Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sen und auf der Erde umgehen, ein Glaube, den als heidnische Superstition
schon Hermann von Fritzlar in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts in
seinen Predigten bekämpfte. Derselbe heidnische Glaube birgt sich auch in
der ebenfalls in Tirol bestehenden Meinung, daß in der Allerseelennacht die
armen Seelen um die Mitternachtsstunde zum Opfer gehen. Wenn Jemand
den Muth hat sich um diese Zeit an dem Altar so niederzulegen, daß jede
hinschreitende Seele mit dem einen Fuße auf ihn treten muß und er in¬
zwischen keinen Laut von sich igibt, so muß ihm der letzte Geist eine Nebel¬
kappe geben. Mit dieser kann er sich unsichtbar machen, wo und wann er
will. Ebendort ist es am Allerseelentage und am Sylvestertage geboten keine
Kröten zu todten, weil arme Seelen darin verborgen sind. Man heizt ferner
in der Allerseelennacht die Stuben, damit die Seelen, welche sonst die kalte
Pein leiden, sich wärmen können, und stellt eine Bank um den Ofen mit
Asche bestreut, um am andern Morgen die Spuren der Todten M sehen,
die sich gewärmt haben. Auch werden am Tage alle Gräber mit Herbstblu¬
men bekränzt und ein dreimaliger Umzug mit brennenden Kerzen gehalten.

Den in Tirol wahrgenommenen Sitten stellt sich der schwäbische Bote's-
brauch zur Seite. Es bekränzen an diesem Tage die Frauen die Gräber ihrer
Verwandten; der Pfarrer besprengt dieselben mit Weihwasser und die Frauen
stellen während des Gottesdienstes ein brennendes Wachslicht darauf. Dies
Nervrennen des Wachses wird als eine Art von Opfer, das dem Todten zu
Gute kommt, angesehn. In Schwaben, Tirol und in Baiern im Lechrain
bäckt man zum Nachtmahl ein eigenthümliches Backwerk, Seelen oder Seel¬
zöpfe, auch Seelstücke genannt. Der Seelenzopf du Lechrain ist ein Gebäck
aus Semmelteig, in Form eines Zopfes geflochten und von allen Größen.
Es gibt Zöpfe, welche bis drei Schuh lang sind. In Schwaben haben die
"Seelen" eine länglichrunde Form und an den Enden zwei kleine Zipfel. Die
Ueberreste von diesem Backwerk ließ man in Tirol noch vor wenigen Jahren
die Nacht hindurch für die armen Seelen auf dem Tische stehen, damit diese
des Nachts kommen und sich laben könnten. Im Lechrain werden auch auf
den Altären der Kirche den Verstorbenen Teller mit Mußmehl, Hafer und Korn
hingestellt und auf den Seitenaltären jene Seelenzöpfe geopfert. Der Auftrag
des Mehles und die Seelenzöpse gehören dem Meßner, und die letztern wer¬
den auch den Taus- uiid Firmpathen als Geschenk an diesem Tage gegeben.
Auf dem berühmten Berge an der Wurmlinger Kapelle bei Tübingen wurden,
als die Todten nicht mehr kamen, die Siechen stellvertretend an diesem Tage
mit Speise und Trank erquickt. Man zog von Tubingen und Rottenburg zu
Pferde auf den Berg, hörte in der Kapelle am Grabe des Stifters, eines
Grafen von Calw, die Messe und hielt dann ein großes Essen mit dreierlei


sen und auf der Erde umgehen, ein Glaube, den als heidnische Superstition
schon Hermann von Fritzlar in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts in
seinen Predigten bekämpfte. Derselbe heidnische Glaube birgt sich auch in
der ebenfalls in Tirol bestehenden Meinung, daß in der Allerseelennacht die
armen Seelen um die Mitternachtsstunde zum Opfer gehen. Wenn Jemand
den Muth hat sich um diese Zeit an dem Altar so niederzulegen, daß jede
hinschreitende Seele mit dem einen Fuße auf ihn treten muß und er in¬
zwischen keinen Laut von sich igibt, so muß ihm der letzte Geist eine Nebel¬
kappe geben. Mit dieser kann er sich unsichtbar machen, wo und wann er
will. Ebendort ist es am Allerseelentage und am Sylvestertage geboten keine
Kröten zu todten, weil arme Seelen darin verborgen sind. Man heizt ferner
in der Allerseelennacht die Stuben, damit die Seelen, welche sonst die kalte
Pein leiden, sich wärmen können, und stellt eine Bank um den Ofen mit
Asche bestreut, um am andern Morgen die Spuren der Todten M sehen,
die sich gewärmt haben. Auch werden am Tage alle Gräber mit Herbstblu¬
men bekränzt und ein dreimaliger Umzug mit brennenden Kerzen gehalten.

