Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Was kann Preußen aus einer Verbindung mit Oestreich und Rußland
für Vortheil gewinnen? Nirgend einen. Beide Kolosse schwanken auf thöner-
nen Füßen, gefährlicher für ihre Alliirten, als für ihre Gegner, beide sind in
einem Auflösungsproceß begriffen, der so gründlich und kläglich ist, wie je eine
politische Zersetzung in einem lebensarmen Staate war. Wo ist in Nußland
ein Heer, welches große Politik unterstützen könnte? Seit vier Jahren konnten
keine Rekruten ausgehoben werden, weil es an Geld fehlte, die Soldaten zu
bezahlen, und an Fähigkeit und gutem Willen der Gutsherren, die Rekruten-
razzia unter den aufsässigen Bauern zu betreiben. Sogar die Garde hat den
Winter über leinen Sold erhalten. I" den Gouvernements aber gährt überall
eine Aufregung des Landvolks, die in nächster Zukunft Empörungen voraus¬
sehen läßt, die Mordanschläge gegen die Personen der Gutsherren werden im-
mer häusiger, die Felder sind in den meisten Gouvernements unvollständig
bebaut, weil die Nobotverweigerung allgemein geworden ist, mehreren derselben
droht nach >,so fruchtbarem Jahre im Winter eine Hungersnoth. Das baare
Geld ist wie in Oestreich aus dem Verkehr geschwunden, der Handel liegt elend
darnieder, Muthlosigkei't und Schrecken sind allgemein. Weiß man das nicht
in Berlin, oder will man es nicht wissen? hat man nur Berichte aus den Sa¬
lons von Petersburg, und keine aus den Provinzen? So klein geworden ist
das ungeheure Nußland, daß es im Fall eines Krieges schwerlich viel mehr
als 100000 Mann über seine Grenzen schicken konnte, auch diese nur mit star¬
ker Anspannung seiner Kräfte. Und welches Jntersse hat Rußland gemeinsam
mit Preußen? Kaum eins, als den Gegensatz gegen Oestreich. Aber aller¬
dings liegt es im höchsten Interesse des Petersburger Cabinets, Preuße" von
einem Bündniß mit England fern zu halten, einem Bündniß, welches mit
einem Mal die Germanen, die politischen Protestanten Europas, zur stärksten
Macht des Erdtheils vereinigen würde. --

Vor Warschau aber liegen die Tage von Coblenz. Dort empfängt der
Regent Preußens die Königin von England. Leider ist es ein kurzer Besuch,
zu kurz für große politische Verabredungen. Demungeachtet hängt viel an
diesen Tagen; die herzlichsten Wünsche der Preußen und Deutschen. die höch¬
sten Interessen der Engländer ersehnen, daß diese Zusammenkunft der beiden
verwandten Souveräne folgenreich sei, und daß sie der Zusammenkunft zu
Warschau ihre Gefahren nehme. Es ist Grund zu der Annahme, daß man
englifcherseits mit vollem Verständniß von der Wichtigkeit des Momentes dort
zusammentreffe. Wir wünschen und hoffen, daß die Preußen die Bedeutung
? dieser Tage nicht weniger hoch fassen.




