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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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konnte ihn allein seine reiche innere Begabung machen. Freilich erscheint das
Zwiespältige und die Zerrissenheit seines Lebens noch oft genug in seinen Ge¬
dichten. Wie dort die Sehnsucht und das Ringen nach dem Höhern von der
gemeinen Sinnlichkeit überwältigt wurde, aus der sich herauszuarbeiten er
wiederholentlich. aber ohne Ausdauer versuchte, so enthalten die meisten seiner
Gedichte ebenso viel Rohes, Gemeines und Unpoeiisches, wie Vortreffliches.
Aber dieses ist noch reichlich genug vorhanden, um in ihm eine ausgezeichnete
Dichternatur erkennen zu lassen. In seiner Lyrik erscheint seit Flemming wieder
zuerst, und ungleich origineller, natürlicher und lebensvoller eine
Poesie, die aus der Tiefe des Gemüths kommt und das, was darin vorgeht,
immer anschaulich und öfter wie im ersten glücklichen Wurf darstellt. Seinen
Liebesliedern insbesondere, von denen einzelne fast vollendet heißen können,
fühlt man an, der Dichter habe, was er darin ausspricht und schildert, wirk¬
lich in und an sich erlebt: es ist die Wahrheit und Unmittelbarkeit der Em¬
pfindung, die hier nach langer Zeit von Neuem in unserer weltlichen Lyrik
zum Durchbruch kommt." Aehnlich, und mit großer Wärme, spricht sich Bieder¬
mann aus (Deutschland im 18. I., II. S. 464--8): beide übrigens ohne ins
Detail einzugehn.

Der folgende Rückblick auf das Leben des Dichters soll nur dazu dienen,
für Günthers Lyrik, in der ausschließlich seine Bedeutung liegt, eine Folie zu
geben und durch einzelne Fragmente das Publikum von Neuem daraus auf¬
merksam zu machen. -- Zu beachten ist dabei noch die Eigenthümlichkeit der
Schlesier. die sich bis heute erhalten hat, sich der poetischen Sprache wie
der gewöhnlichen zu bedienen, mit einer Ungenirtheit, die auch das Trivialste
in ihren Kreis zieht. Diese Leichtigkeit ist freilich für die Fortbildung gefährlich.

Die Zeit, in der Günther geboren wurde -- 8. April IKSS -- war eine
böse Zeit. Roheit und Liederlichkeit bei Hof, im Adel, in den Universitäten,
in den Romanen, Trauerspielen und Gedichten; im Bürgerstand dagegen eine
gedrückte ängstliche Sittlichkeit, die jene Kreise verabscheute und sich doch vor
thuen beugte. Alles Selbstgefühl des Bürgers war gegen die eignen Angehö¬
rigen gewendet; gegen die Großen verstummte es: höchstens wagte es, ihnen
aus dem Wege zu gehn. -- Dieser Schicht des Bürgerthums gehörte Gün¬
thers Vater an, Arzt zu Striegau, der sich durch eisernen Fleiß aus der Dürf¬
tigkeit aufgeschwungen,^ und bei seinem knappen Einkommen den aufstrebenden
Ehrgeiz des Knaben von früh an zu beugen suchte. -- In den "letzten Ge¬
danken" (S. 838)") erzählt Günther:



-) Gesammtausgabe, Breslau u. Leipzig 1735.

konnte ihn allein seine reiche innere Begabung machen. Freilich erscheint das
Zwiespältige und die Zerrissenheit seines Lebens noch oft genug in seinen Ge¬
dichten. Wie dort die Sehnsucht und das Ringen nach dem Höhern von der
gemeinen Sinnlichkeit überwältigt wurde, aus der sich herauszuarbeiten er
wiederholentlich. aber ohne Ausdauer versuchte, so enthalten die meisten seiner
Gedichte ebenso viel Rohes, Gemeines und Unpoeiisches, wie Vortreffliches.
Aber dieses ist noch reichlich genug vorhanden, um in ihm eine ausgezeichnete
Dichternatur erkennen zu lassen. In seiner Lyrik erscheint seit Flemming wieder
zuerst, und ungleich origineller, natürlicher und lebensvoller eine
Poesie, die aus der Tiefe des Gemüths kommt und das, was darin vorgeht,
immer anschaulich und öfter wie im ersten glücklichen Wurf darstellt. Seinen
Liebesliedern insbesondere, von denen einzelne fast vollendet heißen können,
fühlt man an, der Dichter habe, was er darin ausspricht und schildert, wirk¬
lich in und an sich erlebt: es ist die Wahrheit und Unmittelbarkeit der Em¬
pfindung, die hier nach langer Zeit von Neuem in unserer weltlichen Lyrik
zum Durchbruch kommt." Aehnlich, und mit großer Wärme, spricht sich Bieder¬
mann aus (Deutschland im 18. I., II. S. 464—8): beide übrigens ohne ins
Detail einzugehn.

