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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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übergehn, um Raum für die Darstellung von einigen Gebräuchen bei der
Ernte und dem Brechen des Flachses zu behalten.

Mit dem Getreide fuhr der Bauer der alten Zeit seine Hauptnahrung, mit
dem Flachs seine Keidung in die Scheune. So bewährte die Ernte des letz¬
tern gleich der Getreideernte manchen alten Zug, während andere Früchte,
z. B. die'Kartoffel, die sonst von großer Bedeutung für die Landwirthschaft
ist, als Producte der neuen Zeit niemals so zum Gemüthe des Volkes spra¬
chen, daß sich an ihre Einerntung andere als rein praktische Bräuche geknüpft
hätten.

In Schwaben wie im übrigen deutschen Süden scheinen mit der Ernte
und dem Brechen des Flachses keine andern Gebräuche verbunden zu sein als
der von Meier berichtete, nach welchem, wenn Arbeiterinnen im Freien Flachs
brechen und ein "Herr", d. h. ein Mann in städtischer Tracht vorbeigeht, eine
der Frauen ihm entgegentritt, eine Hand voll Flachsstengel ihm vorhält und
ihn in Knittelversen um ein Trinkgeld anspricht.

Reicher sind die Mittheilungen, die wir von den Sitten haben, welche mit
der Flachsernte in Norddeutschland verbunden sind. Zu Riemke bei Bochum
band man früher nach beendigter Ernte, wenn der Flachs und Hanf ins Was¬
ser gelegt wurde, in eines der Bunde ein Butterbrot, welches man den Frett-
boden nannte und von dem man meinte, es solle das Wasser fressen, damit
der Flachs gut werde. In andern westphälischen Dörfern, z. B. in Fran-
kenau, thut man noch jetzt in das Bund drei bunte Wiesenblumen und eine
Sichel, indem man glaubt, daß dadurch das Leinen so schön wie die Blumen
und so fest wie der Stahl werde -- eine zwar weniger gezwungene Erklärung des
Gebrauchs als die vorher erwähnte, aber immer noch zu gesucht, als daß
man sie für das Ursprüngliche halten dürfte. Richtiger dürste die Ver¬
muthung sein, daß die Blumen und das Butterbrot einst ein Opfer für Frau
Holda, die dem Flachsbau vorstand, waren, während die Sichel, wie Falles
Eisen in den verschiedensten Gestaltungen des Aberglaubens der deutschen und
außerdeutschen Welt, selbst der arabischen, vor dem Einfluß bösen Zaubers
schützen mochte.

Ein andrer westphälischer Gebrauch beim Brechen des Flachses gleicht
dem obenerwähnten schwäbischen, nach welchem der beim Dreschen zuletzt fertig
Werdende den Mockel bekommt. In einigen Ortschaften nämlich herrscht die
Gewohnheit, demjenigen, der zuletzt mit dem Brechen und Neinigen seines
Flachses oder Hanfes zu Stande kommt, eine mit Schevc, d. h. mit Schalen
und Splittern von Flachs oder Hanf ausgestopfte Puppe, die der "Scheve-
kerl" heißt, vor die Thür zu stellen. Wer seinen Flachs zu spät schwingt,
dem wird eine ähnliche Figur, die nach der Schlcpbrake, dem Werkzeuge, wo¬
mit man hier schwingt, das "Schlepwif" heißt, am Abend heimlich vor das


übergehn, um Raum für die Darstellung von einigen Gebräuchen bei der
Ernte und dem Brechen des Flachses zu behalten.

Mit dem Getreide fuhr der Bauer der alten Zeit seine Hauptnahrung, mit
dem Flachs seine Keidung in die Scheune. So bewährte die Ernte des letz¬
tern gleich der Getreideernte manchen alten Zug, während andere Früchte,
z. B. die'Kartoffel, die sonst von großer Bedeutung für die Landwirthschaft
ist, als Producte der neuen Zeit niemals so zum Gemüthe des Volkes spra¬
chen, daß sich an ihre Einerntung andere als rein praktische Bräuche geknüpft
hätten.

In Schwaben wie im übrigen deutschen Süden scheinen mit der Ernte
und dem Brechen des Flachses keine andern Gebräuche verbunden zu sein als
der von Meier berichtete, nach welchem, wenn Arbeiterinnen im Freien Flachs
brechen und ein „Herr", d. h. ein Mann in städtischer Tracht vorbeigeht, eine
der Frauen ihm entgegentritt, eine Hand voll Flachsstengel ihm vorhält und
ihn in Knittelversen um ein Trinkgeld anspricht.

