Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

nach sinnigen Reimen; nur hin und wieder empfiehlt man noch, Deutschland
so weit auszudehnen, als "die deutsche Zunge klingt", d. h. einen guten Theil
von Nordamerika, Rußland u. s. w. zu erobern. -- Gott verhüte, daß ein¬
mal auch die Franzosen auf die Idee kommen, Frankreich soweit ausdehnen
zu wollen, als die französische Zunge klingt! Ein guter Theil unserer Salons
würde annectirt werden müssen. -- Viele von den jungen Freiheitsdichtern
sprachen sich so lebhast in die Freiheitshoffnungen hinein, daß sie sich als
Propheten betrachteten, und als nun die Bewegung wirklich eintrat, wol gar
die Führung derselben zu übernehmen bereit waren. -- Die darauf folgende
Reaction erregte bei denen unter ihnen, die gegen die Wirklichkeit nicht ver¬
blendet waren, eine große Verstimmung gegen alles Ideale, und dieser Ver¬
stimmung unterlag auch Meißner; sie spricht sich namentlich in seinen drama-
tischen Versuchen sehr bitter aus. Auch der Titel seines Romans "Sansara"
schien auf etwas, wie tiefer Weltschmerz hinzudeuten, obgleich sein Inhalt sol¬
chen Erwartungen gar nicht recht entsprach. -- Sein wahres Talent zeigt sich hier
wie in der alten Lyrik nicht in der kritischen Zerlegung menschlicher Emsin-
dnngen, sondern in der glänzenden Schilderung von Zustanden und Begebenheiten,
die mehr nach Außen fallen. -- Diesem Talent hat er in dem gegenwärtigen
Roman weniger Spielraum verstattet. Es ist, der Hauptsache nach, eine
Badegeschichte: ein Mädchen, das von Natur edel angelegt, durch die falsche
Stellung ihres Stands (der Vater ist ncugeadelter Bankier) zu einer falschen
Lebensauffassung verführt und endlich' ins Elend gestürzt wird. Um diese
Hauptgcschichte gruppiren sich eine Reihe humoristischer Originale, zum Theil
recht glücklich angelegt, wenn auch die Ausführung der Anlage nicht immer
entspricht. -- Es fehlt nicht an Scenen, die auch psychologisch spannen, der
Dichter hat nicht leichtfertig, sondern mit reiflicher Ueberlegung gewählt.
Aber er läßt uns fast überall mit der Auslösung im Stiche. In Mariens Na¬
tur liegt doch zu wenig, was uns mit ihrem Verhalten versöhnen kann; sie
hat einige Kraft, einige Güte, aber von beiden nicht genug, und darum kön¬
nen wir auch ihrem Schicksal nur ein mäßiges Interesse schenken. -- Das
Schlimmste ist aber, daß sich im ganzen Buch keine einzige Figur findet, an
der wir warmen Antheil nehmen können. Wenz abgesehn von denen, die
komisch oder schlecht sein sollen -- auch die sogenannten guten Leute --
Solms, Horsky, Eschheim -- es ist doch kein Einziger darunter, der uns auch
nur einen Augenblick warm machen könnte. Wir können ihre Handlungsweise
selten billigen, und wie sie empfinden ist uns gleichgiltig. -- Wollte der Dich¬
ter dagegen einwenden: so ist die Welt! so hilft ihm das nichts; denn ein¬
mal ist es nicht wahr, und zweitens wenn es wahr wäre, so werden wir die
Dichter um so mehr bitten, uns mit der Wiederholung so matter gleichgiltiger
Dinge zu verschonen. -- Der Dichter kann verschiedene Zwecke haben: uns


nach sinnigen Reimen; nur hin und wieder empfiehlt man noch, Deutschland
so weit auszudehnen, als „die deutsche Zunge klingt", d. h. einen guten Theil
von Nordamerika, Rußland u. s. w. zu erobern. — Gott verhüte, daß ein¬
mal auch die Franzosen auf die Idee kommen, Frankreich soweit ausdehnen
zu wollen, als die französische Zunge klingt! Ein guter Theil unserer Salons
würde annectirt werden müssen. — Viele von den jungen Freiheitsdichtern
sprachen sich so lebhast in die Freiheitshoffnungen hinein, daß sie sich als
Propheten betrachteten, und als nun die Bewegung wirklich eintrat, wol gar
die Führung derselben zu übernehmen bereit waren. — Die darauf folgende
Reaction erregte bei denen unter ihnen, die gegen die Wirklichkeit nicht ver¬
blendet waren, eine große Verstimmung gegen alles Ideale, und dieser Ver¬
stimmung unterlag auch Meißner; sie spricht sich namentlich in seinen drama-
tischen Versuchen sehr bitter aus. Auch der Titel seines Romans „Sansara"
schien auf etwas, wie tiefer Weltschmerz hinzudeuten, obgleich sein Inhalt sol¬
chen Erwartungen gar nicht recht entsprach. — Sein wahres Talent zeigt sich hier
wie in der alten Lyrik nicht in der kritischen Zerlegung menschlicher Emsin-
dnngen, sondern in der glänzenden Schilderung von Zustanden und Begebenheiten,
die mehr nach Außen fallen. — Diesem Talent hat er in dem gegenwärtigen
Roman weniger Spielraum verstattet. Es ist, der Hauptsache nach, eine
Badegeschichte: ein Mädchen, das von Natur edel angelegt, durch die falsche
Stellung ihres Stands (der Vater ist ncugeadelter Bankier) zu einer falschen
Lebensauffassung verführt und endlich' ins Elend gestürzt wird. Um diese
Hauptgcschichte gruppiren sich eine Reihe humoristischer Originale, zum Theil
recht glücklich angelegt, wenn auch die Ausführung der Anlage nicht immer
entspricht. — Es fehlt nicht an Scenen, die auch psychologisch spannen, der
Dichter hat nicht leichtfertig, sondern mit reiflicher Ueberlegung gewählt.
