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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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gen König der Ehren! anstimmte. In Berleburg schloß er nun mit Hang
einen vollständigen Contract: er sollte ihn nicht blos bei dem Bibelwerk, son¬
dern auch bei der Historie der Wiedergcbornen unterstützen. Der Uebelstand
war, daß er bei dieser Gelegenheit ärgere Ausfälle gegen die herrschende Or¬
thodoxie vorbrachte als den Freunden zweckmäßig schien; er mußte sich daher
gefallen lassen, daß sie einen großen Theil davon wieder ausstrichen. Dasselbe
war der Fall in seinem elften und zwölften Stück der "unschuldigen Wahrheiten",
in welchen er gegen das Sacrament des Abendmals zu Felde zog. Namentlich
erregte der Ausdruck "Götterfresserei" starken Anstoß, und sein unruhiges Stre¬
ben, ein Märtyrer zu werden, wurde von den Brüdern nicht getheilt. Doch
dauerte das Verhältniß ein ganzes Jahr fort.

Die Gegend wimmelte von Sekten aller Art. Eine derselben, die An¬
hänger der Madame Guyon, wohnte etwa zwei Meilen von Berleburg und
bestand hauptsächlich aus einigen adeligen Familien. "Diese hatten nun zwar
nichts von äußerlichen Gewirke, sondern jchienen die Menschen nur in sich
selbst in die Stille zu führen, von dem Geräusch der Sinnen und Affecte auf
eine Zeitlang auszuruhn und sie auf die in ihnen redende Stimme Gottes
aufmerksam zu machen. Wenn das nun auf eine freie Art geschehn wäre, so
würde diese Uebung nicht ohne Nutzen gewesen sein; aber da sich die armen
Leute täglich eine gewisse Stunde bestimmten, in welcher sie auf des H. v.
Marsay Stube zusammenkamen, und ohne ein Wort zu sprechen, bis zum Ver¬
lauf der Stunde nur stille vor sich weghaben, bisweilen um nicht einzuschlafen
die Augen verdrehten und heimliche Seufzer hören ließen, auch während die¬
ses' selbsterwählten Stillschweigens nichts andres in sich hören durften, als was
alle armen Sünder laut bekennen, nämlich daß sie arme, verdorbene und zu
allem Guten untüchtige Creaturen wären, so konnte auch aus dieser geistlichen
Uebung weiter nichts herauskommen, als daß die armen Leute blieben, wie
sie waren, und doch dabei Wunder dachten, was sie vor Andern voraus hätten.
Ich war in ihren heiligen Augen ein sehr kleines Lichtlein, und ich that Alles,
was ich konnte, mir selber kleiner zu scheinen, als mich mein Schöpfer gemacht
hatte. In der That hatte ich noch wenig Erfahrung in Ansehung solcher
besondern Wege, deswegen paßte ich auf ein jedes Irrlicht, das außer mir
nur Halbwege etwas blinkend erschien, mehr als auf das Licht, das mir Gott
selber in meinem Inwendigen verliehn. Dieses mußte ich für das Allerver-
dächtigste halten, und was war es da Wunder, wenn mich die Flatterlichter
außer mir aus einem Irrthum in den andern führten, und mich mir selber je
länger, je unbekannter machten. Zwar ließ ich nichts an mir fehlen, in mich
selbst zu gehn, und hielt deswegen die Stunden des Gott gewidmeten Still¬
schweigens ebenso fleißig mit als die andern: aber weil ich nicht allein die
Brillen nicht wegwerfen durfte, durch welche mich andere arme Sünder sehn


gen König der Ehren! anstimmte. In Berleburg schloß er nun mit Hang
einen vollständigen Contract: er sollte ihn nicht blos bei dem Bibelwerk, son¬
dern auch bei der Historie der Wiedergcbornen unterstützen. Der Uebelstand
war, daß er bei dieser Gelegenheit ärgere Ausfälle gegen die herrschende Or¬
thodoxie vorbrachte als den Freunden zweckmäßig schien; er mußte sich daher
gefallen lassen, daß sie einen großen Theil davon wieder ausstrichen. Dasselbe
war der Fall in seinem elften und zwölften Stück der „unschuldigen Wahrheiten",
in welchen er gegen das Sacrament des Abendmals zu Felde zog. Namentlich
erregte der Ausdruck „Götterfresserei" starken Anstoß, und sein unruhiges Stre¬
ben, ein Märtyrer zu werden, wurde von den Brüdern nicht getheilt. Doch
dauerte das Verhältniß ein ganzes Jahr fort.

Die Gegend wimmelte von Sekten aller Art. Eine derselben, die An¬
hänger der Madame Guyon, wohnte etwa zwei Meilen von Berleburg und
bestand hauptsächlich aus einigen adeligen Familien. „Diese hatten nun zwar
nichts von äußerlichen Gewirke, sondern jchienen die Menschen nur in sich
selbst in die Stille zu führen, von dem Geräusch der Sinnen und Affecte auf
eine Zeitlang auszuruhn und sie auf die in ihnen redende Stimme Gottes
aufmerksam zu machen. Wenn das nun auf eine freie Art geschehn wäre, so
würde diese Uebung nicht ohne Nutzen gewesen sein; aber da sich die armen
Leute täglich eine gewisse Stunde bestimmten, in welcher sie auf des H. v.
Marsay Stube zusammenkamen, und ohne ein Wort zu sprechen, bis zum Ver¬
lauf der Stunde nur stille vor sich weghaben, bisweilen um nicht einzuschlafen
die Augen verdrehten und heimliche Seufzer hören ließen, auch während die¬
ses' selbsterwählten Stillschweigens nichts andres in sich hören durften, als was
alle armen Sünder laut bekennen, nämlich daß sie arme, verdorbene und zu
allem Guten untüchtige Creaturen wären, so konnte auch aus dieser geistlichen
Uebung weiter nichts herauskommen, als daß die armen Leute blieben, wie
sie waren, und doch dabei Wunder dachten, was sie vor Andern voraus hätten.
Ich war in ihren heiligen Augen ein sehr kleines Lichtlein, und ich that Alles,
was ich konnte, mir selber kleiner zu scheinen, als mich mein Schöpfer gemacht
hatte. In der That hatte ich noch wenig Erfahrung in Ansehung solcher
besondern Wege, deswegen paßte ich auf ein jedes Irrlicht, das außer mir
nur Halbwege etwas blinkend erschien, mehr als auf das Licht, das mir Gott
selber in meinem Inwendigen verliehn. Dieses mußte ich für das Allerver-
dächtigste halten, und was war es da Wunder, wenn mich die Flatterlichter
außer mir aus einem Irrthum in den andern führten, und mich mir selber je
länger, je unbekannter machten. Zwar ließ ich nichts an mir fehlen, in mich
selbst zu gehn, und hielt deswegen die Stunden des Gott gewidmeten Still¬
schweigens ebenso fleißig mit als die andern: aber weil ich nicht allein die
Brillen nicht wegwerfen durfte, durch welche mich andere arme Sünder sehn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/480>, abgerufen am 25.07.2024.