Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.Schranke zu entledigen, und nun das souveräne Volk eine noch schärfere Polizei Schranke zu entledigen, und nun das souveräne Volk eine noch schärfere Polizei <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0378" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/110184"/> <p xml:id="ID_1103" prev="#ID_1102" next="#ID_1104"> Schranke zu entledigen, und nun das souveräne Volk eine noch schärfere Polizei<lb/> über sich selbst durch unbeschränkte Ausübung des Anklagercchtcs zu üben be¬<lb/> gann, zeigte es sich, daß die allgemeine Entsittlichung schon zu weit vorge¬<lb/> schritten war, als daß diese auf die sittliche Tüchtigkeit und politische Tugend<lb/> des Einzelnen basirte Einrichtung auf die Dauer einen gedeihlichen Zustand<lb/> hätte begründen können. Es bildete sich nun ein System der Angeberei und<lb/> Inquisition aus und das ränkesüchtige, giftige Gezücht der Sykophanten<lb/> (eigentlich: „Feigenangeber," wahrscheinlich in Zusammenhang mit einem alten<lb/> Ausfuhrverbot) wucherte empor, von dem Demosthenes treffend sagt: „Ein<lb/> solcher Mensch schleicht über den Markt wie eine Schlange oder ein Skorpion,<lb/> der seinen Stachel in die Höhe gehoben hat und ihn bewegend umher schaut,<lb/> wo er jemandem Unheil bereiten oder Lästerungen über einen ausschütten könne,<lb/> oder wie er jemandem Furcht einjagen und dadurch sich Geld erpressen möge.<lb/> Als unversöhnlicher Menschenfeind bleibt er fern von den Verbindungen der<lb/> Freundschaft und Liebe; aber wie die Maler die Umgebung der Gottlosen in<lb/> der Unterwelt abbilden, so sind auch in seinem Gefolge Verleumdung, Neid,<lb/> Zwietracht, Hader und Fluch." Da die Hälfte von dem, was die Verurtheilten<lb/> als Buße verloren, dem Angeber zufiel, so ward dies ein Sporn zu rastloser<lb/> Thätigkeit. Bedeutende und vermögende Leute sahen sich genöthigt ihnen zu<lb/> schmeicheln und reichliche Geldopfer zu bringen, oder wie Kriton, der Freund<lb/> des Sokrates that, einen Sykophanten gegen die andern in Sold zu nehmen,<lb/> „als einen Wächter für sich, wie er für seine Heerde Hunde halte gegen die<lb/> Wölfe." „So lange ich reich war, sagt Charmides bei Xenophon, „lebte ich<lb/> stets in Furcht vor Einbruch und Sykophanten; seitdem ich arm bin. schlafe<lb/> ich ganz ruhig." Der reiche Feldherr Niklas löste sich von seinen Verfolgern<lb/> mit hundert Thalern und wurde deshalb viel verspottet. Durch dieselben Mittel<lb/> schützte sich der Redner Lykurg; er entschuldigte es damit, daß er sagte, sür<lb/> einen Staatsmann sei es ehrenvoller zu geben, als zu nehmen. Zwar bestand<lb/> ein Gesetz, nach welchem jeder Ankläger, der nicht den fünften Theil der Rich-<lb/> tcrstimmen erhielt^ in eine Geldstrafe von 250 Thlr. verfiel; allein die Syko¬<lb/> phanten wußten sich durch allerhand Ausflüchte zu decken, und so wurde der<lb/> Wunsch, den der Redner Andokidcs aussprach und Tausende mit ihm theilten,<lb/> das Vaterland von diesem Uebel befreit zu sehn, nie erfüllt. Noch Aristoteles<lb/> schrieb scherzend aus Euböa an den mazedonischen Reichsverweser Antipater:<lb/> er möge nicht in jener Stadt bleiben, wo wie im Garten des homerischen<lb/> Phäakenkönigs Alkinous „Feige bei Feige" stünde; und unter der römischen<lb/> Herrschaft trieben die Angeber noch frech ihr Handwerk, ja die geheimen Spione<lb/> der MömerZ ertrugen es leicht, daß die Griechen sie wie Unreine mieden und<lb/> laut verhöhnten. — Eine förmlich eingerichtete geheime Polizei hat es wol<lb/> nirgend in den griechischen Staaten gegeben. Auch das Briefgeheimniß blieb</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0378]
