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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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in der Türkei ist Wakuf, d. h. Eigenthum frommer Stiftungen. Diese Grund¬
stücke werden jetzt von der Regierung verwaltet, die sie in Zeitpacht gibt und
daraus beträchtliche Summen zieht. Mau sollte dieselben aber mit Ausnahme
derjenigen, die zu wohlthätigen Zwecken dienen, zu denen ein Zehntel des
Ganzen hinreichen würde, in freie Landgüter verwandeln und die Hälfte des
Erlosch zur Abzahlung der Schuld, die andere zum Bau von Straßen und
Eisenbahnen verwenden.

Das nächst Nothwendige wäre eine passende Besetzung der Gouverneurs¬
stellen. Fast jeder Pascha ist verschuldet. Drängen ihn seine Gläubiger, so
sagt er ihnen, daß er sie nicht eher befriedigen könne, als bis ihm die Stelle
eines Provinzialgouverneurs zu Theil geworden sei, und da die Regierung
die Hülfe derselben Kapitalisten bedarf, so ist die Stelle gewöhnlich schon bei
der nächsten Gelegenheit ausgewirkt, wo die Pforte sich um Vorschüsse an
jene wenden muß. Was von solchen StiMhaltern des Sultans zu erwarten
ist. bedarf keiner Andeutung.

Vor allem Andern wäre sodann zu sorgen, daß die Intoleranz der tür¬
kischen Minorität gegen die Christen und die oben bezeichneten Mißbräuche
ein Ende hätten. Wo die christliche Bevölkerung überwiegt, wie z. B, auf
den meisten Sporaden, müßten christliche Pascha's als Gouverneure eingesetzt
werden. Die Medschlis müßten, wo Türken und Christen gleich dicht ange¬
siedelt sind, eben so viele christliche als türkische, wo die Christen überwiegen,
überwiegend christliche Mitglieder erhalten. Die Regierung hätte ferner die
Einholung der Steuern selbst in die Hand zu nehmen und die Lasten auf
alle Religionsparteien gleich zu vertheilen, das Trucksystem überall abzuschaffen,
die Armee und die Polizei nach dem Muster civilisirter Staaten zu verpflegen
und auch die Christen zum Militärdienst heranzuziehen. Gewaltsame Bekeh¬
rungen christlicher Mädchen und Frauen sollten fernerhin als Criminnlfülle be¬
handelt, christliche Zeugen in allen Processen und vor jedem Gerichtshof die¬
selbe Geltung haben wie mohammedanische. Endlich wären die Behörden an¬
zuweisen und mit allen Mitteln anzuhalten, daß sie jeden Angriff muselmän-
nischcr Bigotterie ohne Verzug und mit der äußersten Strenge bestraften.

Mit solchen Maßregeln ließe sich der Fall der Türkei vielleicht noch einige
Zeit aufhalten. Aber die Menschen fehlen, die dazu erforderlich wären. Der
Sultan ist ein kläglicher Schwächling, ausschweifend, verschwenderisch, zu kei¬
nem ernsten Entschluß fähig. Die höhere Beamtenwelt, zum Theil aus den
Knabenharems Padischah Mahmud II. hervorgegangen, gleicht mit wenigen
Ausnahmen ihrem Gebieter. Wenige haben Vertrauen aus die Zukunft, jeder
denkt auf möglichste Ausbeutung der Gegenwart. Der Schatz ist leer, die
Armee unbezahlt, allenthalben herrscht Unzufriedenheit und Gährung, unter
den Moslemin, weil den Christen schon zu viel zugestanden worden, unter


in der Türkei ist Wakuf, d. h. Eigenthum frommer Stiftungen. Diese Grund¬
stücke werden jetzt von der Regierung verwaltet, die sie in Zeitpacht gibt und
daraus beträchtliche Summen zieht. Mau sollte dieselben aber mit Ausnahme
derjenigen, die zu wohlthätigen Zwecken dienen, zu denen ein Zehntel des
Ganzen hinreichen würde, in freie Landgüter verwandeln und die Hälfte des
Erlosch zur Abzahlung der Schuld, die andere zum Bau von Straßen und
Eisenbahnen verwenden.

Das nächst Nothwendige wäre eine passende Besetzung der Gouverneurs¬
stellen. Fast jeder Pascha ist verschuldet. Drängen ihn seine Gläubiger, so
sagt er ihnen, daß er sie nicht eher befriedigen könne, als bis ihm die Stelle
eines Provinzialgouverneurs zu Theil geworden sei, und da die Regierung
die Hülfe derselben Kapitalisten bedarf, so ist die Stelle gewöhnlich schon bei
der nächsten Gelegenheit ausgewirkt, wo die Pforte sich um Vorschüsse an
jene wenden muß. Was von solchen StiMhaltern des Sultans zu erwarten
ist. bedarf keiner Andeutung.

