Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Vater hörte sogar plötzlich mit dem Unterricht auf, weil er den Sohn
vom gelehrten Stand abschrecken wollte, zu dem seine Mittel nicht ausreichten;
doch ließ er sich 1709 den Vorschlag eines befreundeten Arztes in Schweidnitz
gefallen, den hoffnungsvollen Knaben mit sich zu nehmen und ihm eine Frei¬
stelle zu verschaffen. In Schweidnitz war Günther sehr fleißig, und fand als
hübscher, gefälliger Junge viele Gönner, denen er durch zahlreiche Gratulations-
gedichte seinen Dank abstattete: darunter der berühmte Benjamin Schmolck
(geb. 1672, seit 1702 Diakonus in Schweidnitz, -j- 1737), 5. Dec. 1714 (S. 002).
An Fruchtbarkeit war er schon hier ein echter Schlesier; seine Zuversicht blieb
ungeschwücht. So sagt er in einer Epistel 1714:
''''

Den Tag seines Abgangs von der Schule (24. Sept. 1715) wurde ihm
noch die Ehre, ein von ihm verfertigtes Trauerspiel: "die von Theodosio be¬
reute Eifersucht" von der Schuljugend aufgeführt zu sehn. Von dem Stück
ist wenig gutes zu sagen; es ist in der Art Lohensteins, aber viel kraftloser:
zur größern Composition scheint Günther das Talent gefehlt zu haben.*) --
In Schweidnitz ließ er eine Geliebte zurück, die vielbesungene Leonore, der er
auf einem Kirchhof Teue gelobt. Mit diesem Namen Leonore sind -- nicht
selten mit Angabe des Datums -- so viele Situationen in Günthers Liebes¬
gedichten bezeichnet, daß man daraus eine vollständige Geschichte dieser Liebe
abschreiben möchte. Indeß darf man nicht vergessen, daß trotz aller Unmittel¬
barkeit etwas Jdealisirung mit unterläuft, daß die Lieder nicht Tagebuchnotizen,
sondern lebendige Auffrischungen vielleicht halb verblichener Erinnerungen sein
sollen-, wol Wahrheit aber auch Dichtung.



') Darauf ist wol der wunderliche Satz von Gervinus zurückzuführen: "Wenn ein Neu-
kirch oder Günther etwas Größeres unternimmt, so gehts ihnen wie.unserm Platen, es zeigt
sich, daß ein Lyriker von den blendendsten Eigenschaften noch lange kein Dichter ist."
^- Und dazu der Vergleich zwischen Günther und Platen! zwischen dem unmittelbarsten und
wärmsten aller Empfindungsdichtcr und dem frostigsten aller Verstfcre! Das tertium eoroxa-
ratioms ist wohl nur die Empfindlichkeit gegen Kritiken.

Der Vater hörte sogar plötzlich mit dem Unterricht auf, weil er den Sohn
vom gelehrten Stand abschrecken wollte, zu dem seine Mittel nicht ausreichten;
doch ließ er sich 1709 den Vorschlag eines befreundeten Arztes in Schweidnitz
gefallen, den hoffnungsvollen Knaben mit sich zu nehmen und ihm eine Frei¬
stelle zu verschaffen. In Schweidnitz war Günther sehr fleißig, und fand als
hübscher, gefälliger Junge viele Gönner, denen er durch zahlreiche Gratulations-
gedichte seinen Dank abstattete: darunter der berühmte Benjamin Schmolck
(geb. 1672, seit 1702 Diakonus in Schweidnitz, -j- 1737), 5. Dec. 1714 (S. 002).
An Fruchtbarkeit war er schon hier ein echter Schlesier; seine Zuversicht blieb
ungeschwücht. So sagt er in einer Epistel 1714:
''''