Was kann Preußen aus einer Verbindung mit Oestreich und Rußland
für Vortheil gewinnen? Nirgend einen. Beide Kolosse schwanken auf thöner-
nen Füßen, gefährlicher für ihre Alliirten, als für ihre Gegner, beide sind in
einem Auflösungsproceß begriffen, der so gründlich und kläglich ist, wie je eine
politische Zersetzung in einem lebensarmen Staate war. Wo ist in Nußland
ein Heer, welches große Politik unterstützen könnte? Seit vier Jahren konnten
keine Rekruten ausgehoben werden, weil es an Geld fehlte, die Soldaten zu
bezahlen, und an Fähigkeit und gutem Willen der Gutsherren, die Rekruten-
razzia unter den aufsässigen Bauern zu betreiben. Sogar die Garde hat den
Winter über leinen Sold erhalten. I» den Gouvernements aber gährt überall
eine Aufregung des Landvolks, die in nächster Zukunft Empörungen voraus¬
sehen läßt, die Mordanschläge gegen die Personen der Gutsherren werden im-
mer häusiger, die Felder sind in den meisten Gouvernements unvollständig
bebaut, weil die Nobotverweigerung allgemein geworden ist, mehreren derselben
droht nach >,so fruchtbarem Jahre im Winter eine Hungersnoth. Das baare
Geld ist wie in Oestreich aus dem Verkehr geschwunden, der Handel liegt elend
darnieder, Muthlosigkei't und Schrecken sind allgemein. Weiß man das nicht
in Berlin, oder will man es nicht wissen? hat man nur Berichte aus den Sa¬
lons von Petersburg, und keine aus den Provinzen? So klein geworden ist
das ungeheure Nußland, daß es im Fall eines Krieges schwerlich viel mehr
als 100000 Mann über seine Grenzen schicken konnte, auch diese nur mit star¬
ker Anspannung seiner Kräfte. Und welches Jntersse hat Rußland gemeinsam
mit Preußen? Kaum eins, als den Gegensatz gegen Oestreich. Aber aller¬
dings liegt es im höchsten Interesse des Petersburger Cabinets, Preuße» von
einem Bündniß mit England fern zu halten, einem Bündniß, welches mit
einem Mal die Germanen, die politischen Protestanten Europas, zur stärksten
Macht des Erdtheils vereinigen würde. —

Vor Warschau aber liegen die Tage von Coblenz. Dort empfängt der
Regent Preußens die Königin von England. Leider ist es ein kurzer Besuch,
zu kurz für große politische Verabredungen. Demungeachtet hängt viel an
diesen Tagen; die herzlichsten Wünsche der Preußen und Deutschen. die höch¬
sten Interessen der Engländer ersehnen, daß diese Zusammenkunft der beiden
verwandten Souveräne folgenreich sei, und daß sie der Zusammenkunft zu
Warschau ihre Gefahren nehme. Es ist Grund zu der Annahme, daß man
englifcherseits mit vollem Verständniß von der Wichtigkeit des Momentes dort
zusammentreffe. Wir wünschen und hoffen, daß die Preußen die Bedeutung
? dieser Tage nicht weniger hoch fassen.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0131" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/110479"/>
          <p xml:id="ID_335"> Was kann Preußen aus einer Verbindung mit Oestreich und Rußland<lb/>
für Vortheil gewinnen? Nirgend einen. Beide Kolosse schwanken auf thöner-<lb/>
nen Füßen, gefährlicher für ihre Alliirten, als für ihre Gegner, beide sind in<lb/>
einem Auflösungsproceß begriffen, der so gründlich und kläglich ist, wie je eine<lb/>
politische Zersetzung in einem lebensarmen Staate war. Wo ist in Nußland<lb/>
ein Heer, welches große Politik unterstützen könnte? Seit vier Jahren konnten<lb/>
keine Rekruten ausgehoben werden, weil es an Geld fehlte, die Soldaten zu<lb/>
bezahlen, und an Fähigkeit und gutem Willen der Gutsherren, die Rekruten-<lb/>
razzia unter den aufsässigen Bauern zu betreiben. Sogar die Garde hat den<lb/>
Winter über leinen Sold erhalten. I» den Gouvernements aber gährt überall<lb/>
eine Aufregung des Landvolks, die in nächster Zukunft Empörungen voraus¬<lb/>
sehen läßt, die Mordanschläge gegen die Personen der Gutsherren werden im-<lb/>
mer häusiger, die Felder sind in den meisten Gouvernements unvollständig<lb/>
bebaut, weil die Nobotverweigerung allgemein geworden ist, mehreren derselben<lb/>
droht nach &gt;,so fruchtbarem Jahre im Winter eine Hungersnoth. Das baare<lb/>
Geld ist wie in Oestreich aus dem Verkehr geschwunden, der Handel liegt elend<lb/>
darnieder, Muthlosigkei't und Schrecken sind allgemein. Weiß man das nicht<lb/>
in Berlin, oder will man es nicht wissen? hat man nur Berichte aus den Sa¬<lb/>
lons von Petersburg, und keine aus den Provinzen? So klein geworden ist<lb/>
