Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

im katholischen Lande ihm keine Versorgung geben, und so nahm er im März
1728 suum Abschied und trat eine neue Stelle in Wien an.

Hier kam er in eine ganz andere Atmosphäre. Seine Vorgänger, Pietisten
aus Halle, hatten seinen Patron völlig bekehrt. "Sie hatten dem armen Mann
einen so erschrecklichen Gott in seine Phantasie gesetzt und ihn hingegen so
abscheulich elend, unvermögend und zu allem Guten untüchtig abgemalt, daß
es kein Wunder war, wenn er nach der Redlichkeit seines Herzens, deren er
sich bewußt war, und nach welcher er keinen Menschen, geschweige Gott zu
beleidigen im Sinn hatte, an sich selber irre werden mußte. Er that alles,
was er konnte, sich der "sündlichen Gedanken", die ihm wider seinen Willen
aufstiegen, zu entschlagen, und er konnte sich derselben doch nicht erwehren.
Auf der einen Seite war er sich bewußt, daß er es redlich mit Gott meine;
aus der andern mußte er seinem eignen Gefühl zuwider das Gegentheil glauben,
und sich einbilden, daß sein Dichten und Trachten von Jugend auf immerdar
böse sei, und durfte doch Gott nicht förmlich die Schuld geben, daß er ihn in
einem so elenden Zustand hatte wollen geboren werden lassen. Ob diese Ge¬
danken nicht fähig sind, ein armes Gemüth, das es redlich meint, und sich
aus dem Wirrwarr nicht zu helfen weiß, in die äußerste Verzweiflung zu
bringen, wird einer, der nur ein wenig vor dieser Hölle gewesen, sonder Zwang
gestehn. Von den leidigen Tröstern wird alles auf den Teufel geschoben, und
dieser muß auf sich nehmen, was seine finstern Patrone verdorben haben. Blie¬
ben sie den Leuten mit ihrem Geschwätz von einer ohne Schuld verderbten Natur
Und von einem deswegen erzürnten Gott vom Leibe, so wollte ich den Teufel
wol sehn, der von Natur gute Gemüther in so trostlose Umstände sollte ver¬
setzen können, als ich diesen ehrlichen Mann gesehn. Er war keiner recht fröh¬
lichen Stunde fähig, und sein Temperament inclinirte doch zur Fröhlichkeit:
weil er aber nach der halleschen Theologie glauben mußte, daß alle Fröhlich¬
keit Sünde sei, so durste er nicht fröhlich sein. Inzwischen wäre er's doch
gerne gewesen, wenn er nicht Gott zu beleidigen geglaubt hätte. Deswegen
pflegte er die Worte: er gebe uns ein fröhlich Herz u. s. w. bei den gewöhn¬
lichen Tischgebeten allemal mit der größten Inbrunst und thränenvolkn Augen zu
beten, wie er sich denn überhaupt mit dem Gebet dergestalt zu martern gelernt
hatte, daß er, oft zwei Stunden auf den Knien liegend, und Gott fast alle Augen¬
blicke vorwerfend, daß er ihn aus sündlichen Samen habe wollen erzeugt und
in Sünden empfangen und geboren werden lassen, um Gnade und Vergebung
seiner Sünden flehte, daß rhin der Angstschweiß vom Gesicht herablief. Das
seltsamste war, daß man ihm nichts von der unermeßlichen Liebe Gottes gegen
sure Geschöpfe vorsagen durfte, das hielt er für den größten Leichtsinn, und
^ war der nächste Weg, sein Vertrauen gänzlich zu verscherzen; hingegen wer


im katholischen Lande ihm keine Versorgung geben, und so nahm er im März
1728 suum Abschied und trat eine neue Stelle in Wien an.

