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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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Von der preußischen Grenze.

La Kranes s'enmiie! sagte Lamartine, als in der Mitte der vierziger
Jahre die Julidynastie durch ihre Principlosigkeit und ihr muthioses Schwan¬
ken alles Ansehn im Rath der Großmächte verloren hatte.

La ?rare<z s'alti'isle! sagte er 1847, als eine Reihe von Kriminal¬
prozessen die Korruption und Sittenlosigkeit der höhern Beamtcmvelt und der
Aristokratie enthüllte.

Als ausübender Staatsmann war Herr von Lamartine mehr als mittel¬
mäßig, aber in seiner Anschauung der Dinge verräth er mitunter einen genia¬
len Blick. -- Als Frankreich sich genug gelangweilt und genug betrübt hatte,
jagte es die Orleans aus dem Lande. -- Revolutionen entspringen nur sel¬
ten blos aus Haß gegen die Regierung, es muß noch etwas hinzukommen:
die Verachtung.

Die Verachtung der Franzosen bezog sich im Jahr 1847 aber keineswegs
auf die Jmmoralität der beiden leitende" Persönlichkeiten, des Königs und
Guizot's, sondern auf ihre Schwäche. Dem König hat man in Privatange¬
legenheiten nie etwas Schlimmes nachgesagt, und Guizot hatte unter allen
seinen Staatsmännern vielleicht die reinsten Hände: er nahm weder Geld
noch ließ er es sich geben. Aber Guizot. der seinen aufgeklarten Ueberzeu¬
gungen notes berufen war, die Sache der Reform und des Fortschritts zu lei¬
ten, buhlte, nicht aus Eigennutz, sondern aus doctrinären Gründen, mit den
Feinden des Fortschritts; hochfahrend und wegwerfend gegen diejenigen Clas¬
sen des Volks, in denen er seine Stütze hätte suchen solle", beugte er sich vor
dem französischen Junkerthum und vor der französischen Hochkirche, die ihn
innerlich verachtete. Eben so war es mit der auswärtigen Politik. -- Lud¬
wig Philipp,, von den großen souveränen als Parvenu angesehn, suchte
sich bei ihnen einzuschmeicheln, indem er jeder reactionären Bewegung seine
Unterstützung lieh, und fand darin in Guizot einen willigen Helfer. Zwei
Monate vor der Februarrevolution war er bereit, im Dienst der heiligen
Allianz den Büttel gegen die Eidgenossenschaft zu spielen; er hätte Oestreich
dieselben Dienste in Italien geleistet.

Wenn uns diese Dinge bei Gelegenheit des Stieberschen Prozesses
einfallen, so sind wir nicht gemeint, den Vergleich auf die Spitze zu treiben;
es ist. Gott sei Dank! noch immer ein großer Unterschied zwischen den Zu¬
standen Frankreichs im Jahr 1847 und den Zuständen Preußens im Jahr
1860. Nicht eine innere Revolution ist es. was Preußen bedroht; wol aber


Grenzboten IV. 1860. 55
Von der preußischen Grenze.

La Kranes s'enmiie! sagte Lamartine, als in der Mitte der vierziger
Jahre die Julidynastie durch ihre Principlosigkeit und ihr muthioses Schwan¬
ken alles Ansehn im Rath der Großmächte verloren hatte.

La ?rare<z s'alti'isle! sagte er 1847, als eine Reihe von Kriminal¬
prozessen die Korruption und Sittenlosigkeit der höhern Beamtcmvelt und der
Aristokratie enthüllte.

Als ausübender Staatsmann war Herr von Lamartine mehr als mittel¬
mäßig, aber in seiner Anschauung der Dinge verräth er mitunter einen genia¬
len Blick. — Als Frankreich sich genug gelangweilt und genug betrübt hatte,
jagte es die Orleans aus dem Lande. — Revolutionen entspringen nur sel¬
ten blos aus Haß gegen die Regierung, es muß noch etwas hinzukommen:
die Verachtung.