Aber er läßt uns fast überall mit der Auslösung im Stiche. In Mariens Na¬
tur liegt doch zu wenig, was uns mit ihrem Verhalten versöhnen kann; sie
hat einige Kraft, einige Güte, aber von beiden nicht genug, und darum kön¬
nen wir auch ihrem Schicksal nur ein mäßiges Interesse schenken. — Das
Schlimmste ist aber, daß sich im ganzen Buch keine einzige Figur findet, an
der wir warmen Antheil nehmen können. Wenz abgesehn von denen, die
komisch oder schlecht sein sollen — auch die sogenannten guten Leute —
Solms, Horsky, Eschheim — es ist doch kein Einziger darunter, der uns auch
nur einen Augenblick warm machen könnte. Wir können ihre Handlungsweise
selten billigen, und wie sie empfinden ist uns gleichgiltig. — Wollte der Dich¬
ter dagegen einwenden: so ist die Welt! so hilft ihm das nichts; denn ein¬
mal ist es nicht wahr, und zweitens wenn es wahr wäre, so werden wir die
Dichter um so mehr bitten, uns mit der Wiederholung so matter gleichgiltiger
Dinge zu verschonen. — Der Dichter kann verschiedene Zwecke haben: uns


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0499" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/110847"/>
          <p xml:id="ID_1498" prev="#ID_1497" next="#ID_1499"> nach sinnigen Reimen; nur hin und wieder empfiehlt man noch, Deutschland<lb/>
so weit auszudehnen, als &#x201E;die deutsche Zunge klingt", d. h. einen guten Theil<lb/>
von Nordamerika, Rußland u. s. w. zu erobern. &#x2014; Gott verhüte, daß ein¬<lb/>
mal auch die Franzosen auf die Idee kommen, Frankreich soweit ausdehnen<lb/>
zu wollen, als die französische Zunge klingt! Ein guter Theil unserer Salons<lb/>
würde annectirt werden müssen. &#x2014; Viele von den jungen Freiheitsdichtern<lb/>
sprachen sich so lebhast in die Freiheitshoffnungen hinein, daß sie sich als<lb/>
Propheten betrachteten, und als nun die Bewegung wirklich eintrat, wol gar<lb/>
die Führung derselben zu übernehmen bereit waren. &#x2014; Die darauf folgende<lb/>
Reaction erregte bei denen unter ihnen, die gegen die Wirklichkeit nicht ver¬<lb/>
blendet waren, eine große Verstimmung gegen alles Ideale, und dieser Ver¬<lb/>
stimmung unterlag auch Meißner; sie spricht sich namentlich in seinen drama-<lb/>
tischen Versuchen sehr bitter aus. Auch der Titel seines Romans &#x201E;Sansara"<lb/>
schien auf etwas, wie tiefer Weltschmerz hinzudeuten, obgleich sein Inhalt sol¬<lb/>
chen Erwartungen gar nicht recht entsprach. &#x2014; Sein wahres Talent zeigt sich hier<lb/>
wie in der alten Lyrik nicht in der kritischen Zerlegung menschlicher Emsin-<lb/>
dnngen, sondern in der glänzenden Schilderung von Zustanden und Begebenheiten,<lb/>
die mehr nach Außen fallen. &#x2014; Diesem Talent hat er in dem gegenwärtigen<lb/>
Roman weniger Spielraum verstattet. Es ist, der Hauptsache nach, eine<lb/>
Badegeschichte: ein Mädchen, das von Natur edel angelegt, durch die falsche<lb/>
Stellung ihres Stands (der Vater ist ncugeadelter Bankier) zu einer falschen<lb/>
Lebensauffassung verführt und endlich' ins Elend gestürzt wird. Um diese<lb/>
Hauptgcschichte gruppiren sich eine Reihe humoristischer Originale, zum Theil<lb/>
recht glücklich angelegt, wenn auch die Ausführung der Anlage nicht immer<lb/>
entspricht. &#x2014; Es fehlt nicht an Scenen, die auch psychologisch spannen, der<lb/>
Dichter hat nicht leichtfertig, sondern mit reiflicher Ueberlegung gewählt.<lb/>
Aber er läßt uns fast überall mit der Auslösung im Stiche. In Mariens Na¬<lb/>
tur liegt doch zu wenig, was uns mit ihrem Verhalten versöhnen kann; sie<lb/>
hat einige Kraft, einige Güte, aber von beiden nicht genug, und darum kön¬<lb/>
nen wir auch ihrem Schicksal nur ein mäßiges Interesse schenken. &#x2014; Das<lb/>
Schlimmste ist aber, daß sich im ganzen Buch keine einzige Figur findet, an<lb/>
der wir warmen Antheil nehmen können. Wenz abgesehn von denen, die<lb/>
