Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

"Alles zusammengenommen," sagt Steub sehr richtig-, "scheint es sich zu
bestätigen, daß die ländlichen Tugenden, mit denen uns die Poeten so lange
Zeit am Narrenseil herumgeführt, sich eigentlich in den Städten finden. Es
ist fast zu vermuthen, und in manchen lebt schon jetzt die Ueberzeugung, daß
man am Ende, wenn die Studien geschlossen sind, den verhältnißmäßig besten
Menschen im Mittelstände auffinden wird, im gebildeten Mittelstande, wo,
wenn nicht überflüssiger Reichthum zu Müssiggang und Ueppigkeit führt, eine
würdige Arbeit die Kräfte stählt, ein feiner Sinn für Sitte und Ehre sich
ausbildet und die Tugenden des Hauses.blühen, das die Muse gerne ver¬
schönert."

Das Schulwesen in Altbayern ist äußerlich gut organisirt, aber die Früchte
wollen nicht recht gedeihen. Die jungen Bajuvaren lernen etwas schreiben
und rechnen, aber die Hauptsache ist der Religionsunterricht. Man lehrt sie
in sieben Tempo die heiligen Sacramente und die Todsünden hersagen und
alle Fragen des Katechismus fertig beantworten. Als Pnradepferd werden
bei den Prüfungen auch etliche Seiten bayerische Geschichte vorgeführt. Das
Rädchen schnurrt lustig ab, wie es im Buche steht, aber vou dem Sinn ha¬
ben die Kinder keine Ahnung. Freude an den erworbenen Kentnissen zu erregen,
Einsicht in deren Bedeutung zu schaffen, wird weder erstrebt noch auch ver.
standen. Sowie die Schuljahre daher vorüber, sind ist das erste Geschäft sich
das Gelernte aus dem Kopfe zu schlagen. Es gibt viele Landleute, die nur
noch ihren Namen schreiben und nur zur Noth noch lesen können. Indeß
haben die letzten Jahre und namentlich das Jahr achtundvierzig auch hier
anregend gewirkt. Der verständige Landmann hat eingesehn, daß ihm Wich¬
tiges mangelt. Er kümmert sich um die Fragen der Zeit, liest hie und da
selbst die Zeitung und wird zusehends gescheidter. Bei den Wahlen zum
letzten Landtag, wo es den Sturz des Ministeriums Pfordten-Reigersberg galt,
trat er plötzlich in einer Vollzähligkeit auf den Kampfplatz wie nie zuvor.
Die meisten wußten anch, worum es sich handelte oder trafen doch sonst in
ihres Gefühls dunklem Drange die rechten Männer. Im letzten Frühling
waren sie auch plötzlich alle in die Höhe, als die Oestreicher nach Italien
durchmarschirten. "Ihrem kurzsichtigen Auge war der ganze Streit nichts an¬
deres als ein Kampf der Deutschen gegen die Welschen. Darum alle Liebe
und jedes Opfer für die Gladiatoren, die vorüberzogen mit einem moritui'i
r,v Ls-kulant. Nachher schüttelten sie freilich die Köpfe." Früher spendete der
Bauer manchen Kreuzer sogar für das ferne Schleswig-Holstein. Jetzt denkt
man nicht mehr an die Sache der Herzogtümer, um sich nicht schämen zu
müssen, und insofern war es sehr überflüssig, daß später die bayerische Poli-
zei alle Sammlungen für die unglücklichen Brüder verbot.

Einige Beispiele der Art. wie man hier zu Lande politisire, gibt Steub,


Grenzvotcn IV. 1860. 24

„Alles zusammengenommen,« sagt Steub sehr richtig-, „scheint es sich zu
bestätigen, daß die ländlichen Tugenden, mit denen uns die Poeten so lange
Zeit am Narrenseil herumgeführt, sich eigentlich in den Städten finden. Es
ist fast zu vermuthen, und in manchen lebt schon jetzt die Ueberzeugung, daß
man am Ende, wenn die Studien geschlossen sind, den verhältnißmäßig besten
Menschen im Mittelstände auffinden wird, im gebildeten Mittelstande, wo,
wenn nicht überflüssiger Reichthum zu Müssiggang und Ueppigkeit führt, eine
würdige Arbeit die Kräfte stählt, ein feiner Sinn für Sitte und Ehre sich
ausbildet und die Tugenden des Hauses.blühen, das die Muse gerne ver¬
schönert."