Hier kam er in eine ganz andere Atmosphäre. Seine Vorgänger, Pietisten
aus Halle, hatten seinen Patron völlig bekehrt. „Sie hatten dem armen Mann
einen so erschrecklichen Gott in seine Phantasie gesetzt und ihn hingegen so
abscheulich elend, unvermögend und zu allem Guten untüchtig abgemalt, daß
es kein Wunder war, wenn er nach der Redlichkeit seines Herzens, deren er
sich bewußt war, und nach welcher er keinen Menschen, geschweige Gott zu
beleidigen im Sinn hatte, an sich selber irre werden mußte. Er that alles,
was er konnte, sich der „sündlichen Gedanken", die ihm wider seinen Willen
aufstiegen, zu entschlagen, und er konnte sich derselben doch nicht erwehren.
Auf der einen Seite war er sich bewußt, daß er es redlich mit Gott meine;
aus der andern mußte er seinem eignen Gefühl zuwider das Gegentheil glauben,
und sich einbilden, daß sein Dichten und Trachten von Jugend auf immerdar
böse sei, und durfte doch Gott nicht förmlich die Schuld geben, daß er ihn in
einem so elenden Zustand hatte wollen geboren werden lassen. Ob diese Ge¬
danken nicht fähig sind, ein armes Gemüth, das es redlich meint, und sich
aus dem Wirrwarr nicht zu helfen weiß, in die äußerste Verzweiflung zu
bringen, wird einer, der nur ein wenig vor dieser Hölle gewesen, sonder Zwang
gestehn. Von den leidigen Tröstern wird alles auf den Teufel geschoben, und
dieser muß auf sich nehmen, was seine finstern Patrone verdorben haben. Blie¬
ben sie den Leuten mit ihrem Geschwätz von einer ohne Schuld verderbten Natur
Und von einem deswegen erzürnten Gott vom Leibe, so wollte ich den Teufel
wol sehn, der von Natur gute Gemüther in so trostlose Umstände sollte ver¬
setzen können, als ich diesen ehrlichen Mann gesehn. Er war keiner recht fröh¬
lichen Stunde fähig, und sein Temperament inclinirte doch zur Fröhlichkeit:
weil er aber nach der halleschen Theologie glauben mußte, daß alle Fröhlich¬
keit Sünde sei, so durste er nicht fröhlich sein. Inzwischen wäre er's doch
gerne gewesen, wenn er nicht Gott zu beleidigen geglaubt hätte. Deswegen
pflegte er die Worte: er gebe uns ein fröhlich Herz u. s. w. bei den gewöhn¬
lichen Tischgebeten allemal mit der größten Inbrunst und thränenvolkn Augen zu
beten, wie er sich denn überhaupt mit dem Gebet dergestalt zu martern gelernt
hatte, daß er, oft zwei Stunden auf den Knien liegend, und Gott fast alle Augen¬
blicke vorwerfend, daß er ihn aus sündlichen Samen habe wollen erzeugt und
in Sünden empfangen und geboren werden lassen, um Gnade und Vergebung
seiner Sünden flehte, daß rhin der Angstschweiß vom Gesicht herablief. Das
seltsamste war, daß man ihm nichts von der unermeßlichen Liebe Gottes gegen
sure Geschöpfe vorsagen durfte, das hielt er für den größten Leichtsinn, und
^ war der nächste Weg, sein Vertrauen gänzlich zu verscherzen; hingegen wer