komisch oder schlecht sein sollen &#x2014; auch die sogenannten guten Leute &#x2014;<lb/>
Solms, Horsky, Eschheim &#x2014; es ist doch kein Einziger darunter, der uns auch<lb/>
nur einen Augenblick warm machen könnte. Wir können ihre Handlungsweise<lb/>
selten billigen, und wie sie empfinden ist uns gleichgiltig. &#x2014; Wollte der Dich¬<lb/>
ter dagegen einwenden: so ist die Welt! so hilft ihm das nichts; denn ein¬<lb/>
mal ist es nicht wahr, und zweitens wenn es wahr wäre, so werden wir die<lb/>
Dichter um so mehr bitten, uns mit der Wiederholung so matter gleichgiltiger<lb/>
Dinge zu verschonen. &#x2014; Der Dichter kann verschiedene Zwecke haben: uns</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0499] nach sinnigen Reimen; nur hin und wieder empfiehlt man noch, Deutschland so weit auszudehnen, als „die deutsche Zunge klingt", d. h. einen guten Theil von Nordamerika, Rußland u. s. w. zu erobern. — Gott verhüte, daß ein¬ mal auch die Franzosen auf die Idee kommen, Frankreich soweit ausdehnen zu wollen, als die französische Zunge klingt! Ein guter Theil unserer Salons würde annectirt werden müssen. — Viele von den jungen Freiheitsdichtern sprachen sich so lebhast in die Freiheitshoffnungen hinein, daß sie sich als Propheten betrachteten, und als nun die Bewegung wirklich eintrat, wol gar die Führung derselben zu übernehmen bereit waren. — Die darauf folgende Reaction erregte bei denen unter ihnen, die gegen die Wirklichkeit nicht ver¬ blendet waren, eine große Verstimmung gegen alles Ideale, und dieser Ver¬ stimmung unterlag auch Meißner; sie spricht sich namentlich in seinen drama- tischen Versuchen sehr bitter aus. Auch der Titel seines Romans „Sansara" schien auf etwas, wie tiefer Weltschmerz hinzudeuten, obgleich sein Inhalt sol¬ chen Erwartungen gar nicht recht entsprach. — Sein wahres Talent zeigt sich hier wie in der alten Lyrik nicht in der kritischen Zerlegung menschlicher Emsin- dnngen, sondern in der glänzenden Schilderung von Zustanden und Begebenheiten, die mehr nach Außen fallen. — Diesem Talent hat er in dem gegenwärtigen Roman weniger Spielraum verstattet. Es ist, der Hauptsache nach, eine Badegeschichte: ein Mädchen, das von Natur edel angelegt, durch die falsche Stellung ihres Stands (der Vater ist ncugeadelter Bankier) zu einer falschen Lebensauffassung verführt und endlich' ins Elend gestürzt wird. Um diese Hauptgcschichte gruppiren sich eine Reihe humoristischer Originale, zum Theil recht glücklich angelegt, wenn auch die Ausführung der Anlage nicht immer entspricht. — Es fehlt nicht an Scenen, die auch psychologisch spannen, der Dichter hat nicht leichtfertig, sondern mit reiflicher Ueberlegung gewählt. Aber er läßt uns fast überall mit der Auslösung im Stiche. In Mariens Na¬ tur liegt doch zu wenig, was uns mit ihrem Verhalten versöhnen kann; sie hat einige Kraft, einige Güte, aber von beiden nicht genug, und darum kön¬ nen wir auch ihrem Schicksal nur ein mäßiges Interesse schenken. — Das Schlimmste ist aber, daß sich im ganzen Buch keine einzige Figur findet, an der wir warmen Antheil nehmen können. Wenz abgesehn von denen, die komisch oder schlecht sein sollen — auch die sogenannten guten Leute — Solms, Horsky, Eschheim — es ist doch kein Einziger darunter, der uns auch nur einen Augenblick warm machen könnte. Wir können ihre Handlungsweise selten billigen, und wie sie empfinden ist uns gleichgiltig. — Wollte der Dich¬ ter dagegen einwenden: so ist die Welt! so hilft ihm das nichts; denn ein¬ mal ist es nicht wahr, und zweitens wenn es wahr wäre, so werden wir die Dichter um so mehr bitten, uns mit der Wiederholung so matter gleichgiltiger Dinge zu verschonen. — Der Dichter kann verschiedene Zwecke haben: uns

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/499
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/499>, abgerufen am 16.01.2025.