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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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des Atheismus angeklagt, weil er die Sonne für eine feurige Masse erklärt
hatte und zuerst die Idee eines von der Materie gesonderten Weltgeistes lehrte,
konnte ebenfalls nur durch Verwendung des Perikles vom Tode gerettet werden
und wurde um fünf Talente und mit Verbannung bestraft. Der Freigeist
Diagoras erregte durch schonungslose Angriffe aus die Volksreligion den Un¬
willen der Athener in so hohem Grade, daß er aus Athen fliehen mußte, wo
auf seinen Kopf sogar ein Preis von einem Talent Silber gesetzt wurde, von
zwei Talenten aber, wenn ihn Jemand lebendig brächte. Ein ähnliches Schick¬
sal traf den Sophisten Protagoras. weil er in einer Schrift behauptet hatte,
er wisse nicht, ob die Götter seien oder nicht und wie sie seien. Seine Schriften
wurden, wie die des Diagorns confiscire und auf dem Markte verbrannt; er
selbst fand auf der Flucht seinen Tod in den Wellen. Auch Aristoteles wurde
wegen einigen Lehrmeinungen der Irreligiosität beschuldigt, aber besonders
deshalb, weil er einem Freunde einen Hymnus gewidmet hatte und dadurch
göttliche Ehre erwiesen zu haben schien, und ging in freiwilliges Exil. Am
bekanntesten ist die Verurtheilung des Sokrates, dessen Anklage sich da¬
rauf stützt, daß er neue Gottheiten einführe und von der Staatsreligion ab¬
gefallen sei. Uebrigens kam es auch oft vor, daß der Areopag blos warnte
und Verweise ertheilte. Von unserm Standpunkt nun scheint diese polizeiliche
Beschränkung der Glaubensfreiheit eine, freilich auch in neuerer Zeit nicht bei¬
spiellose Tyrannei zu sein. Allein man muß dabei erwägen, daß doch die
Verhältnisse damals anders lagen als bei uns. wo die Kirche auch leicht ge¬
neigt ist, in gehässiger Weise die Polizeigewalt des Staats sür ihre Zwecke
zu beanspruchen und der Meinung und Lehre der Wissenschaft Zaum und Zü¬
gel anzulegen. Die Entgegcnstellung der beiden Factoren, Staat und Kirche,
kannten die Alten nicht; sie würde ihnen als ein Frevel an der Würde des
Staats vorgekommen sein. Der Cultus und die religiösen Institutionen waren
innig mit dem Staatsorganismus verwachsen, nur ein Glied des Ganzen, und
nach der Ueberzeugung jener Zeit bildete nicht die alleinige Kirche, sondern
der Staat selbst und das Leben im Staate den Menschen zur Menschlichkeit,
Sittlichkeit. Der Gehorsam, den der Staat aus diesem Gebiete forderte, war
durch die Rücksicht auf das Wohl des Ganzen geboten. Dann verlangte der
Staat auch nur Anerkennung der Götter und Cultusgebräuche ohne ein Dogma,
eine öffentliche Religionslehre vorzuschreiben. Freilich spricht gegen die Hand¬
habung solch sittenrichterlicher Disciplin überhaupt die Erfahrung, daß wol
der äußere Schein der Sittlichkeit dadurch länger gewahrt, nie aber durch po¬
lizeiliche Maßregeln eine wahrhaft sittliche Gesinnung erzeugt werden kann.
Auch in Athen bewahrheitet sich dies. Denn nachdem es den Bemühungen
des Perikles gelungen war, durch Aufhebung des Areopag, als Oberaufsichts¬
behörde über die öffentliche Zucht, das Volk einer conservativ-aristokratischen


des Atheismus angeklagt, weil er die Sonne für eine feurige Masse erklärt
hatte und zuerst die Idee eines von der Materie gesonderten Weltgeistes lehrte,
konnte ebenfalls nur durch Verwendung des Perikles vom Tode gerettet werden
und wurde um fünf Talente und mit Verbannung bestraft. Der Freigeist
Diagoras erregte durch schonungslose Angriffe aus die Volksreligion den Un¬
willen der Athener in so hohem Grade, daß er aus Athen fliehen mußte, wo
auf seinen Kopf sogar ein Preis von einem Talent Silber gesetzt wurde, von
zwei Talenten aber, wenn ihn Jemand lebendig brächte. Ein ähnliches Schick¬
sal traf den Sophisten Protagoras. weil er in einer Schrift behauptet hatte,
er wisse nicht, ob die Götter seien oder nicht und wie sie seien. Seine Schriften
wurden, wie die des Diagorns confiscire und auf dem Markte verbrannt; er
selbst fand auf der Flucht seinen Tod in den Wellen. Auch Aristoteles wurde
wegen einigen Lehrmeinungen der Irreligiosität beschuldigt, aber besonders
deshalb, weil er einem Freunde einen Hymnus gewidmet hatte und dadurch
göttliche Ehre erwiesen zu haben schien, und ging in freiwilliges Exil. Am
bekanntesten ist die Verurtheilung des Sokrates, dessen Anklage sich da¬
rauf stützt, daß er neue Gottheiten einführe und von der Staatsreligion ab¬
gefallen sei. Uebrigens kam es auch oft vor, daß der Areopag blos warnte
und Verweise ertheilte. Von unserm Standpunkt nun scheint diese polizeiliche
Beschränkung der Glaubensfreiheit eine, freilich auch in neuerer Zeit nicht bei¬
spiellose Tyrannei zu sein. Allein man muß dabei erwägen, daß doch die
Verhältnisse damals anders lagen als bei uns. wo die Kirche auch leicht ge¬
neigt ist, in gehässiger Weise die Polizeigewalt des Staats sür ihre Zwecke
zu beanspruchen und der Meinung und Lehre der Wissenschaft Zaum und Zü¬
gel anzulegen. Die Entgegcnstellung der beiden Factoren, Staat und Kirche,
kannten die Alten nicht; sie würde ihnen als ein Frevel an der Würde des
Staats vorgekommen sein. Der Cultus und die religiösen Institutionen waren
innig mit dem Staatsorganismus verwachsen, nur ein Glied des Ganzen, und
nach der Ueberzeugung jener Zeit bildete nicht die alleinige Kirche, sondern
der Staat selbst und das Leben im Staate den Menschen zur Menschlichkeit,
Sittlichkeit. Der Gehorsam, den der Staat aus diesem Gebiete forderte, war
durch die Rücksicht auf das Wohl des Ganzen geboten. Dann verlangte der
Staat auch nur Anerkennung der Götter und Cultusgebräuche ohne ein Dogma,
eine öffentliche Religionslehre vorzuschreiben. Freilich spricht gegen die Hand¬
habung solch sittenrichterlicher Disciplin überhaupt die Erfahrung, daß wol
der äußere Schein der Sittlichkeit dadurch länger gewahrt, nie aber durch po¬
lizeiliche Maßregeln eine wahrhaft sittliche Gesinnung erzeugt werden kann.