Den in Tirol wahrgenommenen Sitten stellt sich der schwäbische Bote's-
brauch zur Seite. Es bekränzen an diesem Tage die Frauen die Gräber ihrer
Verwandten; der Pfarrer besprengt dieselben mit Weihwasser und die Frauen
stellen während des Gottesdienstes ein brennendes Wachslicht darauf. Dies
Nervrennen des Wachses wird als eine Art von Opfer, das dem Todten zu
Gute kommt, angesehn. In Schwaben, Tirol und in Baiern im Lechrain
bäckt man zum Nachtmahl ein eigenthümliches Backwerk, Seelen oder Seel¬
zöpfe, auch Seelstücke genannt. Der Seelenzopf du Lechrain ist ein Gebäck
aus Semmelteig, in Form eines Zopfes geflochten und von allen Größen.
Es gibt Zöpfe, welche bis drei Schuh lang sind. In Schwaben haben die
„Seelen" eine länglichrunde Form und an den Enden zwei kleine Zipfel. Die
Ueberreste von diesem Backwerk ließ man in Tirol noch vor wenigen Jahren
die Nacht hindurch für die armen Seelen auf dem Tische stehen, damit diese
des Nachts kommen und sich laben könnten. Im Lechrain werden auch auf
den Altären der Kirche den Verstorbenen Teller mit Mußmehl, Hafer und Korn
hingestellt und auf den Seitenaltären jene Seelenzöpfe geopfert. Der Auftrag
des Mehles und die Seelenzöpse gehören dem Meßner, und die letztern wer¬
den auch den Taus- uiid Firmpathen als Geschenk an diesem Tage gegeben.
Auf dem berühmten Berge an der Wurmlinger Kapelle bei Tübingen wurden,
als die Todten nicht mehr kamen, die Siechen stellvertretend an diesem Tage
mit Speise und Trank erquickt. Man zog von Tubingen und Rottenburg zu
Pferde auf den Berg, hörte in der Kapelle am Grabe des Stifters, eines
Grafen von Calw, die Messe und hielt dann ein großes Essen mit dreierlei


