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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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ßer, die zunächst lediglich die Fragen der Verfassung eines einzelnen Staates
berührten, von dem übrigen Deutschland als ein Ereigniß von nationaler
Bedeutung begrüßt und daß die nationalen Fragen dadurch unmittelbar
wieder in den Lordergrund gerückt wurden. Die Parteien knüpften unmittel¬
bar an diese letzteren wieder an und brachten sich durch ihren vorläufigen Ver¬
zicht auf die Stellung und Lösung der Fragen der Freiheit in arge Gefahren,
indem sie ohne Weiters sich um das nationale Banner scharten, gleichviel
von wessen Hand es getragen wurde. Und auch vielen von denen, welche eine
Ahnung davon hatten, was es bedeute, das liberale preußische Ministerium
in diesen Krieg zu treiben, kam es doch sast wie eine Abirrung von den Haupt¬
zielen vor, wenn dieses Ministerium gegenüber den Mahnrufen zum nationalen
Vorschreiten vorerst auf den Weg zur Reform in den Einzelstnaten hinwies,
und zuvörderst eine Bethätigung der Thatkraft und Anbahnung der Mittel auf
diesem Gebiete forderte. Es ist als ein erfreuliches Zeichen des Zurückkom¬
mens von einer neuen Einseitigkeit und der wachsenden Einsicht in die politi¬
sche Lage Deutschlands zu begrüßen, wenn man nun diese Forderung immer
mehr zu würdigen versteht und wieder beginnt, dem Verfassungsleben der
einzelnen Staaten mit erneuter Aufmerksamkeit und Energie sich zuzuwenden.
Es soll und darf dem deutschen Volke nicht wieder begegnen, daß es die Ein¬
heit über der Freiheit versäumt, aber es würde ebenso bedauerlich sein, wenn
man nur auf die endlich durch irgendwelche wichtige Ereignisse herbeizuführende
Lösung der Einheit speculiren und darüber die Wirksamkeit für jene Ideen im
Verfassungsleben der einzelnen Staaten vernachlässigen wollte.

Das Gesagte gilt ganz besonders auch von den sächsischen Zuständen, und
daß auch hier jene erfreuliche Wendung eingetreten ist, das beweist uns die
ganz besondre Aufmerksamkeit, die man bei dem Zusammentreten der sächsischen
Stände dem sächsischen Wahlgesetze zuwendet. Eine Reform des sächsischen
Wahlgesetzes berührt nicht blos untergeordnete Fragen der activen und passiven
Wahlfühigkeit, sie bedeutet eine Reform des ganzen Charakters der ständischen
Vertretung, sie involvirt nothwendige Abänderungen der Verfassung selbst; eine
Geschichte des sächsischen Wahlgesetzes ist fast eine Geschichte der consiitutio-
nellcn Entwicklung Sachsens überhaupt.

Das Königreich Sachsen ist sehr spät erst in die Reihe der constitutionellen
Staaten eingetreten. Bis zum Jahre 1831 hatte es nur eine aus den alten
Volksversammlungen der freigebornen Gutsbesitzer hervorgegangene und durch
das Lehnswesen weiter ausgebildete ständische Vertretung, bet der seit dem
vierzehnten Jahrhundert auch die Städte erschienen und seit der Einführung
der Territorialsteuern eine größere Bedeutung erhielten, die zu einer Vereinigung
ihres Körpers mit dem der Ritterschaft führte. Die erste Curie, bestehend aus
den Prälaten. Grafen und Herrn, wurde durch die Theilung Sachsens außer-


ßer, die zunächst lediglich die Fragen der Verfassung eines einzelnen Staates
berührten, von dem übrigen Deutschland als ein Ereigniß von nationaler
Bedeutung begrüßt und daß die nationalen Fragen dadurch unmittelbar
wieder in den Lordergrund gerückt wurden. Die Parteien knüpften unmittel¬
bar an diese letzteren wieder an und brachten sich durch ihren vorläufigen Ver¬
zicht auf die Stellung und Lösung der Fragen der Freiheit in arge Gefahren,
indem sie ohne Weiters sich um das nationale Banner scharten, gleichviel
von wessen Hand es getragen wurde. Und auch vielen von denen, welche eine
Ahnung davon hatten, was es bedeute, das liberale preußische Ministerium
in diesen Krieg zu treiben, kam es doch sast wie eine Abirrung von den Haupt¬
zielen vor, wenn dieses Ministerium gegenüber den Mahnrufen zum nationalen
Vorschreiten vorerst auf den Weg zur Reform in den Einzelstnaten hinwies,
und zuvörderst eine Bethätigung der Thatkraft und Anbahnung der Mittel auf
diesem Gebiete forderte. Es ist als ein erfreuliches Zeichen des Zurückkom¬
mens von einer neuen Einseitigkeit und der wachsenden Einsicht in die politi¬
sche Lage Deutschlands zu begrüßen, wenn man nun diese Forderung immer
mehr zu würdigen versteht und wieder beginnt, dem Verfassungsleben der
einzelnen Staaten mit erneuter Aufmerksamkeit und Energie sich zuzuwenden.
Es soll und darf dem deutschen Volke nicht wieder begegnen, daß es die Ein¬
heit über der Freiheit versäumt, aber es würde ebenso bedauerlich sein, wenn
man nur auf die endlich durch irgendwelche wichtige Ereignisse herbeizuführende
Lösung der Einheit speculiren und darüber die Wirksamkeit für jene Ideen im
Verfassungsleben der einzelnen Staaten vernachlässigen wollte.