Den Tag seines Abgangs von der Schule (24. Sept. 1715) wurde ihm
noch die Ehre, ein von ihm verfertigtes Trauerspiel: „die von Theodosio be¬
reute Eifersucht" von der Schuljugend aufgeführt zu sehn. Von dem Stück
ist wenig gutes zu sagen; es ist in der Art Lohensteins, aber viel kraftloser:
zur größern Composition scheint Günther das Talent gefehlt zu haben.*) —
In Schweidnitz ließ er eine Geliebte zurück, die vielbesungene Leonore, der er
auf einem Kirchhof Teue gelobt. Mit diesem Namen Leonore sind — nicht
selten mit Angabe des Datums — so viele Situationen in Günthers Liebes¬
gedichten bezeichnet, daß man daraus eine vollständige Geschichte dieser Liebe
abschreiben möchte. Indeß darf man nicht vergessen, daß trotz aller Unmittel¬
barkeit etwas Jdealisirung mit unterläuft, daß die Lieder nicht Tagebuchnotizen,
sondern lebendige Auffrischungen vielleicht halb verblichener Erinnerungen sein
sollen-, wol Wahrheit aber auch Dichtung.



') Darauf ist wol der wunderliche Satz von Gervinus zurückzuführen: „Wenn ein Neu-
kirch oder Günther etwas Größeres unternimmt, so gehts ihnen wie.unserm Platen, es zeigt
sich, daß ein Lyriker von den blendendsten Eigenschaften noch lange kein Dichter ist."
^- Und dazu der Vergleich zwischen Günther und Platen! zwischen dem unmittelbarsten und
wärmsten aller Empfindungsdichtcr und dem frostigsten aller Verstfcre! Das tertium eoroxa-
ratioms ist wohl nur die Empfindlichkeit gegen Kritiken.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0299" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/110105"/>
          <lg xml:id="POEMID_3" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_879"> Der Vater hörte sogar plötzlich mit dem Unterricht auf, weil er den Sohn<lb/>
vom gelehrten Stand abschrecken wollte, zu dem seine Mittel nicht ausreichten;<lb/>
doch ließ er sich 1709 den Vorschlag eines befreundeten Arztes in Schweidnitz<lb/>
gefallen, den hoffnungsvollen Knaben mit sich zu nehmen und ihm eine Frei¬<lb/>
stelle zu verschaffen. In Schweidnitz war Günther sehr fleißig, und fand als<lb/>
hübscher, gefälliger Junge viele Gönner, denen er durch zahlreiche Gratulations-<lb/>
gedichte seinen Dank abstattete: darunter der berühmte Benjamin Schmolck<lb/>
(geb. 1672, seit 1702 Diakonus in Schweidnitz, -j- 1737), 5. Dec. 1714 (S. 002).<lb/>
An Fruchtbarkeit war er schon hier ein echter Schlesier; seine Zuversicht blieb<lb/>
ungeschwücht.  So sagt er in einer Epistel 1714:<lb/>
''''</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_4" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_880"> Den Tag seines Abgangs von der Schule (24. Sept. 1715) wurde ihm<lb/>
noch die Ehre, ein von ihm verfertigtes Trauerspiel: &#x201E;die von Theodosio be¬<lb/>
reute Eifersucht" von der Schuljugend aufgeführt zu sehn. Von dem Stück<lb/>
ist wenig gutes zu sagen; es ist in der Art Lohensteins, aber viel kraftloser:<lb/>
zur größern Composition scheint Günther das Talent gefehlt zu haben.*) &#x2014;<lb/>
In Schweidnitz ließ er eine Geliebte zurück, die vielbesungene Leonore, der er<lb/>
auf einem Kirchhof Teue gelobt. Mit diesem Namen Leonore sind &#x2014; nicht<lb/>
selten mit Angabe des Datums &#x2014; so viele Situationen in Günthers Liebes¬<lb/>
gedichten bezeichnet, daß man daraus eine vollständige Geschichte dieser Liebe<lb/>
