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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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Halbinsel kreuzen sich noch weit mehr, wie dort auf der italischen, die Inte¬
ressen und Tendenzen der auswärtigen Mächte.

Was Oestreich bis 1859 in Bezug auf Italien war, das ist in gewissem
Sinn Rußland für das Gebiet zwischen der Donau und dem Schwarzen und
Asiatischen Meer, nur daß es sich nicht so sehr an den Fürsten, als an die
Völker wendet und so die Rolle Sardiniens zu spielen scheint. Was letzteres
für die westliche Halbinsel gewesen ist. das sollte und das könnte unter gün¬
stigern Umständen das Königreich Hellas für die östliche sein. Die Pforte
ist im Voraus gerichtet, wie einst Rom und Neapel, und sie wäre schon ver¬
loren, wenn die Dinge ganz so einfach lägen, wie in den italienischen
Staaten.

Unser Vergleich trifft, wie angedeutet, nur bis zu einem gewissen Grade
das Thatsächliche. Sardinien war, als es den Krieg für die Einheit Italiens
begann, eine starke Mittclmacht mit einem energischen König, einem kühnen
und klugen Minister und mächtigen Gönnern. Es hatte Staaten vor sich,
deren Volker durch die Sprache bereits geeinigt waren, und in deren Leben
der Geist der Städte überwog, der für höhere Ideen immer empfänglicher ist,
als der des platten Landes. Hellas ist ein Kleinstaat, der zwar, wie schon
der byzantinische Adler auf seinen Kanzeln zeigt, ähnliche Wünsche und Hoff¬
nungen wie Sardinien seit 1848, aber keinen Cavour und keinen Victor Ema-
nuel hat. Ein Revolutionskrieg ferner würde hier, wenn er zum Siege führte,
aller Wahrscheinlichkeit nach trotz des Einigungsmittcls, welches in dem ge¬
meinsamen Glauben der Stämme auf der illyrischen Halbinsel gegeben ist, kein
großes einiges Reich, sondern mindestens zwei, ein hellenisches und ein sla¬
visches, zur Folge haben. Der größte Theil jener Stämme sodann besieht
aus Bauern, die sich zwar gern für Abschaffung drückender Steuern und für
eine Beute von Türkenköpfen schlagen würden, nicht aber für die Idee der
Wiederherstellung des Byzantinerreichs. Während endlich zur italienischen
Frage die Westmächte bisher im ganzen dieselbe Stellung einnahmen, Eng¬
land, wie es scheint, in dem sichern Glauben, seine Interessen dadurch zu för¬
dern, Frankreich zuletzt, wie man denken sollte, nothgedrungen, gehen ihre
Wege in Bezug auf die türkische von vornherein anseinander. War England
dort gegen Oestreich und für ein starkes Italien, das ihm in Zukunft als
Gegengewicht und Bundesgenosse gegen ein etwaiges Uebergreifen Frankreichs
im Mittelmeer dienen kann, so verfolgt es hier -- ob mit Recht, lassen wir
dahingestellt -- dieselbe Politik wie Oestreich. Wie dieses in erster Linie
überhaupt ,keine Umgestaltung der Karte Europas, dann keine russischen Er¬
werbungen an seiner Südgrenze und ebenso wenig ein starkes Serbenreich
wollen kann, dem mit der Zeit ein Theil seiner Besitzungen zufallen
würde, so sieht England lieber eine schwache Türkei, als irgend eine po-


Halbinsel kreuzen sich noch weit mehr, wie dort auf der italischen, die Inte¬
ressen und Tendenzen der auswärtigen Mächte.

Was Oestreich bis 1859 in Bezug auf Italien war, das ist in gewissem
Sinn Rußland für das Gebiet zwischen der Donau und dem Schwarzen und
Asiatischen Meer, nur daß es sich nicht so sehr an den Fürsten, als an die
Völker wendet und so die Rolle Sardiniens zu spielen scheint. Was letzteres
für die westliche Halbinsel gewesen ist. das sollte und das könnte unter gün¬
stigern Umständen das Königreich Hellas für die östliche sein. Die Pforte
ist im Voraus gerichtet, wie einst Rom und Neapel, und sie wäre schon ver¬
loren, wenn die Dinge ganz so einfach lägen, wie in den italienischen
Staaten.

