Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

am meistenIan Gervinus an. "Günther muß uns deshalb merkwürdig bleiben,
weil er nach Flemming und Dach wieder der erste Dichter war. welcher ohne
Scheu sein Inneres darstellte, während die Andern meistens fingirte Empfin¬
dungen aussprachen. Aus dieser Naturwahrheit des Inhalts ging eine an¬
ziehende Frische und Lebhaftigkeit in die Sprache über. Aber Günther läßt
uns die Erfahrung machen, welche sich an Bürger wiederholte, daß die Sub-
jectivität nicht im Stande ist, die Dichtung in die reine Sphäre des Poetischen
zu erheben, wenn diese Subjectivität nicht selbst poetisch durchgebildet ist. Wie
Günther in sittlicher Hinsicht zwischen Reue und Vergehungen schwankt, wes¬
halb sein Vater ihn wol mit Recht einer durchgreifenden Besserung nicht für
fähig hielt, so sind seine Gedichte bald gehaltvoll und zart empfunden, bald
wieder nur der Ausfluß eines wüsten Sinnes. Wenn nun im Allgemeinen
Günther weniger durch den Werth seiner Productionen unsere Aufmerksamkeit,
erregt als durch jene suvjective Haltung, die freilich von seinen Zeitgenossen
gar nicht verstanden wurde, so verdient er es doch als der Vorbote einer auf¬
blühenden Zukunft betrachtet zu werden."

"So verdient er es doch -- !" -- Warum denn? wenn nicht durch den
Werth seiner Productionen! Doch nicht etwa durch seine Subjectivität an sich?
die sich Cholevins im Grunde nicht anders vorstellt als Menzel. -- Cholevius
hat den leitenden Gedanken der Schillerschen Recension über Bürger seinem
Urtheil zu Grunde gelegt, der aber im Allgemeinen wie im Besondern einer
genauern Fassung bedarf. -- Man kann starke Leidenschaften haben, und doch
kein großer Dichter sein; man kann seine "Subjectivität" harmonisch gebildet
haben, und doch kein großer Dichter sein. Nicht die Leidenschaft, nicht die
Bildung macht den Dichter, sondern die Fähigkeit, während der innern Auf¬
regung sich selbst und die Bewegungen der Seele im Detail anzuschaun und
sie wiederzugeben. Freilich gehört dazu starke Subjectivität, d. h. ein wirklicher
Inhalt; es gehört dazu sittliche Bildung, d. h. ein werthvoller Inhalt, der
auch andere interessirt als die guten Freunde; aber jene Fähigkeit, sich zu spie¬
geln, muß nicht blos hinzukommen, sie ist die Hauptsache. Daß Günther den
Muth hatte, sein Inneres aufzudecken, war etwas, aber noch nicht alles: er hatte
auch die Fähigkeit dazu. -- Man hat Günther oft mit Bürger verglichen,
und äußere Aehnlichkeiten springen in der That leicht in die Augen: aber auch
die Verschiedenheit ist nicht klein. Bürgers Größe liegt in den Balladen, über¬
haupt in den Gedichten, welche nicht subjectiv sind, während die Mollylieder
und Elegien mit Günthers Gedichten derselben Art nicht den geringsten Ver¬
gleich zulassen. Das "Hohelied von der Einzigen" gehört zu den langweilig¬
sten und lcdernsten Gedichten, die in deutscher Sprache geschrieben sind; nicht,
wie Schiller meinte, weil der Gegenstand und die dazu gehörige Empfindung
eine unmoralische oder eine unharmonisch gebildete war, sondern weil dem


am meistenIan Gervinus an. „Günther muß uns deshalb merkwürdig bleiben,
weil er nach Flemming und Dach wieder der erste Dichter war. welcher ohne
Scheu sein Inneres darstellte, während die Andern meistens fingirte Empfin¬
dungen aussprachen. Aus dieser Naturwahrheit des Inhalts ging eine an¬
ziehende Frische und Lebhaftigkeit in die Sprache über. Aber Günther läßt
uns die Erfahrung machen, welche sich an Bürger wiederholte, daß die Sub-
jectivität nicht im Stande ist, die Dichtung in die reine Sphäre des Poetischen
zu erheben, wenn diese Subjectivität nicht selbst poetisch durchgebildet ist. Wie
Günther in sittlicher Hinsicht zwischen Reue und Vergehungen schwankt, wes¬
halb sein Vater ihn wol mit Recht einer durchgreifenden Besserung nicht für
fähig hielt, so sind seine Gedichte bald gehaltvoll und zart empfunden, bald
wieder nur der Ausfluß eines wüsten Sinnes. Wenn nun im Allgemeinen
Günther weniger durch den Werth seiner Productionen unsere Aufmerksamkeit,
erregt als durch jene suvjective Haltung, die freilich von seinen Zeitgenossen
gar nicht verstanden wurde, so verdient er es doch als der Vorbote einer auf¬
blühenden Zukunft betrachtet zu werden."