Das Gesagte gilt ganz besonders auch von den sächsischen Zuständen, und
daß auch hier jene erfreuliche Wendung eingetreten ist, das beweist uns die
ganz besondre Aufmerksamkeit, die man bei dem Zusammentreten der sächsischen
Stände dem sächsischen Wahlgesetze zuwendet. Eine Reform des sächsischen
Wahlgesetzes berührt nicht blos untergeordnete Fragen der activen und passiven
Wahlfühigkeit, sie bedeutet eine Reform des ganzen Charakters der ständischen
Vertretung, sie involvirt nothwendige Abänderungen der Verfassung selbst; eine
Geschichte des sächsischen Wahlgesetzes ist fast eine Geschichte der consiitutio-
nellcn Entwicklung Sachsens überhaupt.

Das Königreich Sachsen ist sehr spät erst in die Reihe der constitutionellen
Staaten eingetreten. Bis zum Jahre 1831 hatte es nur eine aus den alten
Volksversammlungen der freigebornen Gutsbesitzer hervorgegangene und durch
das Lehnswesen weiter ausgebildete ständische Vertretung, bet der seit dem
vierzehnten Jahrhundert auch die Städte erschienen und seit der Einführung
der Territorialsteuern eine größere Bedeutung erhielten, die zu einer Vereinigung
ihres Körpers mit dem der Ritterschaft führte. Die erste Curie, bestehend aus
den Prälaten. Grafen und Herrn, wurde durch die Theilung Sachsens außer-


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[0334] ßer, die zunächst lediglich die Fragen der Verfassung eines einzelnen Staates berührten, von dem übrigen Deutschland als ein Ereigniß von nationaler Bedeutung begrüßt und daß die nationalen Fragen dadurch unmittelbar wieder in den Lordergrund gerückt wurden. Die Parteien knüpften unmittel¬ bar an diese letzteren wieder an und brachten sich durch ihren vorläufigen Ver¬ zicht auf die Stellung und Lösung der Fragen der Freiheit in arge Gefahren, indem sie ohne Weiters sich um das nationale Banner scharten, gleichviel von wessen Hand es getragen wurde. Und auch vielen von denen, welche eine Ahnung davon hatten, was es bedeute, das liberale preußische Ministerium in diesen Krieg zu treiben, kam es doch sast wie eine Abirrung von den Haupt¬ zielen vor, wenn dieses Ministerium gegenüber den Mahnrufen zum nationalen Vorschreiten vorerst auf den Weg zur Reform in den Einzelstnaten hinwies, und zuvörderst eine Bethätigung der Thatkraft und Anbahnung der Mittel auf diesem Gebiete forderte. Es ist als ein erfreuliches Zeichen des Zurückkom¬ mens von einer neuen Einseitigkeit und der wachsenden Einsicht in die politi¬ sche Lage Deutschlands zu begrüßen, wenn man nun diese Forderung immer mehr zu würdigen versteht und wieder beginnt, dem Verfassungsleben der einzelnen Staaten mit erneuter Aufmerksamkeit und Energie sich zuzuwenden. Es soll und darf dem deutschen Volke nicht wieder begegnen, daß es die Ein¬ heit über der Freiheit versäumt, aber es würde ebenso bedauerlich sein, wenn man nur auf die endlich durch irgendwelche wichtige Ereignisse herbeizuführende Lösung der Einheit speculiren und darüber die Wirksamkeit für jene Ideen im Verfassungsleben der einzelnen Staaten vernachlässigen wollte. Das Gesagte gilt ganz besonders auch von den sächsischen Zuständen, und daß auch hier jene erfreuliche Wendung eingetreten ist, das beweist uns die ganz besondre Aufmerksamkeit, die man bei dem Zusammentreten der sächsischen Stände dem sächsischen Wahlgesetze zuwendet. Eine Reform des sächsischen Wahlgesetzes berührt nicht blos untergeordnete Fragen der activen und passiven Wahlfühigkeit, sie bedeutet eine Reform des ganzen Charakters der ständischen Vertretung, sie involvirt nothwendige Abänderungen der Verfassung selbst; eine Geschichte des sächsischen Wahlgesetzes ist fast eine Geschichte der consiitutio- nellcn Entwicklung Sachsens überhaupt. Das Königreich Sachsen ist sehr spät erst in die Reihe der constitutionellen Staaten eingetreten. Bis zum Jahre 1831 hatte es nur eine aus den alten Volksversammlungen der freigebornen Gutsbesitzer hervorgegangene und durch das Lehnswesen weiter ausgebildete ständische Vertretung, bet der seit dem vierzehnten Jahrhundert auch die Städte erschienen und seit der Einführung der Territorialsteuern eine größere Bedeutung erhielten, die zu einer Vereinigung ihres Körpers mit dem der Ritterschaft führte. Die erste Curie, bestehend aus den Prälaten. Grafen und Herrn, wurde durch die Theilung Sachsens außer-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/334>, abgerufen am 15.01.2025.