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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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liebe Begier, in diesen Kreis aufgenommen zu werden. Es ist nicht blos von
der Theologie die Rede, der Einfluß der Metaphysik erstreckte sich auf alle
Zweige des Denkens und Empfindens, ja selbst das wirkliche Leben entzog
sich ihm nicht, da der "Staat der Intelligenz" diese Stütze der Abstraction
nicht verschmähte. Da trat zum allgemeinen Erstaunen aus dem Kreise der
Eingeweihten einer auf, und wies die ganze bisherige Vorstellung von der
neuern Speculation als einen Mythus nach. -- Wir wissen wol, daß Strauß
es eigentlich nicht wollte. Erzogen in der Schule Hegels und Schleiermachers,
wollte er theils ein wissenschaftliches Werk ausführen, theils sein eignes Ge¬
müth erleichtern, indem er sowol die Theorie des Supranaturalismus als
die alte Voltaireschc Ansicht von dem Priestcrtrug durch die Anwendung des
Mythus auf die Religion ersetzte. Denn der Mythus, der im still verborgenen,
aber naturnothwendigen Schaffen den Inhalt des Volksgcmüths bildlich aus¬
drückt, hat eine viel größere Dignität in geistiger Beziehung, als selbst die
Chronik, von Leuten aus dem Volk aufgezeichnet, die über Glaubwürdigkeit
und Unglaubwürdigkeit ihrer eignen Beobachtungen kein geschultes Urtheil haben.
Einer der spätern leidenschaftlichen Feinde des Christenthums hatte nicht Un¬
recht, die "Mythenbildende Substanz" das letzte Bollwerk zu nennen, hinter
welches der "heilige Geist" sich versteckte.

Was Strauß wirkte, war nicht ganz das. was er wollte. Wäre in der
nämlichen Zeit ein Buch erschienen, welches gegen den Katechismus ebenso
sehr verstieß, aber nicht von einem Eingeweihten: der Lärm wäre vielleicht
auch groß gewesen, aber die Wirkung weniger nachhaltig. Nicht daß der
Einzelne mit solchen Ansichten auftrat, nicht daß er gute Gründe vorbrachte,
war das Epochemachende dieses Werks, sondern daß sich auch für den Unge¬
übten klar herausstellte, der ins speculative übersetzte Katechismus enthalte
etwas ganz anderes als der wirkliche Katechismus. -- Noch viel deutlicher
stellte sich dies bei der "Dogmatik" heraus, die wir beiläufig für bedeutender
halten, als das "Leben Jesu". Dogma für Dogma wurde historisch durch¬
genommen, in seiner allmäligen Umwandlung bis zu seiner Projection ins
Hegelsche System, und hier konnte von keinen, Mißverständniß mehr die
Rede sein. Es wurde Allen deutlich, daß die Hegelsche Philosophie durch
ihren Synkretismus aller Geistesformen nicht conservativ, sondern desorgani-
sirend gewirkt hatte, und nachdem die jüngern Hegelianer noch einige Jahre
hindurch das Werk der Zerstörung, diesmal mit Bewußtsein, sortgesetzt hatten,
wurde endlich das künstliche Band, das bisher die einzelnen lebendigen Kräfte
gefesselt hatte, gewaltsam gesprengt, die Speculation wurde aufgegeben und
Naturwissenschaft. Geschichte, Oekonomie. Politik traten an ihre Stelle. Strauß
hatte mit der überlegenen Bildung, die ihm sein philosophisches Studium
gab, die Augen der Geweihten und Ungcweihten auf die Realität hingen


liebe Begier, in diesen Kreis aufgenommen zu werden. Es ist nicht blos von
der Theologie die Rede, der Einfluß der Metaphysik erstreckte sich auf alle
Zweige des Denkens und Empfindens, ja selbst das wirkliche Leben entzog
sich ihm nicht, da der „Staat der Intelligenz" diese Stütze der Abstraction
nicht verschmähte. Da trat zum allgemeinen Erstaunen aus dem Kreise der
Eingeweihten einer auf, und wies die ganze bisherige Vorstellung von der
neuern Speculation als einen Mythus nach. — Wir wissen wol, daß Strauß
es eigentlich nicht wollte. Erzogen in der Schule Hegels und Schleiermachers,
wollte er theils ein wissenschaftliches Werk ausführen, theils sein eignes Ge¬
müth erleichtern, indem er sowol die Theorie des Supranaturalismus als
die alte Voltaireschc Ansicht von dem Priestcrtrug durch die Anwendung des
Mythus auf die Religion ersetzte. Denn der Mythus, der im still verborgenen,
aber naturnothwendigen Schaffen den Inhalt des Volksgcmüths bildlich aus¬
drückt, hat eine viel größere Dignität in geistiger Beziehung, als selbst die
Chronik, von Leuten aus dem Volk aufgezeichnet, die über Glaubwürdigkeit
und Unglaubwürdigkeit ihrer eignen Beobachtungen kein geschultes Urtheil haben.
Einer der spätern leidenschaftlichen Feinde des Christenthums hatte nicht Un¬
recht, die „Mythenbildende Substanz" das letzte Bollwerk zu nennen, hinter
welches der „heilige Geist" sich versteckte.