das ungeheure Nußland, daß es im Fall eines Krieges schwerlich viel mehr<lb/>
als 100000 Mann über seine Grenzen schicken konnte, auch diese nur mit star¬<lb/>
ker Anspannung seiner Kräfte. Und welches Jntersse hat Rußland gemeinsam<lb/>
mit Preußen? Kaum eins, als den Gegensatz gegen Oestreich. Aber aller¬<lb/>
dings liegt es im höchsten Interesse des Petersburger Cabinets, Preuße» von<lb/>
einem Bündniß mit England fern zu halten, einem Bündniß, welches mit<lb/>
einem Mal die Germanen, die politischen Protestanten Europas, zur stärksten<lb/>
Macht des Erdtheils vereinigen würde. &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_336"> Vor Warschau aber liegen die Tage von Coblenz. Dort empfängt der<lb/>
Regent Preußens die Königin von England. Leider ist es ein kurzer Besuch,<lb/>
zu kurz für große politische Verabredungen. Demungeachtet hängt viel an<lb/>
diesen Tagen; die herzlichsten Wünsche der Preußen und Deutschen. die höch¬<lb/>
sten Interessen der Engländer ersehnen, daß diese Zusammenkunft der beiden<lb/>
verwandten Souveräne folgenreich sei, und daß sie der Zusammenkunft zu<lb/>
Warschau ihre Gefahren nehme. Es ist Grund zu der Annahme, daß man<lb/>
englifcherseits mit vollem Verständniß von der Wichtigkeit des Momentes dort<lb/>
zusammentreffe. Wir wünschen und hoffen, daß die Preußen die Bedeutung<lb/><note type="byline"> ?</note> dieser Tage nicht weniger hoch fassen. </p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0131] Was kann Preußen aus einer Verbindung mit Oestreich und Rußland für Vortheil gewinnen? Nirgend einen. Beide Kolosse schwanken auf thöner- nen Füßen, gefährlicher für ihre Alliirten, als für ihre Gegner, beide sind in einem Auflösungsproceß begriffen, der so gründlich und kläglich ist, wie je eine politische Zersetzung in einem lebensarmen Staate war. Wo ist in Nußland ein Heer, welches große Politik unterstützen könnte? Seit vier Jahren konnten keine Rekruten ausgehoben werden, weil es an Geld fehlte, die Soldaten zu bezahlen, und an Fähigkeit und gutem Willen der Gutsherren, die Rekruten- razzia unter den aufsässigen Bauern zu betreiben. Sogar die Garde hat den Winter über leinen Sold erhalten. I» den Gouvernements aber gährt überall eine Aufregung des Landvolks, die in nächster Zukunft Empörungen voraus¬ sehen läßt, die Mordanschläge gegen die Personen der Gutsherren werden im- mer häusiger, die Felder sind in den meisten Gouvernements unvollständig bebaut, weil die Nobotverweigerung allgemein geworden ist, mehreren derselben droht nach >,so fruchtbarem Jahre im Winter eine Hungersnoth. Das baare Geld ist wie in Oestreich aus dem Verkehr geschwunden, der Handel liegt elend darnieder, Muthlosigkei't und Schrecken sind allgemein. Weiß man das nicht in Berlin, oder will man es nicht wissen? hat man nur Berichte aus den Sa¬ lons von Petersburg, und keine aus den Provinzen? So klein geworden ist das ungeheure Nußland, daß es im Fall eines Krieges schwerlich viel mehr als 100000 Mann über seine Grenzen schicken konnte, auch diese nur mit star¬ ker Anspannung seiner Kräfte. Und welches Jntersse hat Rußland gemeinsam mit Preußen? Kaum eins, als den Gegensatz gegen Oestreich. Aber aller¬ dings liegt es im höchsten Interesse des Petersburger Cabinets, Preuße» von einem Bündniß mit England fern zu halten, einem Bündniß, welches mit einem Mal die Germanen, die politischen Protestanten Europas, zur stärksten Macht des Erdtheils vereinigen würde. — Vor Warschau aber liegen die Tage von Coblenz. Dort empfängt der Regent Preußens die Königin von England. Leider ist es ein kurzer Besuch, zu kurz für große politische Verabredungen. Demungeachtet hängt viel an diesen Tagen; die herzlichsten Wünsche der Preußen und Deutschen. die höch¬ sten Interessen der Engländer ersehnen, daß diese Zusammenkunft der beiden verwandten Souveräne folgenreich sei, und daß sie der Zusammenkunft zu Warschau ihre Gefahren nehme. Es ist Grund zu der Annahme, daß man englifcherseits mit vollem Verständniß von der Wichtigkeit des Momentes dort zusammentreffe. Wir wünschen und hoffen, daß die Preußen die Bedeutung ? dieser Tage nicht weniger hoch fassen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/131
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/131>, abgerufen am 15.01.2025.