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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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zu ihnen übertrat, sehr geehrt wurde. Ihr Gottesdienst war so eingerichtet,
daß sie zuerst aus einen, mystischen Gesangbuch i"Davidsches Psalterspiel der
Kinder Zions in alten und neuen auserlesenen Geistesgcsängcn" 1729) ein
Lied sangen, und dann des Herrn harrcten, der Einen nach dem Andern von
ihnen ergriff und ihn zu einem lauteir Gebet veranlaßte. "Ich muß gestehn.
daß ich in meinem Leben nie elender, abgeschmackter und kraftloser beten
hören, als unter diesen begeisterten Brüdern. Namentlich der Vorsteher
brachte nichts anders zu Stande als einen stammelnden Wiederhall der ge¬
meinen lutherischen Wiedergebornen, nämlich daß er ein armer Sünder sei,
der des Ruhmes mangele, den er vor Gott haben sollte, und der nichts desto
weniger sich anmaßte für andere arme Sünder zu bitten, daß sie Gott auch
zu einem solchen Thoren machen möchte wie er einer wart" "Man muß sich
nicht einbilden, daß diese Leute über den Text, den sie erklären sollten, erst
vorher meditirt hätten; das hielten sie für babylonische Gaukelpossen; sie er¬
warteten, was ihnen der Geist auszusprechen geben würde, wenn sie sich auf
den Lehnestuhl würden gesetzt haben. -- Ich zwang mich, dieser kraft- und
saftlosen Zeuge Geschmack abzugewinnen, und weil mir meine Brüder zu
versteh" gaben, daß man, um die Kraft des Geistes Gottes recht zu empfin¬
den, immer einfältiger werden und sich von aller Schulgelehrsamkeit ausleeren
müßte, so bemühte ich mich, nachdem ich freilich wenig Trostreiches in meiner
Schulweisheit fand, im rechten Ernst diese heilige Einfalt zu lernen, und ich
muß sagen, daß die Zeit, die ich bei den Jnspirirten zugebracht, die einfäl¬
tigste in meinem ganzen Leben gewesen. Denn bei den großen Sekten finden
die Sinne und die Phantasie noch immer etwas Angenehmes und nicht selten
wird auch das Herz gerührt. In den Versammlungen der Jnspirirten fand
ich nichts dergleichen."

Drei Wochen hatte er sich zu den Jnspirirten gehalten, als der Besuch
des großen Propheten angekündigt wurde. Dieser Prophet war der Hofsattler
Rock, Sohn eines Predigers im Würtembergischen, geb. 1678. Er hatte schon
als Kind mancherlei Rührungen und wurde in Berlin als Sattlergeselle durch
eine Krankheit zu dem ernstlichen Vorsatz gebracht, dem weltlichen Sinn zu
entsagen. Als er 1702 nach Stuttgart zurückkam, war dort eine sonderliche
Erweckung. Die Despotie der Prediger führte zum Separatismus und 1707
zur Landesverweisung, Rock wurde gräflicher Hossattler in Marienbom, von
hier ging er ins Jsenburgische und erhielt um Weihnacht 1714 die Gabe der
Inspiration, die ihm bis an sein Ende, 5. Febr. 1749, verblieb.

Die Inspiration bestand darin, daß er in Convulsionen verfiel und in
diesem Zustand allerhand unzusammenhängende Worte ausstieß.' die von den
Gemeindemitgliedern eifrig niedergeschrieben wurden. Wenn sich die Schreiber
über ihre Texte nicht vereinigen konnten, so konnte der Streit nicht anders


zu ihnen übertrat, sehr geehrt wurde. Ihr Gottesdienst war so eingerichtet,
daß sie zuerst aus einen, mystischen Gesangbuch i„Davidsches Psalterspiel der
Kinder Zions in alten und neuen auserlesenen Geistesgcsängcn" 1729) ein
Lied sangen, und dann des Herrn harrcten, der Einen nach dem Andern von
ihnen ergriff und ihn zu einem lauteir Gebet veranlaßte. „Ich muß gestehn.
daß ich in meinem Leben nie elender, abgeschmackter und kraftloser beten
hören, als unter diesen begeisterten Brüdern. Namentlich der Vorsteher
brachte nichts anders zu Stande als einen stammelnden Wiederhall der ge¬
meinen lutherischen Wiedergebornen, nämlich daß er ein armer Sünder sei,
der des Ruhmes mangele, den er vor Gott haben sollte, und der nichts desto
weniger sich anmaßte für andere arme Sünder zu bitten, daß sie Gott auch
zu einem solchen Thoren machen möchte wie er einer wart" „Man muß sich
nicht einbilden, daß diese Leute über den Text, den sie erklären sollten, erst
vorher meditirt hätten; das hielten sie für babylonische Gaukelpossen; sie er¬
warteten, was ihnen der Geist auszusprechen geben würde, wenn sie sich auf
den Lehnestuhl würden gesetzt haben. — Ich zwang mich, dieser kraft- und
saftlosen Zeuge Geschmack abzugewinnen, und weil mir meine Brüder zu
versteh» gaben, daß man, um die Kraft des Geistes Gottes recht zu empfin¬
den, immer einfältiger werden und sich von aller Schulgelehrsamkeit ausleeren
müßte, so bemühte ich mich, nachdem ich freilich wenig Trostreiches in meiner
Schulweisheit fand, im rechten Ernst diese heilige Einfalt zu lernen, und ich
muß sagen, daß die Zeit, die ich bei den Jnspirirten zugebracht, die einfäl¬
tigste in meinem ganzen Leben gewesen. Denn bei den großen Sekten finden
die Sinne und die Phantasie noch immer etwas Angenehmes und nicht selten
wird auch das Herz gerührt. In den Versammlungen der Jnspirirten fand
ich nichts dergleichen."