Das Schulwesen in Altbayern ist äußerlich gut organisirt, aber die Früchte
wollen nicht recht gedeihen. Die jungen Bajuvaren lernen etwas schreiben
und rechnen, aber die Hauptsache ist der Religionsunterricht. Man lehrt sie
in sieben Tempo die heiligen Sacramente und die Todsünden hersagen und
alle Fragen des Katechismus fertig beantworten. Als Pnradepferd werden
bei den Prüfungen auch etliche Seiten bayerische Geschichte vorgeführt. Das
Rädchen schnurrt lustig ab, wie es im Buche steht, aber vou dem Sinn ha¬
ben die Kinder keine Ahnung. Freude an den erworbenen Kentnissen zu erregen,
Einsicht in deren Bedeutung zu schaffen, wird weder erstrebt noch auch ver.
standen. Sowie die Schuljahre daher vorüber, sind ist das erste Geschäft sich
das Gelernte aus dem Kopfe zu schlagen. Es gibt viele Landleute, die nur
noch ihren Namen schreiben und nur zur Noth noch lesen können. Indeß
haben die letzten Jahre und namentlich das Jahr achtundvierzig auch hier
anregend gewirkt. Der verständige Landmann hat eingesehn, daß ihm Wich¬
tiges mangelt. Er kümmert sich um die Fragen der Zeit, liest hie und da
selbst die Zeitung und wird zusehends gescheidter. Bei den Wahlen zum
letzten Landtag, wo es den Sturz des Ministeriums Pfordten-Reigersberg galt,
trat er plötzlich in einer Vollzähligkeit auf den Kampfplatz wie nie zuvor.
Die meisten wußten anch, worum es sich handelte oder trafen doch sonst in
ihres Gefühls dunklem Drange die rechten Männer. Im letzten Frühling
waren sie auch plötzlich alle in die Höhe, als die Oestreicher nach Italien
durchmarschirten. „Ihrem kurzsichtigen Auge war der ganze Streit nichts an¬
deres als ein Kampf der Deutschen gegen die Welschen. Darum alle Liebe
und jedes Opfer für die Gladiatoren, die vorüberzogen mit einem moritui'i
r,v Ls-kulant. Nachher schüttelten sie freilich die Köpfe." Früher spendete der
Bauer manchen Kreuzer sogar für das ferne Schleswig-Holstein. Jetzt denkt
man nicht mehr an die Sache der Herzogtümer, um sich nicht schämen zu
müssen, und insofern war es sehr überflüssig, daß später die bayerische Poli-
zei alle Sammlungen für die unglücklichen Brüder verbot.

