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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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lich genug ihre Absicht eigne Wege zu gehen; sie alle sind dahin gekommen
Rußland zu fürchten, es als Feindin ihrer Nationalität zu betrachten, sich
seinem Umsichgreifen in ihrer Mitte nach Kräften zu widersetzen.

Wenn das Vorgefühl der seiner Nation drohenden Katastrophe sogar den
denkenden Türken nie verläßt, wieviel lebendiger bewegt es diese unterworfe¬
nen Völker, welche, durch ihr Christenthum den die abendländischen Neligions-
genossen durchzuckenden Ideen zugeführt, die Hoffnung hegen, dann wieder
selbständig in der Gkschichte aufzutreten. Vorläufig aber finden sie ihre
Stellung erträglich -- viel erträglicher, als es Rußland lieb ist. Die Pforte
ist, nicht aus Gerechtigkeitsgefühl, sondern aus Schwäche duldsam geworden;
das Staatsgrundgesetz ist sogar für die Rujah förderlicher und bequemer als
für die Muhammedaner, denen die lästige Militärpflicht obliegt. Die Hab¬
sucht der Paschas kennt keine Religion; in der Regel ziehen diese Her¬
rin sogar vor, ihre eignen Glaubensgenossen auszuplündern, weil dieselben
weder in der europäischen Diplomatie, noch in den Patriarchaten von Kon¬
stantinopel einen Rückhalt haben, oft sehen wir sie zu solchen Zwecken mit
Christen, Geistlichen oder Laien, verbunden. Weshalb sollten die Letzteren
sich nach der Zwangsjacke der russischen Herrschaft sehnen, welche ihnen für
das wahrscheinliche Opfer ihrer Nationalität nicht einmal durch geordnete Ver¬
waltung oder Justizpflege einen Ersatz verheißt? --

Die katholische Kirche ist den Russen in Jerusalem nicht entgegengetre¬
ten; sie konnte das den Griechen überlassen. Aber von der französischen
Diplomatie unterstützt, ziehen lazarjstische Missionare die Bulgaren, ein
den Russen Stamm- und religionsverwandtes Volk, die Griechen Kretas, die
melchitischen Araber des nördlichen Libanon, massenweise zum Romanismus
herüber, und entreißen sie so auf immer dem russischen Einflüsse. Das Pe¬
tersburger Cabinet muß sich mit seinen politischen Aussichten in lebhaftem
Gedränge fühlen, wenn es unter solchen Umständen von dem französischen
Kaiser Hilfe zur Erreichung seiner Zwecke erwartet. Es fürchtet, sich die Ver-
lassenschaft durch die Finger schlüpfen zu sehn, wenn es länger auf deu Tod
des kranken Mannes wartet.

Die Verhältnisse werden immer ungünstiger, und die nächsten Jahre
müssen zeigen, ob Rußland den politischen Muth hat, sich ernsthaft an die Lö¬
sung der großen Frage zu wagen, oder ob es sich bescheidet in die Reihe
H. W. aller andern Erbschastsexpectantcn zurückzutreten.




lich genug ihre Absicht eigne Wege zu gehen; sie alle sind dahin gekommen
Rußland zu fürchten, es als Feindin ihrer Nationalität zu betrachten, sich
seinem Umsichgreifen in ihrer Mitte nach Kräften zu widersetzen.

Wenn das Vorgefühl der seiner Nation drohenden Katastrophe sogar den
denkenden Türken nie verläßt, wieviel lebendiger bewegt es diese unterworfe¬
nen Völker, welche, durch ihr Christenthum den die abendländischen Neligions-
genossen durchzuckenden Ideen zugeführt, die Hoffnung hegen, dann wieder
selbständig in der Gkschichte aufzutreten. Vorläufig aber finden sie ihre
Stellung erträglich — viel erträglicher, als es Rußland lieb ist. Die Pforte
ist, nicht aus Gerechtigkeitsgefühl, sondern aus Schwäche duldsam geworden;
das Staatsgrundgesetz ist sogar für die Rujah förderlicher und bequemer als
für die Muhammedaner, denen die lästige Militärpflicht obliegt. Die Hab¬
sucht der Paschas kennt keine Religion; in der Regel ziehen diese Her¬
rin sogar vor, ihre eignen Glaubensgenossen auszuplündern, weil dieselben
weder in der europäischen Diplomatie, noch in den Patriarchaten von Kon¬
stantinopel einen Rückhalt haben, oft sehen wir sie zu solchen Zwecken mit
Christen, Geistlichen oder Laien, verbunden. Weshalb sollten die Letzteren
sich nach der Zwangsjacke der russischen Herrschaft sehnen, welche ihnen für
das wahrscheinliche Opfer ihrer Nationalität nicht einmal durch geordnete Ver¬
waltung oder Justizpflege einen Ersatz verheißt? —

Die katholische Kirche ist den Russen in Jerusalem nicht entgegengetre¬
ten; sie konnte das den Griechen überlassen. Aber von der französischen
Diplomatie unterstützt, ziehen lazarjstische Missionare die Bulgaren, ein
den Russen Stamm- und religionsverwandtes Volk, die Griechen Kretas, die
melchitischen Araber des nördlichen Libanon, massenweise zum Romanismus
herüber, und entreißen sie so auf immer dem russischen Einflüsse. Das Pe¬
tersburger Cabinet muß sich mit seinen politischen Aussichten in lebhaftem
Gedränge fühlen, wenn es unter solchen Umständen von dem französischen
Kaiser Hilfe zur Erreichung seiner Zwecke erwartet. Es fürchtet, sich die Ver-
lassenschaft durch die Finger schlüpfen zu sehn, wenn es länger auf deu Tod
des kranken Mannes wartet.

Die Verhältnisse werden immer ungünstiger, und die nächsten Jahre
müssen zeigen, ob Rußland den politischen Muth hat, sich ernsthaft an die Lö¬
sung der großen Frage zu wagen, oder ob es sich bescheidet in die Reihe
H. W. aller andern Erbschastsexpectantcn zurückzutreten.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/329>, abgerufen am 15.01.2025.