Vor allem Andern wäre sodann zu sorgen, daß die Intoleranz der tür¬
kischen Minorität gegen die Christen und die oben bezeichneten Mißbräuche
ein Ende hätten. Wo die christliche Bevölkerung überwiegt, wie z. B, auf
den meisten Sporaden, müßten christliche Pascha's als Gouverneure eingesetzt
werden. Die Medschlis müßten, wo Türken und Christen gleich dicht ange¬
siedelt sind, eben so viele christliche als türkische, wo die Christen überwiegen,
überwiegend christliche Mitglieder erhalten. Die Regierung hätte ferner die
Einholung der Steuern selbst in die Hand zu nehmen und die Lasten auf
alle Religionsparteien gleich zu vertheilen, das Trucksystem überall abzuschaffen,
die Armee und die Polizei nach dem Muster civilisirter Staaten zu verpflegen
und auch die Christen zum Militärdienst heranzuziehen. Gewaltsame Bekeh¬
rungen christlicher Mädchen und Frauen sollten fernerhin als Criminnlfülle be¬
handelt, christliche Zeugen in allen Processen und vor jedem Gerichtshof die¬
selbe Geltung haben wie mohammedanische. Endlich wären die Behörden an¬
zuweisen und mit allen Mitteln anzuhalten, daß sie jeden Angriff muselmän-
nischcr Bigotterie ohne Verzug und mit der äußersten Strenge bestraften.

Mit solchen Maßregeln ließe sich der Fall der Türkei vielleicht noch einige
Zeit aufhalten. Aber die Menschen fehlen, die dazu erforderlich wären. Der
Sultan ist ein kläglicher Schwächling, ausschweifend, verschwenderisch, zu kei¬
nem ernsten Entschluß fähig. Die höhere Beamtenwelt, zum Theil aus den
Knabenharems Padischah Mahmud II. hervorgegangen, gleicht mit wenigen
Ausnahmen ihrem Gebieter. Wenige haben Vertrauen aus die Zukunft, jeder
denkt auf möglichste Ausbeutung der Gegenwart. Der Schatz ist leer, die
Armee unbezahlt, allenthalben herrscht Unzufriedenheit und Gährung, unter
den Moslemin, weil den Christen schon zu viel zugestanden worden, unter


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[0305] in der Türkei ist Wakuf, d. h. Eigenthum frommer Stiftungen. Diese Grund¬ stücke werden jetzt von der Regierung verwaltet, die sie in Zeitpacht gibt und daraus beträchtliche Summen zieht. Mau sollte dieselben aber mit Ausnahme derjenigen, die zu wohlthätigen Zwecken dienen, zu denen ein Zehntel des Ganzen hinreichen würde, in freie Landgüter verwandeln und die Hälfte des Erlosch zur Abzahlung der Schuld, die andere zum Bau von Straßen und Eisenbahnen verwenden. Das nächst Nothwendige wäre eine passende Besetzung der Gouverneurs¬ stellen. Fast jeder Pascha ist verschuldet. Drängen ihn seine Gläubiger, so sagt er ihnen, daß er sie nicht eher befriedigen könne, als bis ihm die Stelle eines Provinzialgouverneurs zu Theil geworden sei, und da die Regierung die Hülfe derselben Kapitalisten bedarf, so ist die Stelle gewöhnlich schon bei der nächsten Gelegenheit ausgewirkt, wo die Pforte sich um Vorschüsse an jene wenden muß. Was von solchen StiMhaltern des Sultans zu erwarten ist. bedarf keiner Andeutung. Vor allem Andern wäre sodann zu sorgen, daß die Intoleranz der tür¬ kischen Minorität gegen die Christen und die oben bezeichneten Mißbräuche ein Ende hätten. Wo die christliche Bevölkerung überwiegt, wie z. B, auf den meisten Sporaden, müßten christliche Pascha's als Gouverneure eingesetzt werden. Die Medschlis müßten, wo Türken und Christen gleich dicht ange¬ siedelt sind, eben so viele christliche als türkische, wo die Christen überwiegen, überwiegend christliche Mitglieder erhalten. Die Regierung hätte ferner die Einholung der Steuern selbst in die Hand zu nehmen und die Lasten auf alle Religionsparteien gleich zu vertheilen, das Trucksystem überall abzuschaffen, die Armee und die Polizei nach dem Muster civilisirter Staaten zu verpflegen und auch die Christen zum Militärdienst heranzuziehen. Gewaltsame Bekeh¬ rungen christlicher Mädchen und Frauen sollten fernerhin als Criminnlfülle be¬ handelt, christliche Zeugen in allen Processen und vor jedem Gerichtshof die¬ selbe Geltung haben wie mohammedanische. Endlich wären die Behörden an¬ zuweisen und mit allen Mitteln anzuhalten, daß sie jeden Angriff muselmän- nischcr Bigotterie ohne Verzug und mit der äußersten Strenge bestraften. Mit solchen Maßregeln ließe sich der Fall der Türkei vielleicht noch einige Zeit aufhalten. Aber die Menschen fehlen, die dazu erforderlich wären. Der Sultan ist ein kläglicher Schwächling, ausschweifend, verschwenderisch, zu kei¬ nem ernsten Entschluß fähig. Die höhere Beamtenwelt, zum Theil aus den Knabenharems Padischah Mahmud II. hervorgegangen, gleicht mit wenigen Ausnahmen ihrem Gebieter. Wenige haben Vertrauen aus die Zukunft, jeder denkt auf möglichste Ausbeutung der Gegenwart. Der Schatz ist leer, die Armee unbezahlt, allenthalben herrscht Unzufriedenheit und Gährung, unter den Moslemin, weil den Christen schon zu viel zugestanden worden, unter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/305>, abgerufen am 15.01.2025.