Schranke zu entledigen, und nun das souveräne Volk eine noch schärfere Polizei
über sich selbst durch unbeschränkte Ausübung des Anklagercchtcs zu üben be¬
gann, zeigte es sich, daß die allgemeine Entsittlichung schon zu weit vorge¬
schritten war, als daß diese auf die sittliche Tüchtigkeit und politische Tugend
des Einzelnen basirte Einrichtung auf die Dauer einen gedeihlichen Zustand
hätte begründen können. Es bildete sich nun ein System der Angeberei und
Inquisition aus und das ränkesüchtige, giftige Gezücht der Sykophanten
(eigentlich: „Feigenangeber," wahrscheinlich in Zusammenhang mit einem alten
Ausfuhrverbot) wucherte empor, von dem Demosthenes treffend sagt: „Ein
solcher Mensch schleicht über den Markt wie eine Schlange oder ein Skorpion,
der seinen Stachel in die Höhe gehoben hat und ihn bewegend umher schaut,
wo er jemandem Unheil bereiten oder Lästerungen über einen ausschütten könne,
oder wie er jemandem Furcht einjagen und dadurch sich Geld erpressen möge.
Als unversöhnlicher Menschenfeind bleibt er fern von den Verbindungen der
Freundschaft und Liebe; aber wie die Maler die Umgebung der Gottlosen in
der Unterwelt abbilden, so sind auch in seinem Gefolge Verleumdung, Neid,
Zwietracht, Hader und Fluch." Da die Hälfte von dem, was die Verurtheilten
als Buße verloren, dem Angeber zufiel, so ward dies ein Sporn zu rastloser
Thätigkeit. Bedeutende und vermögende Leute sahen sich genöthigt ihnen zu
schmeicheln und reichliche Geldopfer zu bringen, oder wie Kriton, der Freund
des Sokrates that, einen Sykophanten gegen die andern in Sold zu nehmen,
„als einen Wächter für sich, wie er für seine Heerde Hunde halte gegen die
Wölfe." „So lange ich reich war, sagt Charmides bei Xenophon, „lebte ich
stets in Furcht vor Einbruch und Sykophanten; seitdem ich arm bin. schlafe
ich ganz ruhig." Der reiche Feldherr Niklas löste sich von seinen Verfolgern
mit hundert Thalern und wurde deshalb viel verspottet. Durch dieselben Mittel
schützte sich der Redner Lykurg; er entschuldigte es damit, daß er sagte, sür
einen Staatsmann sei es ehrenvoller zu geben, als zu nehmen. Zwar bestand
ein Gesetz, nach welchem jeder Ankläger, der nicht den fünften Theil der Rich-
tcrstimmen erhielt^ in eine Geldstrafe von 250 Thlr. verfiel; allein die Syko¬
phanten wußten sich durch allerhand Ausflüchte zu decken, und so wurde der
Wunsch, den der Redner Andokidcs aussprach und Tausende mit ihm theilten,
das Vaterland von diesem Uebel befreit zu sehn, nie erfüllt. Noch Aristoteles
schrieb scherzend aus Euböa an den mazedonischen Reichsverweser Antipater:
er möge nicht in jener Stadt bleiben, wo wie im Garten des homerischen
Phäakenkönigs Alkinous „Feige bei Feige" stünde; und unter der römischen
Herrschaft trieben die Angeber noch frech ihr Handwerk, ja die geheimen Spione
der MömerZ ertrugen es leicht, daß die Griechen sie wie Unreine mieden und
laut verhöhnten. — Eine förmlich eingerichtete geheime Polizei hat es wol
nirgend in den griechischen Staaten gegeben. Auch das Briefgeheimniß blieb
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