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0475" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/110281"/>
          <p xml:id="ID_1432" prev="#ID_1431"> im katholischen Lande ihm keine Versorgung geben, und so nahm er im März<lb/>
1728 suum Abschied und trat eine neue Stelle in Wien an.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1433" next="#ID_1434"> Hier kam er in eine ganz andere Atmosphäre. Seine Vorgänger, Pietisten<lb/>
aus Halle, hatten seinen Patron völlig bekehrt. &#x201E;Sie hatten dem armen Mann<lb/>
einen so erschrecklichen Gott in seine Phantasie gesetzt und ihn hingegen so<lb/>
abscheulich elend, unvermögend und zu allem Guten untüchtig abgemalt, daß<lb/>
es kein Wunder war, wenn er nach der Redlichkeit seines Herzens, deren er<lb/>
sich bewußt war, und nach welcher er keinen Menschen, geschweige Gott zu<lb/>
beleidigen im Sinn hatte, an sich selber irre werden mußte. Er that alles,<lb/>
was er konnte, sich der &#x201E;sündlichen Gedanken", die ihm wider seinen Willen<lb/>
aufstiegen, zu entschlagen, und er konnte sich derselben doch nicht erwehren.<lb/>
Auf der einen Seite war er sich bewußt, daß er es redlich mit Gott meine;<lb/>
aus der andern mußte er seinem eignen Gefühl zuwider das Gegentheil glauben,<lb/>
und sich einbilden, daß sein Dichten und Trachten von Jugend auf immerdar<lb/>
böse sei, und durfte doch Gott nicht förmlich die Schuld geben, daß er ihn in<lb/>
einem so elenden Zustand hatte wollen geboren werden lassen. Ob diese Ge¬<lb/>
danken nicht fähig sind, ein armes Gemüth, das es redlich meint, und sich<lb/>
aus dem Wirrwarr nicht zu helfen weiß, in die äußerste Verzweiflung zu<lb/>
bringen, wird einer, der nur ein wenig vor dieser Hölle gewesen, sonder Zwang<lb/>
gestehn. Von den leidigen Tröstern wird alles auf den Teufel geschoben, und<lb/>
dieser muß auf sich nehmen, was seine finstern Patrone verdorben haben. Blie¬<lb/>
ben sie den Leuten mit ihrem Geschwätz von einer ohne Schuld verderbten Natur<lb/>
Und von einem deswegen erzürnten Gott vom Leibe, so wollte ich den Teufel<lb/>
wol sehn, der von Natur gute Gemüther in so trostlose Umstände sollte ver¬<lb/>
setzen können, als ich diesen ehrlichen Mann gesehn. Er war keiner recht fröh¬<lb/>
lichen Stunde fähig, und sein Temperament inclinirte doch zur Fröhlichkeit:<lb/>
weil er aber nach der halleschen Theologie glauben mußte, daß alle Fröhlich¬<lb/>
keit Sünde sei, so durste er nicht fröhlich sein. Inzwischen wäre er's doch<lb/>
gerne gewesen, wenn er nicht Gott zu beleidigen geglaubt hätte. Deswegen<lb/>
pflegte er die Worte: er gebe uns ein fröhlich Herz u. s. w. bei den gewöhn¬<lb/>
lichen Tischgebeten allemal mit der größten Inbrunst und thränenvolkn Augen zu<lb/>
beten, wie er sich denn überhaupt mit dem Gebet dergestalt zu martern gelernt<lb/>
hatte, daß er, oft zwei Stunden auf den Knien liegend, und Gott fast alle Augen¬<lb/>
blicke vorwerfend, daß er ihn aus sündlichen Samen habe wollen erzeugt und<lb/>
in Sünden empfangen und geboren werden lassen, um Gnade und Vergebung<lb/>
seiner Sünden flehte, daß rhin der Angstschweiß vom Gesicht herablief. Das<lb/>
seltsamste war, daß man ihm nichts von der unermeßlichen Liebe Gottes gegen<lb/>
sure Geschöpfe vorsagen durfte, das hielt er für den größten Leichtsinn, und<lb/>
^ war der nächste Weg, sein Vertrauen gänzlich zu verscherzen; hingegen wer</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0475] im katholischen Lande ihm keine Versorgung geben, und so nahm er im März 1728 suum Abschied und trat eine neue Stelle in Wien an. Hier kam er in eine ganz andere Atmosphäre. Seine Vorgänger, Pietisten aus Halle, hatten seinen Patron völlig bekehrt. „Sie hatten dem armen Mann einen so erschrecklichen Gott in seine Phantasie gesetzt und ihn hingegen so abscheulich elend, unvermögend und zu allem Guten untüchtig abgemalt, daß es kein Wunder war, wenn er nach der Redlichkeit seines Herzens, deren er sich bewußt war, und nach welcher er keinen Menschen, geschweige Gott zu beleidigen im Sinn hatte, an sich selber irre werden mußte. Er that alles, was er konnte, sich der „sündlichen Gedanken", die ihm wider seinen Willen aufstiegen, zu entschlagen, und er konnte sich derselben doch nicht erwehren. Auf der einen Seite war er sich bewußt, daß er es redlich mit Gott meine; aus der andern mußte er seinem eignen Gefühl zuwider das Gegentheil glauben, und sich einbilden, daß sein Dichten und Trachten von Jugend auf immerdar böse sei, und durfte doch Gott nicht förmlich die Schuld geben, daß er ihn in einem so elenden Zustand hatte wollen geboren werden lassen. Ob diese Ge¬ danken nicht fähig sind, ein armes Gemüth, das es redlich meint, und sich aus dem Wirrwarr nicht zu helfen weiß, in die äußerste Verzweiflung zu bringen, wird einer, der nur ein wenig vor dieser Hölle gewesen, sonder Zwang gestehn. Von den leidigen Tröstern wird alles auf den Teufel geschoben, und dieser muß auf sich nehmen, was seine finstern Patrone verdorben haben. Blie¬ ben sie den Leuten mit ihrem Geschwätz von einer ohne Schuld verderbten Natur Und von einem deswegen erzürnten Gott vom Leibe, so wollte ich den Teufel wol sehn, der von Natur gute Gemüther in so trostlose Umstände sollte ver¬ setzen können, als ich diesen ehrlichen Mann gesehn. Er war keiner recht fröh¬ lichen Stunde fähig, und sein Temperament inclinirte doch zur Fröhlichkeit: weil er aber nach der halleschen Theologie glauben mußte, daß alle Fröhlich¬ keit Sünde sei, so durste er nicht fröhlich sein. Inzwischen wäre er's doch gerne gewesen, wenn er nicht Gott zu beleidigen geglaubt hätte. Deswegen pflegte er die Worte: er gebe uns ein fröhlich Herz u. s. w. bei den gewöhn¬ lichen Tischgebeten allemal mit der größten Inbrunst und thränenvolkn Augen zu beten, wie er sich denn überhaupt mit dem Gebet dergestalt zu martern gelernt hatte, daß er, oft zwei Stunden auf den Knien liegend, und Gott fast alle Augen¬ blicke vorwerfend, daß er ihn aus sündlichen Samen habe wollen erzeugt und in Sünden empfangen und geboren werden lassen, um Gnade und Vergebung seiner Sünden flehte, daß rhin der Angstschweiß vom Gesicht herablief. Das seltsamste war, daß man ihm nichts von der unermeßlichen Liebe Gottes gegen sure Geschöpfe vorsagen durfte, das hielt er für den größten Leichtsinn, und ^ war der nächste Weg, sein Vertrauen gänzlich zu verscherzen; hingegen wer

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/475
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/475>, abgerufen am 25.07.2024.