Drei Wochen hatte er sich zu den Jnspirirten gehalten, als der Besuch
des großen Propheten angekündigt wurde. Dieser Prophet war der Hofsattler
Rock, Sohn eines Predigers im Würtembergischen, geb. 1678. Er hatte schon
als Kind mancherlei Rührungen und wurde in Berlin als Sattlergeselle durch
eine Krankheit zu dem ernstlichen Vorsatz gebracht, dem weltlichen Sinn zu
entsagen. Als er 1702 nach Stuttgart zurückkam, war dort eine sonderliche
Erweckung. Die Despotie der Prediger führte zum Separatismus und 1707
zur Landesverweisung, Rock wurde gräflicher Hossattler in Marienbom, von
hier ging er ins Jsenburgische und erhielt um Weihnacht 1714 die Gabe der
Inspiration, die ihm bis an sein Ende, 5. Febr. 1749, verblieb.

Die Inspiration bestand darin, daß er in Convulsionen verfiel und in
diesem Zustand allerhand unzusammenhängende Worte ausstieß.' die von den
Gemeindemitgliedern eifrig niedergeschrieben wurden. Wenn sich die Schreiber
über ihre Texte nicht vereinigen konnten, so konnte der Streit nicht anders


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[0482] zu ihnen übertrat, sehr geehrt wurde. Ihr Gottesdienst war so eingerichtet, daß sie zuerst aus einen, mystischen Gesangbuch i„Davidsches Psalterspiel der Kinder Zions in alten und neuen auserlesenen Geistesgcsängcn" 1729) ein Lied sangen, und dann des Herrn harrcten, der Einen nach dem Andern von ihnen ergriff und ihn zu einem lauteir Gebet veranlaßte. „Ich muß gestehn. daß ich in meinem Leben nie elender, abgeschmackter und kraftloser beten hören, als unter diesen begeisterten Brüdern. Namentlich der Vorsteher brachte nichts anders zu Stande als einen stammelnden Wiederhall der ge¬ meinen lutherischen Wiedergebornen, nämlich daß er ein armer Sünder sei, der des Ruhmes mangele, den er vor Gott haben sollte, und der nichts desto weniger sich anmaßte für andere arme Sünder zu bitten, daß sie Gott auch zu einem solchen Thoren machen möchte wie er einer wart" „Man muß sich nicht einbilden, daß diese Leute über den Text, den sie erklären sollten, erst vorher meditirt hätten; das hielten sie für babylonische Gaukelpossen; sie er¬ warteten, was ihnen der Geist auszusprechen geben würde, wenn sie sich auf den Lehnestuhl würden gesetzt haben. — Ich zwang mich, dieser kraft- und saftlosen Zeuge Geschmack abzugewinnen, und weil mir meine Brüder zu versteh» gaben, daß man, um die Kraft des Geistes Gottes recht zu empfin¬ den, immer einfältiger werden und sich von aller Schulgelehrsamkeit ausleeren müßte, so bemühte ich mich, nachdem ich freilich wenig Trostreiches in meiner Schulweisheit fand, im rechten Ernst diese heilige Einfalt zu lernen, und ich muß sagen, daß die Zeit, die ich bei den Jnspirirten zugebracht, die einfäl¬ tigste in meinem ganzen Leben gewesen. Denn bei den großen Sekten finden die Sinne und die Phantasie noch immer etwas Angenehmes und nicht selten wird auch das Herz gerührt. In den Versammlungen der Jnspirirten fand ich nichts dergleichen." Drei Wochen hatte er sich zu den Jnspirirten gehalten, als der Besuch des großen Propheten angekündigt wurde. Dieser Prophet war der Hofsattler Rock, Sohn eines Predigers im Würtembergischen, geb. 1678. Er hatte schon als Kind mancherlei Rührungen und wurde in Berlin als Sattlergeselle durch eine Krankheit zu dem ernstlichen Vorsatz gebracht, dem weltlichen Sinn zu entsagen. Als er 1702 nach Stuttgart zurückkam, war dort eine sonderliche Erweckung. Die Despotie der Prediger führte zum Separatismus und 1707 zur Landesverweisung, Rock wurde gräflicher Hossattler in Marienbom, von hier ging er ins Jsenburgische und erhielt um Weihnacht 1714 die Gabe der Inspiration, die ihm bis an sein Ende, 5. Febr. 1749, verblieb. Die Inspiration bestand darin, daß er in Convulsionen verfiel und in diesem Zustand allerhand unzusammenhängende Worte ausstieß.' die von den Gemeindemitgliedern eifrig niedergeschrieben wurden. Wenn sich die Schreiber über ihre Texte nicht vereinigen konnten, so konnte der Streit nicht anders

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/482>, abgerufen am 25.07.2024.