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0265" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/110613"/>
          <p xml:id="ID_744" prev="#ID_743"> sen und auf der Erde umgehen, ein Glaube, den als heidnische Superstition<lb/>
schon Hermann von Fritzlar in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts in<lb/>
seinen Predigten bekämpfte. Derselbe heidnische Glaube birgt sich auch in<lb/>
der ebenfalls in Tirol bestehenden Meinung, daß in der Allerseelennacht die<lb/>
armen Seelen um die Mitternachtsstunde zum Opfer gehen. Wenn Jemand<lb/>
den Muth hat sich um diese Zeit an dem Altar so niederzulegen, daß jede<lb/>
hinschreitende Seele mit dem einen Fuße auf ihn treten muß und er in¬<lb/>
zwischen keinen Laut von sich igibt, so muß ihm der letzte Geist eine Nebel¬<lb/>
kappe geben. Mit dieser kann er sich unsichtbar machen, wo und wann er<lb/>
will. Ebendort ist es am Allerseelentage und am Sylvestertage geboten keine<lb/>
Kröten zu todten, weil arme Seelen darin verborgen sind. Man heizt ferner<lb/>
in der Allerseelennacht die Stuben, damit die Seelen, welche sonst die kalte<lb/>
Pein leiden, sich wärmen können, und stellt eine Bank um den Ofen mit<lb/>
Asche bestreut, um am andern Morgen die Spuren der Todten M sehen,<lb/>
die sich gewärmt haben. Auch werden am Tage alle Gräber mit Herbstblu¬<lb/>
men bekränzt und ein dreimaliger Umzug mit brennenden Kerzen gehalten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_745" next="#ID_746"> Den in Tirol wahrgenommenen Sitten stellt sich der schwäbische Bote's-<lb/>
brauch zur Seite. Es bekränzen an diesem Tage die Frauen die Gräber ihrer<lb/>
Verwandten; der Pfarrer besprengt dieselben mit Weihwasser und die Frauen<lb/>
stellen während des Gottesdienstes ein brennendes Wachslicht darauf. Dies<lb/>
Nervrennen des Wachses wird als eine Art von Opfer, das dem Todten zu<lb/>
Gute kommt, angesehn. In Schwaben, Tirol und in Baiern im Lechrain<lb/>
bäckt man zum Nachtmahl ein eigenthümliches Backwerk, Seelen oder Seel¬<lb/>
zöpfe, auch Seelstücke genannt. Der Seelenzopf du Lechrain ist ein Gebäck<lb/>
aus Semmelteig, in Form eines Zopfes geflochten und von allen Größen.<lb/>
Es gibt Zöpfe, welche bis drei Schuh lang sind. In Schwaben haben die<lb/>
&#x201E;Seelen" eine länglichrunde Form und an den Enden zwei kleine Zipfel. Die<lb/>
Ueberreste von diesem Backwerk ließ man in Tirol noch vor wenigen Jahren<lb/>
die Nacht hindurch für die armen Seelen auf dem Tische stehen, damit diese<lb/>
des Nachts kommen und sich laben könnten. Im Lechrain werden auch auf<lb/>
den Altären der Kirche den Verstorbenen Teller mit Mußmehl, Hafer und Korn<lb/>
hingestellt und auf den Seitenaltären jene Seelenzöpfe geopfert. Der Auftrag<lb/>
des Mehles und die Seelenzöpse gehören dem Meßner, und die letztern wer¬<lb/>
den auch den Taus- uiid Firmpathen als Geschenk an diesem Tage gegeben.<lb/>
Auf dem berühmten Berge an der Wurmlinger Kapelle bei Tübingen wurden,<lb/>
als die Todten nicht mehr kamen, die Siechen stellvertretend an diesem Tage<lb/>
mit Speise und Trank erquickt. Man zog von Tubingen und Rottenburg zu<lb/>
Pferde auf den Berg, hörte in der Kapelle am Grabe des Stifters, eines<lb/>
Grafen von Calw, die Messe und hielt dann ein großes Essen mit dreierlei</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0265] sen und auf der Erde umgehen, ein Glaube, den als heidnische Superstition schon Hermann von Fritzlar in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts in seinen Predigten bekämpfte. Derselbe heidnische Glaube birgt sich auch in der ebenfalls in Tirol bestehenden Meinung, daß in der Allerseelennacht die armen Seelen um die Mitternachtsstunde zum Opfer gehen. Wenn Jemand den Muth hat sich um diese Zeit an dem Altar so niederzulegen, daß jede hinschreitende Seele mit dem einen Fuße auf ihn treten muß und er in¬ zwischen keinen Laut von sich igibt, so muß ihm der letzte Geist eine Nebel¬ kappe geben. Mit dieser kann er sich unsichtbar machen, wo und wann er will. Ebendort ist es am Allerseelentage und am Sylvestertage geboten keine Kröten zu todten, weil arme Seelen darin verborgen sind. Man heizt ferner in der Allerseelennacht die Stuben, damit die Seelen, welche sonst die kalte Pein leiden, sich wärmen können, und stellt eine Bank um den Ofen mit Asche bestreut, um am andern Morgen die Spuren der Todten M sehen, die sich gewärmt haben. Auch werden am Tage alle Gräber mit Herbstblu¬ men bekränzt und ein dreimaliger Umzug mit brennenden Kerzen gehalten. Den in Tirol wahrgenommenen Sitten stellt sich der schwäbische Bote's- brauch zur Seite. Es bekränzen an diesem Tage die Frauen die Gräber ihrer Verwandten; der Pfarrer besprengt dieselben mit Weihwasser und die Frauen stellen während des Gottesdienstes ein brennendes Wachslicht darauf. Dies Nervrennen des Wachses wird als eine Art von Opfer, das dem Todten zu Gute kommt, angesehn. In Schwaben, Tirol und in Baiern im Lechrain bäckt man zum Nachtmahl ein eigenthümliches Backwerk, Seelen oder Seel¬ zöpfe, auch Seelstücke genannt. Der Seelenzopf du Lechrain ist ein Gebäck aus Semmelteig, in Form eines Zopfes geflochten und von allen Größen. Es gibt Zöpfe, welche bis drei Schuh lang sind. In Schwaben haben die „Seelen" eine länglichrunde Form und an den Enden zwei kleine Zipfel. Die Ueberreste von diesem Backwerk ließ man in Tirol noch vor wenigen Jahren die Nacht hindurch für die armen Seelen auf dem Tische stehen, damit diese des Nachts kommen und sich laben könnten. Im Lechrain werden auch auf den Altären der Kirche den Verstorbenen Teller mit Mußmehl, Hafer und Korn hingestellt und auf den Seitenaltären jene Seelenzöpfe geopfert. Der Auftrag des Mehles und die Seelenzöpse gehören dem Meßner, und die letztern wer¬ den auch den Taus- uiid Firmpathen als Geschenk an diesem Tage gegeben. Auf dem berühmten Berge an der Wurmlinger Kapelle bei Tübingen wurden, als die Todten nicht mehr kamen, die Siechen stellvertretend an diesem Tage mit Speise und Trank erquickt. Man zog von Tubingen und Rottenburg zu Pferde auf den Berg, hörte in der Kapelle am Grabe des Stifters, eines Grafen von Calw, die Messe und hielt dann ein großes Essen mit dreierlei

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/265
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/265>, abgerufen am 15.01.2025.