Unser Vergleich trifft, wie angedeutet, nur bis zu einem gewissen Grade
das Thatsächliche. Sardinien war, als es den Krieg für die Einheit Italiens
begann, eine starke Mittclmacht mit einem energischen König, einem kühnen
und klugen Minister und mächtigen Gönnern. Es hatte Staaten vor sich,
deren Volker durch die Sprache bereits geeinigt waren, und in deren Leben
der Geist der Städte überwog, der für höhere Ideen immer empfänglicher ist,
als der des platten Landes. Hellas ist ein Kleinstaat, der zwar, wie schon
der byzantinische Adler auf seinen Kanzeln zeigt, ähnliche Wünsche und Hoff¬
nungen wie Sardinien seit 1848, aber keinen Cavour und keinen Victor Ema-
nuel hat. Ein Revolutionskrieg ferner würde hier, wenn er zum Siege führte,
aller Wahrscheinlichkeit nach trotz des Einigungsmittcls, welches in dem ge¬
meinsamen Glauben der Stämme auf der illyrischen Halbinsel gegeben ist, kein
großes einiges Reich, sondern mindestens zwei, ein hellenisches und ein sla¬
visches, zur Folge haben. Der größte Theil jener Stämme sodann besieht
aus Bauern, die sich zwar gern für Abschaffung drückender Steuern und für
eine Beute von Türkenköpfen schlagen würden, nicht aber für die Idee der
Wiederherstellung des Byzantinerreichs. Während endlich zur italienischen
Frage die Westmächte bisher im ganzen dieselbe Stellung einnahmen, Eng¬
land, wie es scheint, in dem sichern Glauben, seine Interessen dadurch zu för¬
dern, Frankreich zuletzt, wie man denken sollte, nothgedrungen, gehen ihre
Wege in Bezug auf die türkische von vornherein anseinander. War England
dort gegen Oestreich und für ein starkes Italien, das ihm in Zukunft als
Gegengewicht und Bundesgenosse gegen ein etwaiges Uebergreifen Frankreichs
im Mittelmeer dienen kann, so verfolgt es hier — ob mit Recht, lassen wir
dahingestellt — dieselbe Politik wie Oestreich. Wie dieses in erster Linie
überhaupt ,keine Umgestaltung der Karte Europas, dann keine russischen Er¬
werbungen an seiner Südgrenze und ebenso wenig ein starkes Serbenreich
wollen kann, dem mit der Zeit ein Theil seiner Besitzungen zufallen
würde, so sieht England lieber eine schwache Türkei, als irgend eine po-


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[0294] Halbinsel kreuzen sich noch weit mehr, wie dort auf der italischen, die Inte¬ ressen und Tendenzen der auswärtigen Mächte. Was Oestreich bis 1859 in Bezug auf Italien war, das ist in gewissem Sinn Rußland für das Gebiet zwischen der Donau und dem Schwarzen und Asiatischen Meer, nur daß es sich nicht so sehr an den Fürsten, als an die Völker wendet und so die Rolle Sardiniens zu spielen scheint. Was letzteres für die westliche Halbinsel gewesen ist. das sollte und das könnte unter gün¬ stigern Umständen das Königreich Hellas für die östliche sein. Die Pforte ist im Voraus gerichtet, wie einst Rom und Neapel, und sie wäre schon ver¬ loren, wenn die Dinge ganz so einfach lägen, wie in den italienischen Staaten. Unser Vergleich trifft, wie angedeutet, nur bis zu einem gewissen Grade das Thatsächliche. Sardinien war, als es den Krieg für die Einheit Italiens begann, eine starke Mittclmacht mit einem energischen König, einem kühnen und klugen Minister und mächtigen Gönnern. Es hatte Staaten vor sich, deren Volker durch die Sprache bereits geeinigt waren, und in deren Leben der Geist der Städte überwog, der für höhere Ideen immer empfänglicher ist, als der des platten Landes. Hellas ist ein Kleinstaat, der zwar, wie schon der byzantinische Adler auf seinen Kanzeln zeigt, ähnliche Wünsche und Hoff¬ nungen wie Sardinien seit 1848, aber keinen Cavour und keinen Victor Ema- nuel hat. Ein Revolutionskrieg ferner würde hier, wenn er zum Siege führte, aller Wahrscheinlichkeit nach trotz des Einigungsmittcls, welches in dem ge¬ meinsamen Glauben der Stämme auf der illyrischen Halbinsel gegeben ist, kein großes einiges Reich, sondern mindestens zwei, ein hellenisches und ein sla¬ visches, zur Folge haben. Der größte Theil jener Stämme sodann besieht aus Bauern, die sich zwar gern für Abschaffung drückender Steuern und für eine Beute von Türkenköpfen schlagen würden, nicht aber für die Idee der Wiederherstellung des Byzantinerreichs. Während endlich zur italienischen Frage die Westmächte bisher im ganzen dieselbe Stellung einnahmen, Eng¬ land, wie es scheint, in dem sichern Glauben, seine Interessen dadurch zu för¬ dern, Frankreich zuletzt, wie man denken sollte, nothgedrungen, gehen ihre Wege in Bezug auf die türkische von vornherein anseinander. War England dort gegen Oestreich und für ein starkes Italien, das ihm in Zukunft als Gegengewicht und Bundesgenosse gegen ein etwaiges Uebergreifen Frankreichs im Mittelmeer dienen kann, so verfolgt es hier — ob mit Recht, lassen wir dahingestellt — dieselbe Politik wie Oestreich. Wie dieses in erster Linie überhaupt ,keine Umgestaltung der Karte Europas, dann keine russischen Er¬ werbungen an seiner Südgrenze und ebenso wenig ein starkes Serbenreich wollen kann, dem mit der Zeit ein Theil seiner Besitzungen zufallen würde, so sieht England lieber eine schwache Türkei, als irgend eine po-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/294>, abgerufen am 15.01.2025.