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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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die leichteste Verbindung mit den nähern Orten durch die Salonwagen, welche
in allen Hauptrichtungen fahren, mit den fernern Orten durch die Eisenbahn:
dies Alles sind wie früher so noch heute sehr starke Magnete für Lebemenschen.

Einen eigenthümlichen Reiz erhält Wien durch seine bunte Musterkarte
von Völkerschaften -- ganz abgesehen von der bekannten Mischung der Na¬
tionalitäten in der Garnison, die unter der gleichen Uniform verschwindet.
Nicht allein, daß man in gewissen Vorstädten ganze Scharren von Tagelöh¬
nern und Arbeitern trifft, deren Gesichtsbildung, Gestalt, Haltung und Kleid
den Böhmen, Mähren, Ungarn oder Slovaken verrathen. Auf der Straße,
im Kaffee- oder Speisehause, im Theater, kurz überall und in allen Schichten
der Gesellschaft sieht man sich inmitten einer Völkerausstellung; überall kreu¬
zen sich die verschiedenen Sprachen und Dialekte slavischer, romanischer, ma¬
gyarischer und griechischer Zunge mit dem Deutschen, wozu noch die Sprachen der
Fremden kommen, die wir auch am Rhein zu vernehmen gewohnt sind. Es ver¬
steht sich, daß die verschiedenen Völker Oesterreichs in Wien auch ihre Kirchen
besitzen; so wird theils sonntäglich, theils blos in der Fastenzeit in Maria-
Stiegen böhmisch, in der Salvatorkirche polnisch, in der Johanniskirche un¬
garisch, in der -- in diesem Augenblick zümlich verlassenen -- Mmoriten-
kirche italienisch und außerdem noch in der Sankt Annenkirche französisch ge¬
predigt. Die unirten und nichtunirten Griechen haben ebenfalls ihre Gottes¬
häuser, von denen besonders das zweite ungemein prächtig mit Gemälden
und Vergoldungen ausgeschmückt ist. Eben so stattlich ist die neue, im by¬
zantinischen Styl aufgeführte Synagoge in der Leopoldstadt. Wir empfinden
dabei sehr deutlich, daß wir in einer Großstadt ersten Ranges, aber weniger
wie in Berlin, daß wir in einer deutschen Stadt sind.

Von jeher hat das Theater bei den lebenslustigen Wienern eine große
Rolle gespielt, und der Hof hat wenigstens für die Kunst des Schauspielers
stets eine offene Hand gehabt, wenn auch, bei der bekannten Engherzigkeit
des althergebrachten Systems, das Drama als solches unmöglich gefördert
werden konnte. Mag Dresden jetzt unter den deutschen Bühnen den ersten
Rang behaupten, und mag die preußische Hauptstadt in der Oper mit Wien
gleichen Schritt halten und im Ballet sogar -- seit der Zeit Friedrich Wil¬
helms III., der bekanntlich eine große Vorliebe für diesen niedrigsten Zweig
der Kunst hatte -- den Vorrang behaupten: bis auf die letzten Jahre ist das
kaiserliche Theater die erste redende Bühne Deutschlands gewesen, und noch
heut zu Tage kennen unsere Schauspieler keinen größeren Triumph, als in der
Burg mit Beifall zu spielen. Da dieselbe die höchsten Gehalte zahlt, stehen
ihr natürlich die besten Kräfte zu Gebote; die Hauptrollen sind mit Meistern
besetzt; die Nebenrollen werden, bis auf den geringsten Bedienten hinab, gut
gegeben, und das Zusammenspiel ist trefflich. Zugleich wird der Eifer der


die leichteste Verbindung mit den nähern Orten durch die Salonwagen, welche
in allen Hauptrichtungen fahren, mit den fernern Orten durch die Eisenbahn:
dies Alles sind wie früher so noch heute sehr starke Magnete für Lebemenschen.

Einen eigenthümlichen Reiz erhält Wien durch seine bunte Musterkarte
von Völkerschaften — ganz abgesehen von der bekannten Mischung der Na¬
tionalitäten in der Garnison, die unter der gleichen Uniform verschwindet.
Nicht allein, daß man in gewissen Vorstädten ganze Scharren von Tagelöh¬
nern und Arbeitern trifft, deren Gesichtsbildung, Gestalt, Haltung und Kleid
den Böhmen, Mähren, Ungarn oder Slovaken verrathen. Auf der Straße,
im Kaffee- oder Speisehause, im Theater, kurz überall und in allen Schichten
der Gesellschaft sieht man sich inmitten einer Völkerausstellung; überall kreu¬
zen sich die verschiedenen Sprachen und Dialekte slavischer, romanischer, ma¬
gyarischer und griechischer Zunge mit dem Deutschen, wozu noch die Sprachen der
Fremden kommen, die wir auch am Rhein zu vernehmen gewohnt sind. Es ver¬
steht sich, daß die verschiedenen Völker Oesterreichs in Wien auch ihre Kirchen
besitzen; so wird theils sonntäglich, theils blos in der Fastenzeit in Maria-
Stiegen böhmisch, in der Salvatorkirche polnisch, in der Johanniskirche un¬
garisch, in der — in diesem Augenblick zümlich verlassenen — Mmoriten-
kirche italienisch und außerdem noch in der Sankt Annenkirche französisch ge¬
predigt. Die unirten und nichtunirten Griechen haben ebenfalls ihre Gottes¬
häuser, von denen besonders das zweite ungemein prächtig mit Gemälden
und Vergoldungen ausgeschmückt ist. Eben so stattlich ist die neue, im by¬
zantinischen Styl aufgeführte Synagoge in der Leopoldstadt. Wir empfinden
dabei sehr deutlich, daß wir in einer Großstadt ersten Ranges, aber weniger
wie in Berlin, daß wir in einer deutschen Stadt sind.

Von jeher hat das Theater bei den lebenslustigen Wienern eine große
Rolle gespielt, und der Hof hat wenigstens für die Kunst des Schauspielers
stets eine offene Hand gehabt, wenn auch, bei der bekannten Engherzigkeit
des althergebrachten Systems, das Drama als solches unmöglich gefördert
werden konnte. Mag Dresden jetzt unter den deutschen Bühnen den ersten
Rang behaupten, und mag die preußische Hauptstadt in der Oper mit Wien
gleichen Schritt halten und im Ballet sogar — seit der Zeit Friedrich Wil¬
helms III., der bekanntlich eine große Vorliebe für diesen niedrigsten Zweig
der Kunst hatte — den Vorrang behaupten: bis auf die letzten Jahre ist das
kaiserliche Theater die erste redende Bühne Deutschlands gewesen, und noch
heut zu Tage kennen unsere Schauspieler keinen größeren Triumph, als in der
Burg mit Beifall zu spielen. Da dieselbe die höchsten Gehalte zahlt, stehen
ihr natürlich die besten Kräfte zu Gebote; die Hauptrollen sind mit Meistern
besetzt; die Nebenrollen werden, bis auf den geringsten Bedienten hinab, gut
gegeben, und das Zusammenspiel ist trefflich. Zugleich wird der Eifer der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/321>, abgerufen am 16.01.2025.