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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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Partei; er hatte das Glück, daß einige falsche Züge Garibaldis seinen gefähr¬
lichsten Feind dämpften. Er steht jetzt in der italienischen Sache unantastbar
und lauernd. Zwei Fälle aber darf er voraussetzen.

Entweder die Großmächte Preußen und Rußland folgen dem Beispiele
Englands und lassen unter denselben Bedingungen die italienische Bewegung
gewähren. Dann ist auch ihm der Friede geboten, und er hat spätre Zeit
zu erwarten, wo der Auflösungsproceß in Oestreich größere Dimensionen an¬
nimmt und Sardiniens Selbstgefühl und Heereskraft so doch schwillt, daß es
eincy Angriff auf Venetien unternimmt. Diesen Ausgang scheint man in
Berlin im nächsten Frühjahr zu erwarten, und man scheint eine geheime Ver¬
abredung Napoleons mit Sardinien zu fürchten, derzufolge Napoleon gegen den
Rhein losbrechen werde. Aber falls solche Annahme besteht, sie hat sicher
nicht genügenden realen Grund. Man ist in Piemont nicht so sehr französisch,
um zu verkennen, daß bei solchem Angriffe vielleicht ein Vortheil für Frank¬
reich, keiner für Sardinien resultiren werde. Das piemontesische Heer ist noch
lange nicht dem östreichischen gewachsen; durch die neuen Organisationen und
seine Verdoppelung seit dem Frieden von Villafranca ist seine Tüchtigkeit zur
Zeit nicht gesteigert, sondern verringert; und es ist nicht anzunehmen, daß die
neuen Haufen, welche aus Mittelitalien und Neapel zuströmen, im Zeitraume
eines halben Jahres in feldtüchtige Truppen umgewandelt werden können.
In der That wird Neapel und Mittelitolicn die Kraft Victor Emanuels in
der nächsten Zeit so sehr in Anspruch nehmen, daß er einen neuen, großen
Krieg vermeiden wird, wenn nicht die letzte Nothwendigkeit dazu zwingt. Und
selbst gesetzt, daß ein Aufstand in Ungarn die östreichische Macht so beschäf¬
tigte, daß Sardinien der italienischen Armee Oestreichs überlegen wäre, selbst
in diesem Falle wäre ein großer Krieg mit französischem Bündniß noch be¬
denklich. Denn wenn der Bundesgenosse nicht am Rhein eine Entschädigung
für aufgewandte Mühe findet, so wird er seine Auslagen sicher dem italieni¬
schen Geschäftsfreund berechnen, und es wäre für Sardinien ein schlechter
moralischer Gewinn, seine Inseln aufzugeben, um Venetien zu behaupten.
So ist ein -- nicht provocirter -- Angriffskrieg Sardiniens auf Venetien
schwerlich zu besorgen.

Dagegen hat der Kaiser mehr Aussicht, daß Oestreich sich bestimmen läßt.
Sardinien anzugreifen. Ohne Zweifel ist dies geheimer Wunsch des Kaisers,
ja er hat in seiner officiellen Drohnote an Sardinien das wiener Cabinet fast
dazu eingeladen. Auch in diesem Falle sind seine Schachzüge mit einiger
Wahrscheinlichkeit vorauszusehn. Er wird, im Fall Preußen eine unangreif¬
bare Neutralität beobachten sollte, die Sardinier erst in Lebensgefahr kommen
lassen und dann den Flehenden seine Hilfe gegen gute Zahlung leisten.
Lieber aber wird er. wenn wir ihn recht beurtheilen, in solchem Falle ein


Partei; er hatte das Glück, daß einige falsche Züge Garibaldis seinen gefähr¬
lichsten Feind dämpften. Er steht jetzt in der italienischen Sache unantastbar
und lauernd. Zwei Fälle aber darf er voraussetzen.

Entweder die Großmächte Preußen und Rußland folgen dem Beispiele
Englands und lassen unter denselben Bedingungen die italienische Bewegung
gewähren. Dann ist auch ihm der Friede geboten, und er hat spätre Zeit
zu erwarten, wo der Auflösungsproceß in Oestreich größere Dimensionen an¬
nimmt und Sardiniens Selbstgefühl und Heereskraft so doch schwillt, daß es
eincy Angriff auf Venetien unternimmt. Diesen Ausgang scheint man in
Berlin im nächsten Frühjahr zu erwarten, und man scheint eine geheime Ver¬
abredung Napoleons mit Sardinien zu fürchten, derzufolge Napoleon gegen den
Rhein losbrechen werde. Aber falls solche Annahme besteht, sie hat sicher
nicht genügenden realen Grund. Man ist in Piemont nicht so sehr französisch,
um zu verkennen, daß bei solchem Angriffe vielleicht ein Vortheil für Frank¬
reich, keiner für Sardinien resultiren werde. Das piemontesische Heer ist noch
lange nicht dem östreichischen gewachsen; durch die neuen Organisationen und
seine Verdoppelung seit dem Frieden von Villafranca ist seine Tüchtigkeit zur
Zeit nicht gesteigert, sondern verringert; und es ist nicht anzunehmen, daß die
neuen Haufen, welche aus Mittelitalien und Neapel zuströmen, im Zeitraume
eines halben Jahres in feldtüchtige Truppen umgewandelt werden können.
In der That wird Neapel und Mittelitolicn die Kraft Victor Emanuels in
der nächsten Zeit so sehr in Anspruch nehmen, daß er einen neuen, großen
Krieg vermeiden wird, wenn nicht die letzte Nothwendigkeit dazu zwingt. Und
selbst gesetzt, daß ein Aufstand in Ungarn die östreichische Macht so beschäf¬
tigte, daß Sardinien der italienischen Armee Oestreichs überlegen wäre, selbst
in diesem Falle wäre ein großer Krieg mit französischem Bündniß noch be¬
denklich. Denn wenn der Bundesgenosse nicht am Rhein eine Entschädigung
für aufgewandte Mühe findet, so wird er seine Auslagen sicher dem italieni¬
schen Geschäftsfreund berechnen, und es wäre für Sardinien ein schlechter
moralischer Gewinn, seine Inseln aufzugeben, um Venetien zu behaupten.
So ist ein — nicht provocirter — Angriffskrieg Sardiniens auf Venetien
schwerlich zu besorgen.