Auch in Athen bewahrheitet sich dies. Denn nachdem es den Bemühungen
des Perikles gelungen war, durch Aufhebung des Areopag, als Oberaufsichts¬
behörde über die öffentliche Zucht, das Volk einer conservativ-aristokratischen


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[0377] des Atheismus angeklagt, weil er die Sonne für eine feurige Masse erklärt hatte und zuerst die Idee eines von der Materie gesonderten Weltgeistes lehrte, konnte ebenfalls nur durch Verwendung des Perikles vom Tode gerettet werden und wurde um fünf Talente und mit Verbannung bestraft. Der Freigeist Diagoras erregte durch schonungslose Angriffe aus die Volksreligion den Un¬ willen der Athener in so hohem Grade, daß er aus Athen fliehen mußte, wo auf seinen Kopf sogar ein Preis von einem Talent Silber gesetzt wurde, von zwei Talenten aber, wenn ihn Jemand lebendig brächte. Ein ähnliches Schick¬ sal traf den Sophisten Protagoras. weil er in einer Schrift behauptet hatte, er wisse nicht, ob die Götter seien oder nicht und wie sie seien. Seine Schriften wurden, wie die des Diagorns confiscire und auf dem Markte verbrannt; er selbst fand auf der Flucht seinen Tod in den Wellen. Auch Aristoteles wurde wegen einigen Lehrmeinungen der Irreligiosität beschuldigt, aber besonders deshalb, weil er einem Freunde einen Hymnus gewidmet hatte und dadurch göttliche Ehre erwiesen zu haben schien, und ging in freiwilliges Exil. Am bekanntesten ist die Verurtheilung des Sokrates, dessen Anklage sich da¬ rauf stützt, daß er neue Gottheiten einführe und von der Staatsreligion ab¬ gefallen sei. Uebrigens kam es auch oft vor, daß der Areopag blos warnte und Verweise ertheilte. Von unserm Standpunkt nun scheint diese polizeiliche Beschränkung der Glaubensfreiheit eine, freilich auch in neuerer Zeit nicht bei¬ spiellose Tyrannei zu sein. Allein man muß dabei erwägen, daß doch die Verhältnisse damals anders lagen als bei uns. wo die Kirche auch leicht ge¬ neigt ist, in gehässiger Weise die Polizeigewalt des Staats sür ihre Zwecke zu beanspruchen und der Meinung und Lehre der Wissenschaft Zaum und Zü¬ gel anzulegen. Die Entgegcnstellung der beiden Factoren, Staat und Kirche, kannten die Alten nicht; sie würde ihnen als ein Frevel an der Würde des Staats vorgekommen sein. Der Cultus und die religiösen Institutionen waren innig mit dem Staatsorganismus verwachsen, nur ein Glied des Ganzen, und nach der Ueberzeugung jener Zeit bildete nicht die alleinige Kirche, sondern der Staat selbst und das Leben im Staate den Menschen zur Menschlichkeit, Sittlichkeit. Der Gehorsam, den der Staat aus diesem Gebiete forderte, war durch die Rücksicht auf das Wohl des Ganzen geboten. Dann verlangte der Staat auch nur Anerkennung der Götter und Cultusgebräuche ohne ein Dogma, eine öffentliche Religionslehre vorzuschreiben. Freilich spricht gegen die Hand¬ habung solch sittenrichterlicher Disciplin überhaupt die Erfahrung, daß wol der äußere Schein der Sittlichkeit dadurch länger gewahrt, nie aber durch po¬ lizeiliche Maßregeln eine wahrhaft sittliche Gesinnung erzeugt werden kann. Auch in Athen bewahrheitet sich dies. Denn nachdem es den Bemühungen des Perikles gelungen war, durch Aufhebung des Areopag, als Oberaufsichts¬ behörde über die öffentliche Zucht, das Volk einer conservativ-aristokratischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/377>, abgerufen am 25.07.2024.