„So verdient er es doch — !" — Warum denn? wenn nicht durch den
Werth seiner Productionen! Doch nicht etwa durch seine Subjectivität an sich?
die sich Cholevins im Grunde nicht anders vorstellt als Menzel. — Cholevius
hat den leitenden Gedanken der Schillerschen Recension über Bürger seinem
Urtheil zu Grunde gelegt, der aber im Allgemeinen wie im Besondern einer
genauern Fassung bedarf. — Man kann starke Leidenschaften haben, und doch
kein großer Dichter sein; man kann seine „Subjectivität" harmonisch gebildet
haben, und doch kein großer Dichter sein. Nicht die Leidenschaft, nicht die
Bildung macht den Dichter, sondern die Fähigkeit, während der innern Auf¬
regung sich selbst und die Bewegungen der Seele im Detail anzuschaun und
sie wiederzugeben. Freilich gehört dazu starke Subjectivität, d. h. ein wirklicher
Inhalt; es gehört dazu sittliche Bildung, d. h. ein werthvoller Inhalt, der
auch andere interessirt als die guten Freunde; aber jene Fähigkeit, sich zu spie¬
geln, muß nicht blos hinzukommen, sie ist die Hauptsache. Daß Günther den
Muth hatte, sein Inneres aufzudecken, war etwas, aber noch nicht alles: er hatte
auch die Fähigkeit dazu. — Man hat Günther oft mit Bürger verglichen,
und äußere Aehnlichkeiten springen in der That leicht in die Augen: aber auch
die Verschiedenheit ist nicht klein. Bürgers Größe liegt in den Balladen, über¬
haupt in den Gedichten, welche nicht subjectiv sind, während die Mollylieder
und Elegien mit Günthers Gedichten derselben Art nicht den geringsten Ver¬
gleich zulassen. Das „Hohelied von der Einzigen" gehört zu den langweilig¬
sten und lcdernsten Gedichten, die in deutscher Sprache geschrieben sind; nicht,
wie Schiller meinte, weil der Gegenstand und die dazu gehörige Empfindung
eine unmoralische oder eine unharmonisch gebildete war, sondern weil dem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0296" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/110102"/>
          <p xml:id="ID_870" prev="#ID_869"> am meistenIan Gervinus an. &#x201E;Günther muß uns deshalb merkwürdig bleiben,<lb/>
weil er nach Flemming und Dach wieder der erste Dichter war. welcher ohne<lb/>
Scheu sein Inneres darstellte, während die Andern meistens fingirte Empfin¬<lb/>
dungen aussprachen. Aus dieser Naturwahrheit des Inhalts ging eine an¬<lb/>
ziehende Frische und Lebhaftigkeit in die Sprache über. Aber Günther läßt<lb/>
uns die Erfahrung machen, welche sich an Bürger wiederholte, daß die Sub-<lb/>
jectivität nicht im Stande ist, die Dichtung in die reine Sphäre des Poetischen<lb/>
zu erheben, wenn diese Subjectivität nicht selbst poetisch durchgebildet ist. Wie<lb/>
Günther in sittlicher Hinsicht zwischen Reue und Vergehungen schwankt, wes¬<lb/>
halb sein Vater ihn wol mit Recht einer durchgreifenden Besserung nicht für<lb/>
fähig hielt, so sind seine Gedichte bald gehaltvoll und zart empfunden, bald<lb/>
wieder nur der Ausfluß eines wüsten Sinnes. Wenn nun im Allgemeinen<lb/>
Günther weniger durch den Werth seiner Productionen unsere Aufmerksamkeit,<lb/>
erregt als durch jene suvjective Haltung, die freilich von seinen Zeitgenossen<lb/>
gar nicht verstanden wurde, so verdient er es doch als der Vorbote einer auf¬<lb/>
blühenden Zukunft betrachtet zu werden."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_871" next="#ID_872"> &#x201E;So verdient er es doch &#x2014; !" &#x2014; Warum denn? wenn nicht durch den<lb/>