Der folgende Rückblick auf das Leben des Dichters soll nur dazu dienen,
für Günthers Lyrik, in der ausschließlich seine Bedeutung liegt, eine Folie zu
geben und durch einzelne Fragmente das Publikum von Neuem daraus auf¬
merksam zu machen. — Zu beachten ist dabei noch die Eigenthümlichkeit der
Schlesier. die sich bis heute erhalten hat, sich der poetischen Sprache wie
der gewöhnlichen zu bedienen, mit einer Ungenirtheit, die auch das Trivialste
in ihren Kreis zieht. Diese Leichtigkeit ist freilich für die Fortbildung gefährlich.

Die Zeit, in der Günther geboren wurde — 8. April IKSS — war eine
böse Zeit. Roheit und Liederlichkeit bei Hof, im Adel, in den Universitäten,
in den Romanen, Trauerspielen und Gedichten; im Bürgerstand dagegen eine
gedrückte ängstliche Sittlichkeit, die jene Kreise verabscheute und sich doch vor
thuen beugte. Alles Selbstgefühl des Bürgers war gegen die eignen Angehö¬
rigen gewendet; gegen die Großen verstummte es: höchstens wagte es, ihnen
aus dem Wege zu gehn. — Dieser Schicht des Bürgerthums gehörte Gün¬
thers Vater an, Arzt zu Striegau, der sich durch eisernen Fleiß aus der Dürf¬
tigkeit aufgeschwungen,^ und bei seinem knappen Einkommen den aufstrebenden
Ehrgeiz des Knaben von früh an zu beugen suchte. — In den „letzten Ge¬
danken" (S. 838)") erzählt Günther:



-) Gesammtausgabe, Breslau u. Leipzig 1735.
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[0298] konnte ihn allein seine reiche innere Begabung machen. Freilich erscheint das Zwiespältige und die Zerrissenheit seines Lebens noch oft genug in seinen Ge¬ dichten. Wie dort die Sehnsucht und das Ringen nach dem Höhern von der gemeinen Sinnlichkeit überwältigt wurde, aus der sich herauszuarbeiten er wiederholentlich. aber ohne Ausdauer versuchte, so enthalten die meisten seiner Gedichte ebenso viel Rohes, Gemeines und Unpoeiisches, wie Vortreffliches. Aber dieses ist noch reichlich genug vorhanden, um in ihm eine ausgezeichnete Dichternatur erkennen zu lassen. In seiner Lyrik erscheint seit Flemming wieder zuerst, und ungleich origineller, natürlicher und lebensvoller eine Poesie, die aus der Tiefe des Gemüths kommt und das, was darin vorgeht, immer anschaulich und öfter wie im ersten glücklichen Wurf darstellt. Seinen Liebesliedern insbesondere, von denen einzelne fast vollendet heißen können, fühlt man an, der Dichter habe, was er darin ausspricht und schildert, wirk¬ lich in und an sich erlebt: es ist die Wahrheit und Unmittelbarkeit der Em¬ pfindung, die hier nach langer Zeit von Neuem in unserer weltlichen Lyrik zum Durchbruch kommt." Aehnlich, und mit großer Wärme, spricht sich Bieder¬ mann aus (Deutschland im 18. I., II. S. 464—8): beide übrigens ohne ins Detail einzugehn. Der folgende Rückblick auf das Leben des Dichters soll nur dazu dienen, für Günthers Lyrik, in der ausschließlich seine Bedeutung liegt, eine Folie zu geben und durch einzelne Fragmente das Publikum von Neuem daraus auf¬ merksam zu machen. — Zu beachten ist dabei noch die Eigenthümlichkeit der Schlesier. die sich bis heute erhalten hat, sich der poetischen Sprache wie der gewöhnlichen zu bedienen, mit einer Ungenirtheit, die auch das Trivialste in ihren Kreis zieht. Diese Leichtigkeit ist freilich für die Fortbildung gefährlich. Die Zeit, in der Günther geboren wurde — 8. April IKSS — war eine böse Zeit. Roheit und Liederlichkeit bei Hof, im Adel, in den Universitäten, in den Romanen, Trauerspielen und Gedichten; im Bürgerstand dagegen eine gedrückte ängstliche Sittlichkeit, die jene Kreise verabscheute und sich doch vor thuen beugte. Alles Selbstgefühl des Bürgers war gegen die eignen Angehö¬ rigen gewendet; gegen die Großen verstummte es: höchstens wagte es, ihnen aus dem Wege zu gehn. — Dieser Schicht des Bürgerthums gehörte Gün¬ thers Vater an, Arzt zu Striegau, der sich durch eisernen Fleiß aus der Dürf¬ tigkeit aufgeschwungen,^ und bei seinem knappen Einkommen den aufstrebenden Ehrgeiz des Knaben von früh an zu beugen suchte. — In den „letzten Ge¬ danken" (S. 838)") erzählt Günther: -) Gesammtausgabe, Breslau u. Leipzig 1735.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/298>, abgerufen am 25.07.2024.