬
richt, daß dieser Gott bei den Deutschen Wuotan heiße, hatte nur deshalb
Werth, weil sie die innere Einheit der deutschen Götterwelt mit den Asen-
göttern der isländischen Edda beweisen half. Lebendig wurde uns diese Ge¬
stalt des höchsten deutschen Gottes erst, als wir den wilden Jäger unserer
Sagen und den schlafenden Kaiser des Kiffhäusers mit der deutschen Urzeit in
Verbindung gebracht hatten. Jetzt wissen wir, wie reich und emsig die Geister
>um den Herd, Hof, Acker, Fluß und Wald eines frommen Cheruskers schweb¬
ten. Auch nach dieser Richtung hat sich uns der alte Sueve oder Hermundure
in seinen schwäbischen' und thüringischen Hausherrn verwandelt, der in der
Dämmerung mißtrauisch nach seinem Dachbalken sieht, auf welchem der kleine
Hausgeist zu sitzen liebt, und der beim Sturmesbrausen sorglich die Fenster
schließt, damit nicht ein geisterhafter Pferdekopf aus dem Gefolge des wilden
Gottes, der durch die Lüfte braust, in seinen Saal Hereinschane.

Ja selbst auf das Herzlichste und Seelenvollste, was der Deutsche in jenen
Jahrhunderten schuf, auf seine Lieder, die damals noch keine sorgliche Hand dem
Pergament überlieferte, vermögen wir einige Schlüsse zu machen. Nicht ganz
unbekannt ist uns die älteste Art zu dichten, der eingeborne epische Vers mit
seiner Alliteration, und noch jetzt klingt ans einigen erhaltenen Volksliedern
und Sprüchen die uralte Methode des witzigen Wettkampfs und eine Räthsel¬
weisheit, durch welche am Herdfeuer des sächsischen Häuptlings ein wandern¬
der Sänger die Hörer entzückte.

Nach der Völkerwanderung begannen langsam und schwerfällig schriftliche
Aufzeichnungen in Deutschland selbst. Sie kamen mit derselben unwidersteh¬
lichen Macht, welche Vieles in dem Gemüthsleben des deutschen Volkes än¬
derte, mit dem Christenthum. Aber wie energisch die neue Religion den Geist
in neue Bahnen lenkte, und wie furchtbar das Völkergetümmcl jener Periode
der Wanderung vernichtete, beide Wandlungen der Deutschen sind nicht so
groß, daß sie alles Alte in Trümmer warfen. Die Völkerwanderung selbst
denkt man sich noch zu sehr als einen chaotischen Zerstörungsproceß, der früher
Lebendiges vollständig beseitigte. Schon eine flüchtige Betrachtung auf ihren
Verlauf vermöchte das zu widerlegen. Es ist wahr, sie hat mehrere der mäch¬
tigsten deutschen Völker, welche im Osten Deutschlands und darüber hinaus
saßen, weit aus der Heimat fortgetrieben, und die entvölkerten Wohnsitze
haben sich mit nachrückenden Slaven gefüllt. Die Bayern sind ans Böh¬
men zur Donau, die Sueven und Allemannen südwärts in ihre jetzigen Sitze
gezogen. Alte Völkernamen sind geschwunden, und neue breiten sich siegreich
bis weit über den Rhein. Aber ungefähr die Hälfte des Deutschlands, wel¬
ches den Römern bekannt war, das weite Gebiet von der Nordsee bis zum
Thüringer Walde und der Rhön, von der Saale bis nahe an den Rhein


Bericht des Römers in Mercur den höchsten Gott anbetete. Auch die Nach¬
richt, daß dieser Gott bei den Deutschen Wuotan heiße, hatte nur deshalb
Werth, weil sie die innere Einheit der deutschen Götterwelt mit den Asen-
göttern der isländischen Edda beweisen half. Lebendig wurde uns diese Ge¬
stalt des höchsten deutschen Gottes erst, als wir den wilden Jäger unserer
Sagen und den schlafenden Kaiser des Kiffhäusers mit der deutschen Urzeit in
Verbindung gebracht hatten. Jetzt wissen wir, wie reich und emsig die Geister
>um den Herd, Hof, Acker, Fluß und Wald eines frommen Cheruskers schweb¬
ten. Auch nach dieser Richtung hat sich uns der alte Sueve oder Hermundure
in seinen schwäbischen' und thüringischen Hausherrn verwandelt, der in der
Dämmerung mißtrauisch nach seinem Dachbalken sieht, auf welchem der kleine
Hausgeist zu sitzen liebt, und der beim Sturmesbrausen sorglich die Fenster
schließt, damit nicht ein geisterhafter Pferdekopf aus dem Gefolge des wilden
Gottes, der durch die Lüfte braust, in seinen Saal Hereinschane.

Ja selbst auf das Herzlichste und Seelenvollste, was der Deutsche in jenen
Jahrhunderten schuf, auf seine Lieder, die damals noch keine sorgliche Hand dem
Pergament überlieferte, vermögen wir einige Schlüsse zu machen. Nicht ganz
unbekannt ist uns die älteste Art zu dichten, der eingeborne epische Vers mit
seiner Alliteration, und noch jetzt klingt ans einigen erhaltenen Volksliedern
und Sprüchen die uralte Methode des witzigen Wettkampfs und eine Räthsel¬
weisheit, durch welche am Herdfeuer des sächsischen Häuptlings ein wandern¬
der Sänger die Hörer entzückte.