Dagegen hat der Kaiser mehr Aussicht, daß Oestreich sich bestimmen läßt.
Sardinien anzugreifen. Ohne Zweifel ist dies geheimer Wunsch des Kaisers,
ja er hat in seiner officiellen Drohnote an Sardinien das wiener Cabinet fast
dazu eingeladen. Auch in diesem Falle sind seine Schachzüge mit einiger
Wahrscheinlichkeit vorauszusehn. Er wird, im Fall Preußen eine unangreif¬
bare Neutralität beobachten sollte, die Sardinier erst in Lebensgefahr kommen
lassen und dann den Flehenden seine Hilfe gegen gute Zahlung leisten.
Lieber aber wird er. wenn wir ihn recht beurtheilen, in solchem Falle ein


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[0129] Partei; er hatte das Glück, daß einige falsche Züge Garibaldis seinen gefähr¬ lichsten Feind dämpften. Er steht jetzt in der italienischen Sache unantastbar und lauernd. Zwei Fälle aber darf er voraussetzen. Entweder die Großmächte Preußen und Rußland folgen dem Beispiele Englands und lassen unter denselben Bedingungen die italienische Bewegung gewähren. Dann ist auch ihm der Friede geboten, und er hat spätre Zeit zu erwarten, wo der Auflösungsproceß in Oestreich größere Dimensionen an¬ nimmt und Sardiniens Selbstgefühl und Heereskraft so doch schwillt, daß es eincy Angriff auf Venetien unternimmt. Diesen Ausgang scheint man in Berlin im nächsten Frühjahr zu erwarten, und man scheint eine geheime Ver¬ abredung Napoleons mit Sardinien zu fürchten, derzufolge Napoleon gegen den Rhein losbrechen werde. Aber falls solche Annahme besteht, sie hat sicher nicht genügenden realen Grund. Man ist in Piemont nicht so sehr französisch, um zu verkennen, daß bei solchem Angriffe vielleicht ein Vortheil für Frank¬ reich, keiner für Sardinien resultiren werde. Das piemontesische Heer ist noch lange nicht dem östreichischen gewachsen; durch die neuen Organisationen und seine Verdoppelung seit dem Frieden von Villafranca ist seine Tüchtigkeit zur Zeit nicht gesteigert, sondern verringert; und es ist nicht anzunehmen, daß die neuen Haufen, welche aus Mittelitalien und Neapel zuströmen, im Zeitraume eines halben Jahres in feldtüchtige Truppen umgewandelt werden können. In der That wird Neapel und Mittelitolicn die Kraft Victor Emanuels in der nächsten Zeit so sehr in Anspruch nehmen, daß er einen neuen, großen Krieg vermeiden wird, wenn nicht die letzte Nothwendigkeit dazu zwingt. Und selbst gesetzt, daß ein Aufstand in Ungarn die östreichische Macht so beschäf¬ tigte, daß Sardinien der italienischen Armee Oestreichs überlegen wäre, selbst in diesem Falle wäre ein großer Krieg mit französischem Bündniß noch be¬ denklich. Denn wenn der Bundesgenosse nicht am Rhein eine Entschädigung für aufgewandte Mühe findet, so wird er seine Auslagen sicher dem italieni¬ schen Geschäftsfreund berechnen, und es wäre für Sardinien ein schlechter moralischer Gewinn, seine Inseln aufzugeben, um Venetien zu behaupten. So ist ein — nicht provocirter — Angriffskrieg Sardiniens auf Venetien schwerlich zu besorgen. Dagegen hat der Kaiser mehr Aussicht, daß Oestreich sich bestimmen läßt. Sardinien anzugreifen. Ohne Zweifel ist dies geheimer Wunsch des Kaisers, ja er hat in seiner officiellen Drohnote an Sardinien das wiener Cabinet fast dazu eingeladen. Auch in diesem Falle sind seine Schachzüge mit einiger Wahrscheinlichkeit vorauszusehn. Er wird, im Fall Preußen eine unangreif¬ bare Neutralität beobachten sollte, die Sardinier erst in Lebensgefahr kommen lassen und dann den Flehenden seine Hilfe gegen gute Zahlung leisten. Lieber aber wird er. wenn wir ihn recht beurtheilen, in solchem Falle ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/129>, abgerufen am 15.01.2025.