Reicher sind die Mittheilungen, die wir von den Sitten haben, welche mit
der Flachsernte in Norddeutschland verbunden sind. Zu Riemke bei Bochum
band man früher nach beendigter Ernte, wenn der Flachs und Hanf ins Was¬
ser gelegt wurde, in eines der Bunde ein Butterbrot, welches man den Frett-
boden nannte und von dem man meinte, es solle das Wasser fressen, damit
der Flachs gut werde. In andern westphälischen Dörfern, z. B. in Fran-
kenau, thut man noch jetzt in das Bund drei bunte Wiesenblumen und eine
Sichel, indem man glaubt, daß dadurch das Leinen so schön wie die Blumen
und so fest wie der Stahl werde — eine zwar weniger gezwungene Erklärung des
Gebrauchs als die vorher erwähnte, aber immer noch zu gesucht, als daß
man sie für das Ursprüngliche halten dürfte. Richtiger dürste die Ver¬
muthung sein, daß die Blumen und das Butterbrot einst ein Opfer für Frau
Holda, die dem Flachsbau vorstand, waren, während die Sichel, wie Falles
Eisen in den verschiedensten Gestaltungen des Aberglaubens der deutschen und
außerdeutschen Welt, selbst der arabischen, vor dem Einfluß bösen Zaubers
schützen mochte.

Ein andrer westphälischer Gebrauch beim Brechen des Flachses gleicht
dem obenerwähnten schwäbischen, nach welchem der beim Dreschen zuletzt fertig
Werdende den Mockel bekommt. In einigen Ortschaften nämlich herrscht die
Gewohnheit, demjenigen, der zuletzt mit dem Brechen und Neinigen seines
Flachses oder Hanfes zu Stande kommt, eine mit Schevc, d. h. mit Schalen
und Splittern von Flachs oder Hanf ausgestopfte Puppe, die der „Scheve-
kerl" heißt, vor die Thür zu stellen. Wer seinen Flachs zu spät schwingt,
dem wird eine ähnliche Figur, die nach der Schlcpbrake, dem Werkzeuge, wo¬
mit man hier schwingt, das „Schlepwif" heißt, am Abend heimlich vor das


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[0321] übergehn, um Raum für die Darstellung von einigen Gebräuchen bei der Ernte und dem Brechen des Flachses zu behalten. Mit dem Getreide fuhr der Bauer der alten Zeit seine Hauptnahrung, mit dem Flachs seine Keidung in die Scheune. So bewährte die Ernte des letz¬ tern gleich der Getreideernte manchen alten Zug, während andere Früchte, z. B. die'Kartoffel, die sonst von großer Bedeutung für die Landwirthschaft ist, als Producte der neuen Zeit niemals so zum Gemüthe des Volkes spra¬ chen, daß sich an ihre Einerntung andere als rein praktische Bräuche geknüpft hätten. In Schwaben wie im übrigen deutschen Süden scheinen mit der Ernte und dem Brechen des Flachses keine andern Gebräuche verbunden zu sein als der von Meier berichtete, nach welchem, wenn Arbeiterinnen im Freien Flachs brechen und ein „Herr", d. h. ein Mann in städtischer Tracht vorbeigeht, eine der Frauen ihm entgegentritt, eine Hand voll Flachsstengel ihm vorhält und ihn in Knittelversen um ein Trinkgeld anspricht. Reicher sind die Mittheilungen, die wir von den Sitten haben, welche mit der Flachsernte in Norddeutschland verbunden sind. Zu Riemke bei Bochum band man früher nach beendigter Ernte, wenn der Flachs und Hanf ins Was¬ ser gelegt wurde, in eines der Bunde ein Butterbrot, welches man den Frett- boden nannte und von dem man meinte, es solle das Wasser fressen, damit der Flachs gut werde. In andern westphälischen Dörfern, z. B. in Fran- kenau, thut man noch jetzt in das Bund drei bunte Wiesenblumen und eine Sichel, indem man glaubt, daß dadurch das Leinen so schön wie die Blumen und so fest wie der Stahl werde — eine zwar weniger gezwungene Erklärung des Gebrauchs als die vorher erwähnte, aber immer noch zu gesucht, als daß man sie für das Ursprüngliche halten dürfte. Richtiger dürste die Ver¬ muthung sein, daß die Blumen und das Butterbrot einst ein Opfer für Frau Holda, die dem Flachsbau vorstand, waren, während die Sichel, wie Falles Eisen in den verschiedensten Gestaltungen des Aberglaubens der deutschen und außerdeutschen Welt, selbst der arabischen, vor dem Einfluß bösen Zaubers schützen mochte. Ein andrer westphälischer Gebrauch beim Brechen des Flachses gleicht dem obenerwähnten schwäbischen, nach welchem der beim Dreschen zuletzt fertig Werdende den Mockel bekommt. In einigen Ortschaften nämlich herrscht die Gewohnheit, demjenigen, der zuletzt mit dem Brechen und Neinigen seines Flachses oder Hanfes zu Stande kommt, eine mit Schevc, d. h. mit Schalen und Splittern von Flachs oder Hanf ausgestopfte Puppe, die der „Scheve- kerl" heißt, vor die Thür zu stellen. Wer seinen Flachs zu spät schwingt, dem wird eine ähnliche Figur, die nach der Schlcpbrake, dem Werkzeuge, wo¬ mit man hier schwingt, das „Schlepwif" heißt, am Abend heimlich vor das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/321>, abgerufen am 15.01.2025.