Nach der Völkerwanderung begannen langsam und schwerfällig schriftliche
Aufzeichnungen in Deutschland selbst. Sie kamen mit derselben unwidersteh¬
lichen Macht, welche Vieles in dem Gemüthsleben des deutschen Volkes än¬
derte, mit dem Christenthum. Aber wie energisch die neue Religion den Geist
in neue Bahnen lenkte, und wie furchtbar das Völkergetümmcl jener Periode
der Wanderung vernichtete, beide Wandlungen der Deutschen sind nicht so
groß, daß sie alles Alte in Trümmer warfen. Die Völkerwanderung selbst
denkt man sich noch zu sehr als einen chaotischen Zerstörungsproceß, der früher
Lebendiges vollständig beseitigte. Schon eine flüchtige Betrachtung auf ihren
Verlauf vermöchte das zu widerlegen. Es ist wahr, sie hat mehrere der mäch¬
tigsten deutschen Völker, welche im Osten Deutschlands und darüber hinaus
saßen, weit aus der Heimat fortgetrieben, und die entvölkerten Wohnsitze
haben sich mit nachrückenden Slaven gefüllt. Die Bayern sind ans Böh¬
men zur Donau, die Sueven und Allemannen südwärts in ihre jetzigen Sitze
gezogen. Alte Völkernamen sind geschwunden, und neue breiten sich siegreich
bis weit über den Rhein. Aber ungefähr die Hälfte des Deutschlands, wel¬
ches den Römern bekannt war, das weite Gebiet von der Nordsee bis zum
Thüringer Walde und der Rhön, von der Saale bis nahe an den Rhein


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[0081] Bericht des Römers in Mercur den höchsten Gott anbetete. Auch die Nach¬ richt, daß dieser Gott bei den Deutschen Wuotan heiße, hatte nur deshalb Werth, weil sie die innere Einheit der deutschen Götterwelt mit den Asen- göttern der isländischen Edda beweisen half. Lebendig wurde uns diese Ge¬ stalt des höchsten deutschen Gottes erst, als wir den wilden Jäger unserer Sagen und den schlafenden Kaiser des Kiffhäusers mit der deutschen Urzeit in Verbindung gebracht hatten. Jetzt wissen wir, wie reich und emsig die Geister >um den Herd, Hof, Acker, Fluß und Wald eines frommen Cheruskers schweb¬ ten. Auch nach dieser Richtung hat sich uns der alte Sueve oder Hermundure in seinen schwäbischen' und thüringischen Hausherrn verwandelt, der in der Dämmerung mißtrauisch nach seinem Dachbalken sieht, auf welchem der kleine Hausgeist zu sitzen liebt, und der beim Sturmesbrausen sorglich die Fenster schließt, damit nicht ein geisterhafter Pferdekopf aus dem Gefolge des wilden Gottes, der durch die Lüfte braust, in seinen Saal Hereinschane. Ja selbst auf das Herzlichste und Seelenvollste, was der Deutsche in jenen Jahrhunderten schuf, auf seine Lieder, die damals noch keine sorgliche Hand dem Pergament überlieferte, vermögen wir einige Schlüsse zu machen. Nicht ganz unbekannt ist uns die älteste Art zu dichten, der eingeborne epische Vers mit seiner Alliteration, und noch jetzt klingt ans einigen erhaltenen Volksliedern und Sprüchen die uralte Methode des witzigen Wettkampfs und eine Räthsel¬ weisheit, durch welche am Herdfeuer des sächsischen Häuptlings ein wandern¬ der Sänger die Hörer entzückte. Nach der Völkerwanderung begannen langsam und schwerfällig schriftliche Aufzeichnungen in Deutschland selbst. Sie kamen mit derselben unwidersteh¬ lichen Macht, welche Vieles in dem Gemüthsleben des deutschen Volkes än¬ derte, mit dem Christenthum. Aber wie energisch die neue Religion den Geist in neue Bahnen lenkte, und wie furchtbar das Völkergetümmcl jener Periode der Wanderung vernichtete, beide Wandlungen der Deutschen sind nicht so groß, daß sie alles Alte in Trümmer warfen. Die Völkerwanderung selbst denkt man sich noch zu sehr als einen chaotischen Zerstörungsproceß, der früher Lebendiges vollständig beseitigte. Schon eine flüchtige Betrachtung auf ihren Verlauf vermöchte das zu widerlegen. Es ist wahr, sie hat mehrere der mäch¬ tigsten deutschen Völker, welche im Osten Deutschlands und darüber hinaus saßen, weit aus der Heimat fortgetrieben, und die entvölkerten Wohnsitze haben sich mit nachrückenden Slaven gefüllt. Die Bayern sind ans Böh¬ men zur Donau, die Sueven und Allemannen südwärts in ihre jetzigen Sitze gezogen. Alte Völkernamen sind geschwunden, und neue breiten sich siegreich bis weit über den Rhein. Aber ungefähr die Hälfte des Deutschlands, wel¬ ches den Römern bekannt war, das weite Gebiet von der Nordsee bis zum Thüringer Walde und der Rhön, von der Saale bis nahe an den Rhein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/81>, abgerufen am 15.01.2025.