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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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druck gestattet, mit der Leidenschaft 'für politische Intriguen und parlamenta¬
rische Kämpfe, die in Athen so oft sich bis zu demokratischen Ausschweifungen
verstieg? Der gleiche religiöse Glaube bildete allerdings einst ein Verbindungs¬
glied zwischen den Russen und den Griechen, aber nur so lange, als diese die
Verfolgten, jene die Vertheidiger waren. Seit es ein Königreich Hellas gibt,
hat er diese Eigenschaft nicht mehr. Mit der Kette, die Hellas an das Ban¬
ner mit dem Halbmond fesselte, riß auch die, welche die Griechen unter der
Standarte des Czaren festhielt, und das ist einer der Gründe, aus denen in
den letztverflossenen Jahrzehnten Rußland mit solchem Eifer und solcher Aus¬
dauer bestrebt gewesen ist, die slavische Bevölkerung im Norden der europäi¬
schen Türkei und die Bulgaren sich zu verbinden.

Die Türkei wird an dem Nationalitätsprinzip in Trümmer gehn, wie
Italien durch dasselbe zu einer Einheit verschmolzen wurde. Ohne dieses hier
verbindend, dort zersetzend wirkende Element wäre selbst in Betreff der euro¬
päischen Hälfte des ottomanischen Reichs der Verfall sehr wohl aufzuhalten.
Die Türkei wird schlecht regiert, aber nicht schlechter, als noch vor hundert
Jahren die meisten deutschen Staaten. Die Spannung zwischen den Religionspar¬
teien ist groß, aber die Ungerechtigkeit der herrschenden gegen die übrigen ist nicht
größer als die, welche im achtzehnten, ja im neunzehnten Jahrhundert noch
von vielen katholischen Staaten gegen die Protestanten ausgeübt wurde. Der
Widerspruch, daß der Beherrscher des Reiches einem andern Glauben huldigt,
als die große Mehrzahl seiner Unterthanen in Europa, findet sein Seitenstück
noch heute in einem deutschen Lande, ohne daß die Interessen des letzteren
darunter wesentlich litten. Der Charakter der Türken ist in den höheren
Ständen der Nation sehr wenig werth, aber die Mittelklasse ist einer Regene¬
ration so wol fähig, wie anderwärts; und selbst jene höher Gestellten sind
nicht schlechter, als unsere Vornehmen zwischen dem dreißigjährigen und dem
siebenjährigen Kriege. Ein reformatorischer Geist von der Energie Mehemed
Ali's, durch europäische Einwirkung gezügelt und geleitet, könnte, wenn jenes
Haupthinderniß nicht wäre, noch jetzt viel erreichen.

Man spricht viel von dem verzweifelten Zustand der türkischen Finanzen.
Wir sehe" keinen Grund zu solcher Bezeichnung. Die Staatsschuld ist ver-
hältnißmäßig gering, sie beträgt nicht viel über 300 Millionen Thaler. Ein¬
künfte und Ausgaben kommen sich beinahe gleich und belaufen sich auf unge¬
fähr 60 Millionen Thaler. Die erstem ließen sich durch vernunftgemäße Er¬
schließung der ungeheuern Hülfsquellen des Reiches binnen wenigen Jahren ver¬
doppeln, die letztern sich durch Ermäßigung der auf den Hofhalt des Sultans ver¬
wendeten Summen und ähnliche Maßregeln mindestens um ein Drittel vermindern.
Die Staatsschuld könnte auf solche Weise noch vor Ablauf dieses Jahrhunderts
bis auf den letzten Piaster getilgt werden. Fast die Hälfte aller Ländereien


druck gestattet, mit der Leidenschaft 'für politische Intriguen und parlamenta¬
rische Kämpfe, die in Athen so oft sich bis zu demokratischen Ausschweifungen
verstieg? Der gleiche religiöse Glaube bildete allerdings einst ein Verbindungs¬
glied zwischen den Russen und den Griechen, aber nur so lange, als diese die
Verfolgten, jene die Vertheidiger waren. Seit es ein Königreich Hellas gibt,
hat er diese Eigenschaft nicht mehr. Mit der Kette, die Hellas an das Ban¬
ner mit dem Halbmond fesselte, riß auch die, welche die Griechen unter der
Standarte des Czaren festhielt, und das ist einer der Gründe, aus denen in
den letztverflossenen Jahrzehnten Rußland mit solchem Eifer und solcher Aus¬
dauer bestrebt gewesen ist, die slavische Bevölkerung im Norden der europäi¬
schen Türkei und die Bulgaren sich zu verbinden.

Die Türkei wird an dem Nationalitätsprinzip in Trümmer gehn, wie
Italien durch dasselbe zu einer Einheit verschmolzen wurde. Ohne dieses hier
verbindend, dort zersetzend wirkende Element wäre selbst in Betreff der euro¬
päischen Hälfte des ottomanischen Reichs der Verfall sehr wohl aufzuhalten.
Die Türkei wird schlecht regiert, aber nicht schlechter, als noch vor hundert
Jahren die meisten deutschen Staaten. Die Spannung zwischen den Religionspar¬
teien ist groß, aber die Ungerechtigkeit der herrschenden gegen die übrigen ist nicht
größer als die, welche im achtzehnten, ja im neunzehnten Jahrhundert noch
von vielen katholischen Staaten gegen die Protestanten ausgeübt wurde. Der
Widerspruch, daß der Beherrscher des Reiches einem andern Glauben huldigt,
als die große Mehrzahl seiner Unterthanen in Europa, findet sein Seitenstück
noch heute in einem deutschen Lande, ohne daß die Interessen des letzteren
darunter wesentlich litten. Der Charakter der Türken ist in den höheren
Ständen der Nation sehr wenig werth, aber die Mittelklasse ist einer Regene¬
ration so wol fähig, wie anderwärts; und selbst jene höher Gestellten sind
nicht schlechter, als unsere Vornehmen zwischen dem dreißigjährigen und dem
siebenjährigen Kriege. Ein reformatorischer Geist von der Energie Mehemed
Ali's, durch europäische Einwirkung gezügelt und geleitet, könnte, wenn jenes
Haupthinderniß nicht wäre, noch jetzt viel erreichen.

Man spricht viel von dem verzweifelten Zustand der türkischen Finanzen.
Wir sehe» keinen Grund zu solcher Bezeichnung. Die Staatsschuld ist ver-
hältnißmäßig gering, sie beträgt nicht viel über 300 Millionen Thaler. Ein¬
künfte und Ausgaben kommen sich beinahe gleich und belaufen sich auf unge¬
fähr 60 Millionen Thaler. Die erstem ließen sich durch vernunftgemäße Er¬
schließung der ungeheuern Hülfsquellen des Reiches binnen wenigen Jahren ver¬
doppeln, die letztern sich durch Ermäßigung der auf den Hofhalt des Sultans ver¬
wendeten Summen und ähnliche Maßregeln mindestens um ein Drittel vermindern.
Die Staatsschuld könnte auf solche Weise noch vor Ablauf dieses Jahrhunderts
bis auf den letzten Piaster getilgt werden. Fast die Hälfte aller Ländereien


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/304>, abgerufen am 15.01.2025.