Die Verachtung der Franzosen bezog sich im Jahr 1847 aber keineswegs
auf die Jmmoralität der beiden leitende» Persönlichkeiten, des Königs und
Guizot's, sondern auf ihre Schwäche. Dem König hat man in Privatange¬
legenheiten nie etwas Schlimmes nachgesagt, und Guizot hatte unter allen
seinen Staatsmännern vielleicht die reinsten Hände: er nahm weder Geld
noch ließ er es sich geben. Aber Guizot. der seinen aufgeklarten Ueberzeu¬
gungen notes berufen war, die Sache der Reform und des Fortschritts zu lei¬
ten, buhlte, nicht aus Eigennutz, sondern aus doctrinären Gründen, mit den
Feinden des Fortschritts; hochfahrend und wegwerfend gegen diejenigen Clas¬
sen des Volks, in denen er seine Stütze hätte suchen solle», beugte er sich vor
dem französischen Junkerthum und vor der französischen Hochkirche, die ihn
innerlich verachtete. Eben so war es mit der auswärtigen Politik. — Lud¬
wig Philipp,, von den großen souveränen als Parvenu angesehn, suchte
sich bei ihnen einzuschmeicheln, indem er jeder reactionären Bewegung seine
Unterstützung lieh, und fand darin in Guizot einen willigen Helfer. Zwei
Monate vor der Februarrevolution war er bereit, im Dienst der heiligen
Allianz den Büttel gegen die Eidgenossenschaft zu spielen; er hätte Oestreich
dieselben Dienste in Italien geleistet.

Wenn uns diese Dinge bei Gelegenheit des Stieberschen Prozesses
einfallen, so sind wir nicht gemeint, den Vergleich auf die Spitze zu treiben;
es ist. Gott sei Dank! noch immer ein großer Unterschied zwischen den Zu¬
standen Frankreichs im Jahr 1847 und den Zuständen Preußens im Jahr
1860. Nicht eine innere Revolution ist es. was Preußen bedroht; wol aber


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[0445] Von der preußischen Grenze. La Kranes s'enmiie! sagte Lamartine, als in der Mitte der vierziger Jahre die Julidynastie durch ihre Principlosigkeit und ihr muthioses Schwan¬ ken alles Ansehn im Rath der Großmächte verloren hatte. La ?rare<z s'alti'isle! sagte er 1847, als eine Reihe von Kriminal¬ prozessen die Korruption und Sittenlosigkeit der höhern Beamtcmvelt und der Aristokratie enthüllte. Als ausübender Staatsmann war Herr von Lamartine mehr als mittel¬ mäßig, aber in seiner Anschauung der Dinge verräth er mitunter einen genia¬ len Blick. — Als Frankreich sich genug gelangweilt und genug betrübt hatte, jagte es die Orleans aus dem Lande. — Revolutionen entspringen nur sel¬ ten blos aus Haß gegen die Regierung, es muß noch etwas hinzukommen: die Verachtung. Die Verachtung der Franzosen bezog sich im Jahr 1847 aber keineswegs auf die Jmmoralität der beiden leitende» Persönlichkeiten, des Königs und Guizot's, sondern auf ihre Schwäche. Dem König hat man in Privatange¬ legenheiten nie etwas Schlimmes nachgesagt, und Guizot hatte unter allen seinen Staatsmännern vielleicht die reinsten Hände: er nahm weder Geld noch ließ er es sich geben. Aber Guizot. der seinen aufgeklarten Ueberzeu¬ gungen notes berufen war, die Sache der Reform und des Fortschritts zu lei¬ ten, buhlte, nicht aus Eigennutz, sondern aus doctrinären Gründen, mit den Feinden des Fortschritts; hochfahrend und wegwerfend gegen diejenigen Clas¬ sen des Volks, in denen er seine Stütze hätte suchen solle», beugte er sich vor dem französischen Junkerthum und vor der französischen Hochkirche, die ihn innerlich verachtete. Eben so war es mit der auswärtigen Politik. — Lud¬ wig Philipp,, von den großen souveränen als Parvenu angesehn, suchte sich bei ihnen einzuschmeicheln, indem er jeder reactionären Bewegung seine Unterstützung lieh, und fand darin in Guizot einen willigen Helfer. Zwei Monate vor der Februarrevolution war er bereit, im Dienst der heiligen Allianz den Büttel gegen die Eidgenossenschaft zu spielen; er hätte Oestreich dieselben Dienste in Italien geleistet. Wenn uns diese Dinge bei Gelegenheit des Stieberschen Prozesses einfallen, so sind wir nicht gemeint, den Vergleich auf die Spitze zu treiben; es ist. Gott sei Dank! noch immer ein großer Unterschied zwischen den Zu¬ standen Frankreichs im Jahr 1847 und den Zuständen Preußens im Jahr 1860. Nicht eine innere Revolution ist es. was Preußen bedroht; wol aber Grenzboten IV. 1860. 55

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/445>, abgerufen am 15.01.2025.