Einige Beispiele der Art. wie man hier zu Lande politisire, gibt Steub,


Grenzvotcn IV. 1860. 24
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0197" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/110545"/>
          <p xml:id="ID_528"> &#x201E;Alles zusammengenommen,« sagt Steub sehr richtig-, &#x201E;scheint es sich zu<lb/>
bestätigen, daß die ländlichen Tugenden, mit denen uns die Poeten so lange<lb/>
Zeit am Narrenseil herumgeführt, sich eigentlich in den Städten finden. Es<lb/>
ist fast zu vermuthen, und in manchen lebt schon jetzt die Ueberzeugung, daß<lb/>
man am Ende, wenn die Studien geschlossen sind, den verhältnißmäßig besten<lb/>
Menschen im Mittelstände auffinden wird, im gebildeten Mittelstande, wo,<lb/>
wenn nicht überflüssiger Reichthum zu Müssiggang und Ueppigkeit führt, eine<lb/>
würdige Arbeit die Kräfte stählt, ein feiner Sinn für Sitte und Ehre sich<lb/>
ausbildet und die Tugenden des Hauses.blühen, das die Muse gerne ver¬<lb/>
schönert."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_529"> Das Schulwesen in Altbayern ist äußerlich gut organisirt, aber die Früchte<lb/>
wollen nicht recht gedeihen. Die jungen Bajuvaren lernen etwas schreiben<lb/>
und rechnen, aber die Hauptsache ist der Religionsunterricht. Man lehrt sie<lb/>
in sieben Tempo die heiligen Sacramente und die Todsünden hersagen und<lb/>
alle Fragen des Katechismus fertig beantworten. Als Pnradepferd werden<lb/>
bei den Prüfungen auch etliche Seiten bayerische Geschichte vorgeführt. Das<lb/>
Rädchen schnurrt lustig ab, wie es im Buche steht, aber vou dem Sinn ha¬<lb/>
ben die Kinder keine Ahnung. Freude an den erworbenen Kentnissen zu erregen,<lb/>
Einsicht in deren Bedeutung zu schaffen, wird weder erstrebt noch auch ver.<lb/>
standen. Sowie die Schuljahre daher vorüber, sind ist das erste Geschäft sich<lb/>
das Gelernte aus dem Kopfe zu schlagen. Es gibt viele Landleute, die nur<lb/>
noch ihren Namen schreiben und nur zur Noth noch lesen können. Indeß<lb/>
haben die letzten Jahre und namentlich das Jahr achtundvierzig auch hier<lb/>
anregend gewirkt. Der verständige Landmann hat eingesehn, daß ihm Wich¬<lb/>
tiges mangelt. Er kümmert sich um die Fragen der Zeit, liest hie und da<lb/>
selbst die Zeitung und wird zusehends gescheidter. Bei den Wahlen zum<lb/>
letzten Landtag, wo es den Sturz des Ministeriums Pfordten-Reigersberg galt,<lb/>
trat er plötzlich in einer Vollzähligkeit auf den Kampfplatz wie nie zuvor.<lb/>
Die meisten wußten anch, worum es sich handelte oder trafen doch sonst in<lb/>
ihres Gefühls dunklem Drange die rechten Männer. Im letzten Frühling<lb/>
waren sie auch plötzlich alle in die Höhe, als die Oestreicher nach Italien<lb/>
durchmarschirten. &#x201E;Ihrem kurzsichtigen Auge war der ganze Streit nichts an¬<lb/>
deres als ein Kampf der Deutschen gegen die Welschen. Darum alle Liebe<lb/>
und jedes Opfer für die Gladiatoren, die vorüberzogen mit einem moritui'i<lb/>
r,v Ls-kulant. Nachher schüttelten sie freilich die Köpfe." Früher spendete der<lb/>
Bauer manchen Kreuzer sogar für das ferne Schleswig-Holstein. Jetzt denkt<lb/>
man nicht mehr an die Sache der Herzogtümer, um sich nicht schämen zu<lb/>
müssen, und insofern war es sehr überflüssig, daß später die bayerische Poli-<lb/>
zei alle Sammlungen für die unglücklichen Brüder verbot.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_530" next="#ID_531"> Einige Beispiele der Art. wie man hier zu Lande politisire, gibt Steub,</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzvotcn IV. 1860. 24</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0197] „Alles zusammengenommen,« sagt Steub sehr richtig-, „scheint es sich zu bestätigen, daß die ländlichen Tugenden, mit denen uns die Poeten so lange Zeit am Narrenseil herumgeführt, sich eigentlich in den Städten finden. Es ist fast zu vermuthen, und in manchen lebt schon jetzt die Ueberzeugung, daß man am Ende, wenn die Studien geschlossen sind, den verhältnißmäßig besten Menschen im Mittelstände auffinden wird, im gebildeten Mittelstande, wo, wenn nicht überflüssiger Reichthum zu Müssiggang und Ueppigkeit führt, eine würdige Arbeit die Kräfte stählt, ein feiner Sinn für Sitte und Ehre sich ausbildet und die Tugenden des Hauses.blühen, das die Muse gerne ver¬ schönert." Das Schulwesen in Altbayern ist äußerlich gut organisirt, aber die Früchte wollen nicht recht gedeihen. Die jungen Bajuvaren lernen etwas schreiben und rechnen, aber die Hauptsache ist der Religionsunterricht. Man lehrt sie in sieben Tempo die heiligen Sacramente und die Todsünden hersagen und alle Fragen des Katechismus fertig beantworten. Als Pnradepferd werden bei den Prüfungen auch etliche Seiten bayerische Geschichte vorgeführt. Das Rädchen schnurrt lustig ab, wie es im Buche steht, aber vou dem Sinn ha¬ ben die Kinder keine Ahnung. Freude an den erworbenen Kentnissen zu erregen, Einsicht in deren Bedeutung zu schaffen, wird weder erstrebt noch auch ver. standen. Sowie die Schuljahre daher vorüber, sind ist das erste Geschäft sich das Gelernte aus dem Kopfe zu schlagen. Es gibt viele Landleute, die nur noch ihren Namen schreiben und nur zur Noth noch lesen können. Indeß haben die letzten Jahre und namentlich das Jahr achtundvierzig auch hier anregend gewirkt. Der verständige Landmann hat eingesehn, daß ihm Wich¬ tiges mangelt. Er kümmert sich um die Fragen der Zeit, liest hie und da selbst die Zeitung und wird zusehends gescheidter. Bei den Wahlen zum letzten Landtag, wo es den Sturz des Ministeriums Pfordten-Reigersberg galt, trat er plötzlich in einer Vollzähligkeit auf den Kampfplatz wie nie zuvor. Die meisten wußten anch, worum es sich handelte oder trafen doch sonst in ihres Gefühls dunklem Drange die rechten Männer. Im letzten Frühling waren sie auch plötzlich alle in die Höhe, als die Oestreicher nach Italien durchmarschirten. „Ihrem kurzsichtigen Auge war der ganze Streit nichts an¬ deres als ein Kampf der Deutschen gegen die Welschen. Darum alle Liebe und jedes Opfer für die Gladiatoren, die vorüberzogen mit einem moritui'i r,v Ls-kulant. Nachher schüttelten sie freilich die Köpfe." Früher spendete der Bauer manchen Kreuzer sogar für das ferne Schleswig-Holstein. Jetzt denkt man nicht mehr an die Sache der Herzogtümer, um sich nicht schämen zu müssen, und insofern war es sehr überflüssig, daß später die bayerische Poli- zei alle Sammlungen für die unglücklichen Brüder verbot. Einige Beispiele der Art. wie man hier zu Lande politisire, gibt Steub, Grenzvotcn IV. 1860. 24

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/197
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/197>, abgerufen am 15.01.2025.