abschreiben möchte. Indeß darf man nicht vergessen, daß trotz aller Unmittel¬<lb/>
barkeit etwas Jdealisirung mit unterläuft, daß die Lieder nicht Tagebuchnotizen,<lb/>
sondern lebendige Auffrischungen vielleicht halb verblichener Erinnerungen sein<lb/>
sollen-, wol Wahrheit aber auch Dichtung.</p><lb/>
          <note xml:id="FID_45" place="foot"> ') Darauf ist wol der wunderliche Satz von Gervinus zurückzuführen: &#x201E;Wenn ein Neu-<lb/>
kirch oder Günther etwas Größeres unternimmt, so gehts ihnen wie.unserm Platen, es zeigt<lb/>
sich, daß ein Lyriker von den blendendsten Eigenschaften noch lange kein Dichter ist."<lb/>
^- Und dazu der Vergleich zwischen Günther und Platen! zwischen dem unmittelbarsten und<lb/>
wärmsten aller Empfindungsdichtcr und dem frostigsten aller Verstfcre! Das tertium eoroxa-<lb/>
ratioms ist wohl nur die Empfindlichkeit gegen Kritiken.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0299] Der Vater hörte sogar plötzlich mit dem Unterricht auf, weil er den Sohn vom gelehrten Stand abschrecken wollte, zu dem seine Mittel nicht ausreichten; doch ließ er sich 1709 den Vorschlag eines befreundeten Arztes in Schweidnitz gefallen, den hoffnungsvollen Knaben mit sich zu nehmen und ihm eine Frei¬ stelle zu verschaffen. In Schweidnitz war Günther sehr fleißig, und fand als hübscher, gefälliger Junge viele Gönner, denen er durch zahlreiche Gratulations- gedichte seinen Dank abstattete: darunter der berühmte Benjamin Schmolck (geb. 1672, seit 1702 Diakonus in Schweidnitz, -j- 1737), 5. Dec. 1714 (S. 002). An Fruchtbarkeit war er schon hier ein echter Schlesier; seine Zuversicht blieb ungeschwücht. So sagt er in einer Epistel 1714: '''' Den Tag seines Abgangs von der Schule (24. Sept. 1715) wurde ihm noch die Ehre, ein von ihm verfertigtes Trauerspiel: „die von Theodosio be¬ reute Eifersucht" von der Schuljugend aufgeführt zu sehn. Von dem Stück ist wenig gutes zu sagen; es ist in der Art Lohensteins, aber viel kraftloser: zur größern Composition scheint Günther das Talent gefehlt zu haben.*) — In Schweidnitz ließ er eine Geliebte zurück, die vielbesungene Leonore, der er auf einem Kirchhof Teue gelobt. Mit diesem Namen Leonore sind — nicht selten mit Angabe des Datums — so viele Situationen in Günthers Liebes¬ gedichten bezeichnet, daß man daraus eine vollständige Geschichte dieser Liebe abschreiben möchte. Indeß darf man nicht vergessen, daß trotz aller Unmittel¬ barkeit etwas Jdealisirung mit unterläuft, daß die Lieder nicht Tagebuchnotizen, sondern lebendige Auffrischungen vielleicht halb verblichener Erinnerungen sein sollen-, wol Wahrheit aber auch Dichtung. ') Darauf ist wol der wunderliche Satz von Gervinus zurückzuführen: „Wenn ein Neu- kirch oder Günther etwas Größeres unternimmt, so gehts ihnen wie.unserm Platen, es zeigt sich, daß ein Lyriker von den blendendsten Eigenschaften noch lange kein Dichter ist." ^- Und dazu der Vergleich zwischen Günther und Platen! zwischen dem unmittelbarsten und wärmsten aller Empfindungsdichtcr und dem frostigsten aller Verstfcre! Das tertium eoroxa- ratioms ist wohl nur die Empfindlichkeit gegen Kritiken.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/299
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/299>, abgerufen am 25.07.2024.