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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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umstieß. Die preußische Regierung dachte um deu enden Bundesregierungen
eine goldne Brücke zu bauen, indem sie den Bundesbeschluß von 1852 so
auslegte, daß er die Verfassung von 1831 nicht endgiltig aufgehoben, sondern
nur suspendirt habe. Sie irrte sich darin, denn nach langen unfruchtbaren
Verhandlungen blieb sie bei der Abstimmung mit ihrer Ansicht einer compac-
ten Majorität gegenüber fast allein stehen und konnte andrerseits dem Vor¬
wurf nicht entgeh", daß diese Auslegung künstlich sei, ja der Minister der
auswärtigen Angelegenheiten mußte denselben indirect in seinen Erklärungen
im Abgeordnetenhaus" zugeben. So sehen wir auch in dieser Frage, daß
bei einem unzweifelhaft richtigen Ziele des Ministeriums der Wunsch, es
möglichst mit niemand zu verderben, ihm eine schiefe Stellung gab.

Aber weit verschiedner zeigte sich diese Schwäche im Fortgange der ita¬
lienischen Frage. Dieselbe trat offenbar in ein neues Stadium, seit Frank¬
reich nicht nur sich ostensibel zurückgezogen, sondern sich auch im Frieden von
Villafranca verpflichtet hatte, die geflohenen Fürsten zurückkehre" zu lassen. Was
immer der Kaiser Napoleon für Hintergedanken hegen mochte, vorläufig hatte
er sich durch die Sendungen des Grafen Reiset und des Fürsten Poniatowsky
auf die Seite der vertriebenen Herzöge gestellt. Mit dieser Wendung hatte
sich auch die Stellung Preußens zu der italienischen Frage verändert. Wir
haben gesehen, daß die kriegerische Partei in Preußen im Frühjahr 1859 ein
actives Vorgehen nicht aus Haß gegen Sardinien oder aus Vorliebe für Oest¬
reich, sondern allein von dem Gesichtspunkte forderte, daß man Frankreichs
militärisches Uebergewicht nicht aufkomme" lassen dürfe. Sobald also dasselbe
zurücktrat, stand die Sache anders. Der nationalen Politik Sardiniens an sich
konnte Preußen nur günstig sein; es mußte froh sein, dasselbe von Frankreich
getrennt zu sehen und diesen Augenblick benutzen, ihm gemeinsam mit Eng¬
land eine Stütze zu bieten, die es der französischen Allianz entriß. Daß Lord
John Russell hierauf eingegangen wäre, ist mit Sicherheit anzunehmen, da
auch seine Vorliebe für Italien nur eine Emancipation desselben von Napo¬
leon wünschen lassen mußte, und daß Sardinien bereitwillig die dargebotene
Hand angenommen, wird ein Blick auf seine Beziehungen zu Frankreich be¬
weisen. Graf Cavour war mit dem Kaiser in Plombivres dahin überein¬
gekommen, daß der König Victor Emanuel an Frankreich Savoyen und Nizza
abtreten werde, wenn es gelingen sollte, Oestreich die lombardisch-venetianischen
Provinzen zu entreißen. Als Napoleon in Villafranca Halt nackte, überließ
er Sardinien die Lombardei ohne seinerseits eine Forderung geltend zu machen,
weil sein Program "Italien frei bis zur Adria" nicht erfüllt war. Englaud
und Preußen hatten nun das Interesse. Sardinien gemeinsam zu stützen, denn
jede Jsolirung mußte es wieder in die Arme Frankreichs treiben. Konnte es
sich an die Heiden Mächte lehnen, welche die Natur der Verhältnisse als seine


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umstieß. Die preußische Regierung dachte um deu enden Bundesregierungen
eine goldne Brücke zu bauen, indem sie den Bundesbeschluß von 1852 so
auslegte, daß er die Verfassung von 1831 nicht endgiltig aufgehoben, sondern
nur suspendirt habe. Sie irrte sich darin, denn nach langen unfruchtbaren
Verhandlungen blieb sie bei der Abstimmung mit ihrer Ansicht einer compac-
ten Majorität gegenüber fast allein stehen und konnte andrerseits dem Vor¬
wurf nicht entgeh», daß diese Auslegung künstlich sei, ja der Minister der
auswärtigen Angelegenheiten mußte denselben indirect in seinen Erklärungen
im Abgeordnetenhaus« zugeben. So sehen wir auch in dieser Frage, daß
bei einem unzweifelhaft richtigen Ziele des Ministeriums der Wunsch, es
möglichst mit niemand zu verderben, ihm eine schiefe Stellung gab.

Aber weit verschiedner zeigte sich diese Schwäche im Fortgange der ita¬
lienischen Frage. Dieselbe trat offenbar in ein neues Stadium, seit Frank¬
reich nicht nur sich ostensibel zurückgezogen, sondern sich auch im Frieden von
Villafranca verpflichtet hatte, die geflohenen Fürsten zurückkehre» zu lassen. Was
immer der Kaiser Napoleon für Hintergedanken hegen mochte, vorläufig hatte
er sich durch die Sendungen des Grafen Reiset und des Fürsten Poniatowsky
auf die Seite der vertriebenen Herzöge gestellt. Mit dieser Wendung hatte
sich auch die Stellung Preußens zu der italienischen Frage verändert. Wir
haben gesehen, daß die kriegerische Partei in Preußen im Frühjahr 1859 ein
actives Vorgehen nicht aus Haß gegen Sardinien oder aus Vorliebe für Oest¬
reich, sondern allein von dem Gesichtspunkte forderte, daß man Frankreichs
militärisches Uebergewicht nicht aufkomme» lassen dürfe. Sobald also dasselbe
zurücktrat, stand die Sache anders. Der nationalen Politik Sardiniens an sich
konnte Preußen nur günstig sein; es mußte froh sein, dasselbe von Frankreich
getrennt zu sehen und diesen Augenblick benutzen, ihm gemeinsam mit Eng¬
land eine Stütze zu bieten, die es der französischen Allianz entriß. Daß Lord
John Russell hierauf eingegangen wäre, ist mit Sicherheit anzunehmen, da
auch seine Vorliebe für Italien nur eine Emancipation desselben von Napo¬
leon wünschen lassen mußte, und daß Sardinien bereitwillig die dargebotene
Hand angenommen, wird ein Blick auf seine Beziehungen zu Frankreich be¬
weisen. Graf Cavour war mit dem Kaiser in Plombivres dahin überein¬
gekommen, daß der König Victor Emanuel an Frankreich Savoyen und Nizza
abtreten werde, wenn es gelingen sollte, Oestreich die lombardisch-venetianischen
Provinzen zu entreißen. Als Napoleon in Villafranca Halt nackte, überließ
er Sardinien die Lombardei ohne seinerseits eine Forderung geltend zu machen,
weil sein Program „Italien frei bis zur Adria" nicht erfüllt war. Englaud
und Preußen hatten nun das Interesse. Sardinien gemeinsam zu stützen, denn
jede Jsolirung mußte es wieder in die Arme Frankreichs treiben. Konnte es
sich an die Heiden Mächte lehnen, welche die Natur der Verhältnisse als seine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/455>, abgerufen am 15.01.2025.