Was Strauß wirkte, war nicht ganz das. was er wollte. Wäre in der
nämlichen Zeit ein Buch erschienen, welches gegen den Katechismus ebenso
sehr verstieß, aber nicht von einem Eingeweihten: der Lärm wäre vielleicht
auch groß gewesen, aber die Wirkung weniger nachhaltig. Nicht daß der
Einzelne mit solchen Ansichten auftrat, nicht daß er gute Gründe vorbrachte,
war das Epochemachende dieses Werks, sondern daß sich auch für den Unge¬
übten klar herausstellte, der ins speculative übersetzte Katechismus enthalte
etwas ganz anderes als der wirkliche Katechismus. — Noch viel deutlicher
stellte sich dies bei der „Dogmatik" heraus, die wir beiläufig für bedeutender
halten, als das „Leben Jesu". Dogma für Dogma wurde historisch durch¬
genommen, in seiner allmäligen Umwandlung bis zu seiner Projection ins
Hegelsche System, und hier konnte von keinen, Mißverständniß mehr die
Rede sein. Es wurde Allen deutlich, daß die Hegelsche Philosophie durch
ihren Synkretismus aller Geistesformen nicht conservativ, sondern desorgani-
sirend gewirkt hatte, und nachdem die jüngern Hegelianer noch einige Jahre
hindurch das Werk der Zerstörung, diesmal mit Bewußtsein, sortgesetzt hatten,
wurde endlich das künstliche Band, das bisher die einzelnen lebendigen Kräfte
gefesselt hatte, gewaltsam gesprengt, die Speculation wurde aufgegeben und
Naturwissenschaft. Geschichte, Oekonomie. Politik traten an ihre Stelle. Strauß
hatte mit der überlegenen Bildung, die ihm sein philosophisches Studium
gab, die Augen der Geweihten und Ungcweihten auf die Realität hingen


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[0361] liebe Begier, in diesen Kreis aufgenommen zu werden. Es ist nicht blos von der Theologie die Rede, der Einfluß der Metaphysik erstreckte sich auf alle Zweige des Denkens und Empfindens, ja selbst das wirkliche Leben entzog sich ihm nicht, da der „Staat der Intelligenz" diese Stütze der Abstraction nicht verschmähte. Da trat zum allgemeinen Erstaunen aus dem Kreise der Eingeweihten einer auf, und wies die ganze bisherige Vorstellung von der neuern Speculation als einen Mythus nach. — Wir wissen wol, daß Strauß es eigentlich nicht wollte. Erzogen in der Schule Hegels und Schleiermachers, wollte er theils ein wissenschaftliches Werk ausführen, theils sein eignes Ge¬ müth erleichtern, indem er sowol die Theorie des Supranaturalismus als die alte Voltaireschc Ansicht von dem Priestcrtrug durch die Anwendung des Mythus auf die Religion ersetzte. Denn der Mythus, der im still verborgenen, aber naturnothwendigen Schaffen den Inhalt des Volksgcmüths bildlich aus¬ drückt, hat eine viel größere Dignität in geistiger Beziehung, als selbst die Chronik, von Leuten aus dem Volk aufgezeichnet, die über Glaubwürdigkeit und Unglaubwürdigkeit ihrer eignen Beobachtungen kein geschultes Urtheil haben. Einer der spätern leidenschaftlichen Feinde des Christenthums hatte nicht Un¬ recht, die „Mythenbildende Substanz" das letzte Bollwerk zu nennen, hinter welches der „heilige Geist" sich versteckte. Was Strauß wirkte, war nicht ganz das. was er wollte. Wäre in der nämlichen Zeit ein Buch erschienen, welches gegen den Katechismus ebenso sehr verstieß, aber nicht von einem Eingeweihten: der Lärm wäre vielleicht auch groß gewesen, aber die Wirkung weniger nachhaltig. Nicht daß der Einzelne mit solchen Ansichten auftrat, nicht daß er gute Gründe vorbrachte, war das Epochemachende dieses Werks, sondern daß sich auch für den Unge¬ übten klar herausstellte, der ins speculative übersetzte Katechismus enthalte etwas ganz anderes als der wirkliche Katechismus. — Noch viel deutlicher stellte sich dies bei der „Dogmatik" heraus, die wir beiläufig für bedeutender halten, als das „Leben Jesu". Dogma für Dogma wurde historisch durch¬ genommen, in seiner allmäligen Umwandlung bis zu seiner Projection ins Hegelsche System, und hier konnte von keinen, Mißverständniß mehr die Rede sein. Es wurde Allen deutlich, daß die Hegelsche Philosophie durch ihren Synkretismus aller Geistesformen nicht conservativ, sondern desorgani- sirend gewirkt hatte, und nachdem die jüngern Hegelianer noch einige Jahre hindurch das Werk der Zerstörung, diesmal mit Bewußtsein, sortgesetzt hatten, wurde endlich das künstliche Band, das bisher die einzelnen lebendigen Kräfte gefesselt hatte, gewaltsam gesprengt, die Speculation wurde aufgegeben und Naturwissenschaft. Geschichte, Oekonomie. Politik traten an ihre Stelle. Strauß hatte mit der überlegenen Bildung, die ihm sein philosophisches Studium gab, die Augen der Geweihten und Ungcweihten auf die Realität hingen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/361>, abgerufen am 25.07.2024.