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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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nicht wußten, was ich nachgerade schon wieder zu vergessen anfing." Die Um¬
stände seines Vaters nöthigten ihn. bald bei dem einen bald bei dem andern
seiner Verwandten eine Zuflucht zu suchen und die Schulzeit bis zu seinem
22. Jahr auszudehnen. Er besuchte nach einander die Gymnasien von Lau¬
ten, Altenburg und Weißenfels. Ueberall wurde er mit sehr guten Zeug¬
nissen entlassen. Abgesehn von den gewöhnlichen Schulgegenständen, machte
er sehr geläufige deutsche Verse, war in Disputationen gefürchtet und hatte
sich aus alleu möglichen Dingen eine große Collectanecnsammlung ange¬
fertigt.

So kam er mit einem ziemlich starken Begriff von seiner Gelehrsamkeit,
aber nur mit 20 Gulden in der Tasche, den 29. April 1720 nach der Univer-
sität Jena. Sieben Stunden hörte er täglich Collegia, außerdem mußte er sich
seinen dürftigen Unterhalt durch Privatstunden verdienen. In der Theologie
schloß er sich am engsten an Buddeus und dessen Schwiegersohn Walch an,
die in dem Streit zwischen Orthodoxen und Pietisten die rechte Mitte ein¬
nahmen. In der Dogmatik wurde er sehr stark, im Hebräischen und Griechi¬
schen brachte er es nicht weit, dagegen warf er sich aufs Französische. Die
Kirche zu besuchen, war auf der orthodoxen Universität nicht Sitte; an dem
wilden Leben der Studenten, das gegen Ende seiner Universitätszeit eine
gewaltsame Störung erlitt, nahm er keinen Theil; seine Vergnügungen be¬
schränkte" sich darauf, daß er sehr eifrig L'hombre spielte. Einigemal versuchte
er zu predigen, merkte aber, daß ihm die Gabe der Improvisation abging
und daß er alles sorgfältig einstudiren müsse. Von Zweifeln scheint er nicht
heimgesucht zu sein, er folgte seinem Lehrer aufs Wort, predigte gelegentlich
gegen die Ketzer und fand Wolf, mit welchem Buddeus und Walch 1724 in
einen lebhaften Federkrieg geriethen, ebenso langweilig als ketzerisch. Er scheint
nicht viel darin gelesen zu haben.

Nachdem er im Sept. 1724 die Universität verlassen hatte und in Eise¬
nach examinirt war, erhielt er 14. März 1725 auf Buddeus Empfehlung eine
Hauslehrerstelle in Niederöstreich bei einem lutherischen Grafen Kornfeil.
Schon die Reise durch das katholische Süddeutschland erweiterte seine Begriffe
im hohen Grade; nebenbei wurde er dadurch beschämt, daß unterwegs alle
Kellner ein besseres Französisch sprachen als er. Sein neuer Aufenthalt war
sehr angenehm, er führte ein lustiges Leben, ging viel auf die Jagd, besuchte
die umliegenden Klöster, disputirte mit den Mönchen, lachte über ihre Unwissen¬
heit und zechte mit ihnen, denn sie waren nichts weniger als intolerant.
Einigemal war er mit seiner Herrschaft zu längeren Besuchen in Ungarn. Von
seiner geistigen Entwicklung ist in dieser Periode nichts zu berichten, und er
würde in diesen harmlosen Zuständen noch länger verweilt haben, wenn es
ihm nicht eingefallen wäre, an seine Zukunft zu denken. Sein Herr konnte


nicht wußten, was ich nachgerade schon wieder zu vergessen anfing." Die Um¬
stände seines Vaters nöthigten ihn. bald bei dem einen bald bei dem andern
seiner Verwandten eine Zuflucht zu suchen und die Schulzeit bis zu seinem
22. Jahr auszudehnen. Er besuchte nach einander die Gymnasien von Lau¬
ten, Altenburg und Weißenfels. Ueberall wurde er mit sehr guten Zeug¬
nissen entlassen. Abgesehn von den gewöhnlichen Schulgegenständen, machte
er sehr geläufige deutsche Verse, war in Disputationen gefürchtet und hatte
sich aus alleu möglichen Dingen eine große Collectanecnsammlung ange¬
fertigt.

So kam er mit einem ziemlich starken Begriff von seiner Gelehrsamkeit,
aber nur mit 20 Gulden in der Tasche, den 29. April 1720 nach der Univer-
sität Jena. Sieben Stunden hörte er täglich Collegia, außerdem mußte er sich
seinen dürftigen Unterhalt durch Privatstunden verdienen. In der Theologie
schloß er sich am engsten an Buddeus und dessen Schwiegersohn Walch an,
die in dem Streit zwischen Orthodoxen und Pietisten die rechte Mitte ein¬
nahmen. In der Dogmatik wurde er sehr stark, im Hebräischen und Griechi¬
schen brachte er es nicht weit, dagegen warf er sich aufs Französische. Die
Kirche zu besuchen, war auf der orthodoxen Universität nicht Sitte; an dem
wilden Leben der Studenten, das gegen Ende seiner Universitätszeit eine
gewaltsame Störung erlitt, nahm er keinen Theil; seine Vergnügungen be¬
schränkte» sich darauf, daß er sehr eifrig L'hombre spielte. Einigemal versuchte
er zu predigen, merkte aber, daß ihm die Gabe der Improvisation abging
und daß er alles sorgfältig einstudiren müsse. Von Zweifeln scheint er nicht
heimgesucht zu sein, er folgte seinem Lehrer aufs Wort, predigte gelegentlich
gegen die Ketzer und fand Wolf, mit welchem Buddeus und Walch 1724 in
einen lebhaften Federkrieg geriethen, ebenso langweilig als ketzerisch. Er scheint
nicht viel darin gelesen zu haben.

Nachdem er im Sept. 1724 die Universität verlassen hatte und in Eise¬
nach examinirt war, erhielt er 14. März 1725 auf Buddeus Empfehlung eine
Hauslehrerstelle in Niederöstreich bei einem lutherischen Grafen Kornfeil.
Schon die Reise durch das katholische Süddeutschland erweiterte seine Begriffe
im hohen Grade; nebenbei wurde er dadurch beschämt, daß unterwegs alle
Kellner ein besseres Französisch sprachen als er. Sein neuer Aufenthalt war
sehr angenehm, er führte ein lustiges Leben, ging viel auf die Jagd, besuchte
die umliegenden Klöster, disputirte mit den Mönchen, lachte über ihre Unwissen¬
heit und zechte mit ihnen, denn sie waren nichts weniger als intolerant.
Einigemal war er mit seiner Herrschaft zu längeren Besuchen in Ungarn. Von
seiner geistigen Entwicklung ist in dieser Periode nichts zu berichten, und er
würde in diesen harmlosen Zuständen noch länger verweilt haben, wenn es
ihm nicht eingefallen wäre, an seine Zukunft zu denken. Sein Herr konnte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/474>, abgerufen am 25.07.2024.