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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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Natur sucht sich in unsrer Zeit andre Glaubcnsformen, wie Napoleon, der an
seinen Stern glaubte. Meint er aber das zweite, so dürste er irren. Die
Masse ist zu allen Zeiten unfrei; gewöhnt sie einige Jahre hindurch, etwas
nachzusprechen, so glaubt sie zu glauben, d. h. sie glaubt wirklich. Denn bei
der Kraft des Glaubens ist darin ein Unterschied, bei der Schwäche des
Glaubens aber keiner. Und daß die sogenannten Gebildeten, Theologen und
Laien, nicht etwa von der Masse auszuschließen sind, und daß auch diese Art
von schwächlichem Glauben durch Friction zum Fanatismus gesteigert werden
kann, -- wie lange ist es denn her, daß wir Tische gerückt haben? -- Dieser
Glaube ist Folge des Skepticismus, der sich noch etwas damit weiß, daß er
nichts weiß. -- Ein Gebildeter des 16. Jahrhunderts hat, wenn er sich sei¬
nen "Glauben" hersagte, wol auch entweder gar nichts dabei gedacht oder sich,
so gut es gehn wollte, die Artikel in seine Gedanken übersetzt, grade wie es
heute geschieht. Gar nichts dabei zu denken, das fällt uns noch heute nicht
schwer, für Formeln, die Artikel unsern Gedanken zu asstmiliren, ist auch ge¬
sorgt und -- denn wir gehn noch weiter -- selbst bei kräftigern Naturen
treibt die Reaction gegen das Halbe und Oberflächliche heute wie zu aller
Zeit zur Paradoxie des Gegentheils. Warum sollen wir Vilmar und seine
Schule, denen doch auch eine gewisse Bildung nicht abzusprechen ist, ohne
Grund als Heuchler bezeichnen? Sie ärgern sich über das "Aufkläricht".
welches nicht einmal an einen Teufel glaubt; und grade deshalb, weil das ober¬
flächliche "Aufkläricht" über den Teufel raisonnirt, grade deshalb glauben wir
an den Teufel mehr als an alles andre, und wenn wir ihn auch nicht sehn,
so wissen wir doch so viel, daß Jeder ein Teufelsbraten ist, der nicht an ihn
glaubt! --Das Menschenherz hat seine wunderlichen, geheimnißvollen Falten!
wir rechnen in der Regel besser, wenn wir bewußte Heuchelei so viel wie
möglich aus dem Spiel lassen. -- Noch neulich hat Stahl einen Tractat
über die Transsubstantiation geschrieben; nicht blos bei dem was er sagt,
sondern auch bei dem, was ihm seine liberalen Gegner erwidern, fragt man
sich mitunter, ob man in China oder in Japan ist, oder ob die Welt unver¬
sehens wieder um einige Jahrtausende zurückgegangen ist.

Die Verdienste, welche sich Strauß um die älteste Geschichte des Christen¬
thums erworben, erinnern in vieler Beziehung an Niebuhr. Auch von Nie-
buhrs Resultaten hat man vieles aufgegeben, grade das, worauf er zum Theil
den meisten Werth legt, z. B. die historischen Volkslieder; und doch bekennt
jeder, der sich auf solche Untersuchungen einläßt, ihm in Bezug auf die Methode
wie auf die großen Gesichtspunkte des historischen Zusammenhangs, das Meiste
schuldig zu sein. Neuerdings hat man einen kühnen Griff gethan, man hat
die ersten Jahrhunderte als mythisch einfach weggelassen und auf die Zustände,
welche der beglaubigten Geschichte voran gingen, aus den Resultaten geschlos-


Natur sucht sich in unsrer Zeit andre Glaubcnsformen, wie Napoleon, der an
seinen Stern glaubte. Meint er aber das zweite, so dürste er irren. Die
Masse ist zu allen Zeiten unfrei; gewöhnt sie einige Jahre hindurch, etwas
nachzusprechen, so glaubt sie zu glauben, d. h. sie glaubt wirklich. Denn bei
der Kraft des Glaubens ist darin ein Unterschied, bei der Schwäche des
Glaubens aber keiner. Und daß die sogenannten Gebildeten, Theologen und
Laien, nicht etwa von der Masse auszuschließen sind, und daß auch diese Art
von schwächlichem Glauben durch Friction zum Fanatismus gesteigert werden
kann, — wie lange ist es denn her, daß wir Tische gerückt haben? — Dieser
Glaube ist Folge des Skepticismus, der sich noch etwas damit weiß, daß er
nichts weiß. — Ein Gebildeter des 16. Jahrhunderts hat, wenn er sich sei¬
nen „Glauben" hersagte, wol auch entweder gar nichts dabei gedacht oder sich,
so gut es gehn wollte, die Artikel in seine Gedanken übersetzt, grade wie es
heute geschieht. Gar nichts dabei zu denken, das fällt uns noch heute nicht
schwer, für Formeln, die Artikel unsern Gedanken zu asstmiliren, ist auch ge¬
sorgt und — denn wir gehn noch weiter — selbst bei kräftigern Naturen
treibt die Reaction gegen das Halbe und Oberflächliche heute wie zu aller
Zeit zur Paradoxie des Gegentheils. Warum sollen wir Vilmar und seine
Schule, denen doch auch eine gewisse Bildung nicht abzusprechen ist, ohne
Grund als Heuchler bezeichnen? Sie ärgern sich über das „Aufkläricht".
welches nicht einmal an einen Teufel glaubt; und grade deshalb, weil das ober¬
flächliche „Aufkläricht" über den Teufel raisonnirt, grade deshalb glauben wir
an den Teufel mehr als an alles andre, und wenn wir ihn auch nicht sehn,
so wissen wir doch so viel, daß Jeder ein Teufelsbraten ist, der nicht an ihn
glaubt! —Das Menschenherz hat seine wunderlichen, geheimnißvollen Falten!
wir rechnen in der Regel besser, wenn wir bewußte Heuchelei so viel wie
möglich aus dem Spiel lassen. — Noch neulich hat Stahl einen Tractat
über die Transsubstantiation geschrieben; nicht blos bei dem was er sagt,
sondern auch bei dem, was ihm seine liberalen Gegner erwidern, fragt man
sich mitunter, ob man in China oder in Japan ist, oder ob die Welt unver¬
sehens wieder um einige Jahrtausende zurückgegangen ist.

Die Verdienste, welche sich Strauß um die älteste Geschichte des Christen¬
thums erworben, erinnern in vieler Beziehung an Niebuhr. Auch von Nie-
buhrs Resultaten hat man vieles aufgegeben, grade das, worauf er zum Theil
den meisten Werth legt, z. B. die historischen Volkslieder; und doch bekennt
jeder, der sich auf solche Untersuchungen einläßt, ihm in Bezug auf die Methode
wie auf die großen Gesichtspunkte des historischen Zusammenhangs, das Meiste
schuldig zu sein. Neuerdings hat man einen kühnen Griff gethan, man hat
die ersten Jahrhunderte als mythisch einfach weggelassen und auf die Zustände,
welche der beglaubigten Geschichte voran gingen, aus den Resultaten geschlos-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/364>, abgerufen am 25.07.2024.