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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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Vielleicht am deutlichsten tritt uns dieses unerfreuliche Wesen vor Augen,
wenn wir unsre Blicke auf das richten, was auf der italienischen Halbinsel
geschieht, und uns dann zu dem wenden, was auf der cimbrischen unterblieben
ist. Während dort der Nationalitätsgedanke mit dem legitimen Recht um¬
springt, als ob es nicht mehr vorhanden wäre, geschieht hier, wo das Interesse
und der Wunsch des Volks mit dem besten alten Recht Hand in Hand geht,
soviel wie nichts, um die Fußtritte zurückzuweisen, die man unsern Hoffnungen
und unsrer Ehre versetzt. Die Italiener haben in den letzten zehn Jahren
Fortschritte gemacht. Auch wir haben, so sagt ^man uns, Fortschritte gemacht.
Aber der Fortschritt scheint ein verschiedner zu sein: jene wurden beherzter,
wir nur vorsichtiger oder, um mit der Eschenheimer Gasse zu reden, correcter.
Beide Tugenden haben ihre Früchte getragen: dort hat sich der "Schmerzens-
schrei" in Siegesjubel verwandelt; hier antwortet man ihm mit Vertröstungen,
die mit ihren Hintergedanken und Verclausulirungen wie Anweisungen aus den
Sanct Nimmerstag klingen. Dort ist der erste Act der Verwirklichung des natio¬
nalen Gedankens trotz aller Bedenken, die in der Mißgunst zweier benachbarter
Großmächte, in der Unverletzlichkeit des der ganzen katholischen Welt gehörenden
Erbtheils Petri, in mancherlei particularistischen Ueberlieferungen unter der
Bevölkerung den Leitern der Bewegung vor Augen traten, nahezu vollendet;
hier -- nun wir alle wissen ja, daß Schleswig-Holstein für unsre hohe Politik
noch eine begrabne Phantasie, das londoner Protokoll noch bindendes Gesetz,
die Schlacht bei Jdstedt noch nicht wett gemacht, der traurige von Oestreich
gebotne Friede noch nicht gekündigt ist, daß der Danebrog noch vor den Thoren
Hamburgs weht, und daß die Vorsicht des Bundestags, trotz aller Winkelzüge
und Herausforderungen von Seiten Dänemarks, denen soeben erst in dem ohne
vorgüngige Genehmigung der holsteinischen Stände erlassenen Finanzgesetz für
1860--61 eine neue hinzugefügt wurde, sich bis diese Stunde noch nickt ein¬
mal veranlaßt gesehn hat, über die holsteimlaucnburgische Regierung die
Execution zu verhängen. Wir alle wissen, daß die Lostrennung Schleswigs
von Holstein bis auf die letzten Fasern, daß die faktische Einverleibung Schles¬
wigs in. das Königreich Dänemark von Jahr zu Jahr eifriger und gewalt¬
samer betrieben wurde, ohne daß sich unter denen, die hier als Schirmherren
hätten auftreten müssen, auch nur eine Feder, geschweige denn ein Schwert
gerührt hätte.

Herr v. Schleinitz hat in der jüngsten Zeit dem dänischen Cabinet auf
eine anmaßende Note in einer unter Diplomaten nicht gebräuchlichen, unzwei¬
deutigen Sprache in Betreff Schleswigs die Wahrheit gesagt. Wir haben
seine Depesche mit Befriedigung einregistrirt, eine Forderung war nicht damit
verbunden. Der Däne hat sie vermuthlich zu den Stößen früher eingegang-
ncr, correcter gefaßter Acten über diese Angelegenheit gelegt. Den Schles-


Vielleicht am deutlichsten tritt uns dieses unerfreuliche Wesen vor Augen,
wenn wir unsre Blicke auf das richten, was auf der italienischen Halbinsel
geschieht, und uns dann zu dem wenden, was auf der cimbrischen unterblieben
ist. Während dort der Nationalitätsgedanke mit dem legitimen Recht um¬
springt, als ob es nicht mehr vorhanden wäre, geschieht hier, wo das Interesse
und der Wunsch des Volks mit dem besten alten Recht Hand in Hand geht,
soviel wie nichts, um die Fußtritte zurückzuweisen, die man unsern Hoffnungen
und unsrer Ehre versetzt. Die Italiener haben in den letzten zehn Jahren
Fortschritte gemacht. Auch wir haben, so sagt ^man uns, Fortschritte gemacht.
Aber der Fortschritt scheint ein verschiedner zu sein: jene wurden beherzter,
wir nur vorsichtiger oder, um mit der Eschenheimer Gasse zu reden, correcter.
Beide Tugenden haben ihre Früchte getragen: dort hat sich der „Schmerzens-
schrei" in Siegesjubel verwandelt; hier antwortet man ihm mit Vertröstungen,
die mit ihren Hintergedanken und Verclausulirungen wie Anweisungen aus den
Sanct Nimmerstag klingen. Dort ist der erste Act der Verwirklichung des natio¬
nalen Gedankens trotz aller Bedenken, die in der Mißgunst zweier benachbarter
Großmächte, in der Unverletzlichkeit des der ganzen katholischen Welt gehörenden
Erbtheils Petri, in mancherlei particularistischen Ueberlieferungen unter der
Bevölkerung den Leitern der Bewegung vor Augen traten, nahezu vollendet;
hier — nun wir alle wissen ja, daß Schleswig-Holstein für unsre hohe Politik
noch eine begrabne Phantasie, das londoner Protokoll noch bindendes Gesetz,
die Schlacht bei Jdstedt noch nicht wett gemacht, der traurige von Oestreich
gebotne Friede noch nicht gekündigt ist, daß der Danebrog noch vor den Thoren
Hamburgs weht, und daß die Vorsicht des Bundestags, trotz aller Winkelzüge
und Herausforderungen von Seiten Dänemarks, denen soeben erst in dem ohne
vorgüngige Genehmigung der holsteinischen Stände erlassenen Finanzgesetz für
1860—61 eine neue hinzugefügt wurde, sich bis diese Stunde noch nickt ein¬
mal veranlaßt gesehn hat, über die holsteimlaucnburgische Regierung die
Execution zu verhängen. Wir alle wissen, daß die Lostrennung Schleswigs
von Holstein bis auf die letzten Fasern, daß die faktische Einverleibung Schles¬
wigs in. das Königreich Dänemark von Jahr zu Jahr eifriger und gewalt¬
samer betrieben wurde, ohne daß sich unter denen, die hier als Schirmherren
hätten auftreten müssen, auch nur eine Feder, geschweige denn ein Schwert
gerührt hätte.

Herr v. Schleinitz hat in der jüngsten Zeit dem dänischen Cabinet auf
eine anmaßende Note in einer unter Diplomaten nicht gebräuchlichen, unzwei¬
deutigen Sprache in Betreff Schleswigs die Wahrheit gesagt. Wir haben
seine Depesche mit Befriedigung einregistrirt, eine Forderung war nicht damit
verbunden. Der Däne hat sie vermuthlich zu den Stößen früher eingegang-
ncr, correcter gefaßter Acten über diese Angelegenheit gelegt. Den Schles-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/454>, abgerufen am 24.07.2024.