Werth seiner Productionen! Doch nicht etwa durch seine Subjectivität an sich?<lb/>
die sich Cholevins im Grunde nicht anders vorstellt als Menzel. &#x2014; Cholevius<lb/>
hat den leitenden Gedanken der Schillerschen Recension über Bürger seinem<lb/>
Urtheil zu Grunde gelegt, der aber im Allgemeinen wie im Besondern einer<lb/>
genauern Fassung bedarf. &#x2014; Man kann starke Leidenschaften haben, und doch<lb/>
kein großer Dichter sein; man kann seine &#x201E;Subjectivität" harmonisch gebildet<lb/>
haben, und doch kein großer Dichter sein. Nicht die Leidenschaft, nicht die<lb/>
Bildung macht den Dichter, sondern die Fähigkeit, während der innern Auf¬<lb/>
regung sich selbst und die Bewegungen der Seele im Detail anzuschaun und<lb/>
sie wiederzugeben. Freilich gehört dazu starke Subjectivität, d. h. ein wirklicher<lb/>
Inhalt; es gehört dazu sittliche Bildung, d. h. ein werthvoller Inhalt, der<lb/>
auch andere interessirt als die guten Freunde; aber jene Fähigkeit, sich zu spie¬<lb/>
geln, muß nicht blos hinzukommen, sie ist die Hauptsache. Daß Günther den<lb/>
Muth hatte, sein Inneres aufzudecken, war etwas, aber noch nicht alles: er hatte<lb/>
auch die Fähigkeit dazu. &#x2014; Man hat Günther oft mit Bürger verglichen,<lb/>
und äußere Aehnlichkeiten springen in der That leicht in die Augen: aber auch<lb/>
die Verschiedenheit ist nicht klein. Bürgers Größe liegt in den Balladen, über¬<lb/>
haupt in den Gedichten, welche nicht subjectiv sind, während die Mollylieder<lb/>
und Elegien mit Günthers Gedichten derselben Art nicht den geringsten Ver¬<lb/>
gleich zulassen. Das &#x201E;Hohelied von der Einzigen" gehört zu den langweilig¬<lb/>
sten und lcdernsten Gedichten, die in deutscher Sprache geschrieben sind; nicht,<lb/>
wie Schiller meinte, weil der Gegenstand und die dazu gehörige Empfindung<lb/>
eine unmoralische oder eine unharmonisch gebildete war, sondern weil dem</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0296] am meistenIan Gervinus an. „Günther muß uns deshalb merkwürdig bleiben, weil er nach Flemming und Dach wieder der erste Dichter war. welcher ohne Scheu sein Inneres darstellte, während die Andern meistens fingirte Empfin¬ dungen aussprachen. Aus dieser Naturwahrheit des Inhalts ging eine an¬ ziehende Frische und Lebhaftigkeit in die Sprache über. Aber Günther läßt uns die Erfahrung machen, welche sich an Bürger wiederholte, daß die Sub- jectivität nicht im Stande ist, die Dichtung in die reine Sphäre des Poetischen zu erheben, wenn diese Subjectivität nicht selbst poetisch durchgebildet ist. Wie Günther in sittlicher Hinsicht zwischen Reue und Vergehungen schwankt, wes¬ halb sein Vater ihn wol mit Recht einer durchgreifenden Besserung nicht für fähig hielt, so sind seine Gedichte bald gehaltvoll und zart empfunden, bald wieder nur der Ausfluß eines wüsten Sinnes. Wenn nun im Allgemeinen Günther weniger durch den Werth seiner Productionen unsere Aufmerksamkeit, erregt als durch jene suvjective Haltung, die freilich von seinen Zeitgenossen gar nicht verstanden wurde, so verdient er es doch als der Vorbote einer auf¬ blühenden Zukunft betrachtet zu werden." „So verdient er es doch — !" — Warum denn? wenn nicht durch den Werth seiner Productionen! Doch nicht etwa durch seine Subjectivität an sich? die sich Cholevins im Grunde nicht anders vorstellt als Menzel. — Cholevius hat den leitenden Gedanken der Schillerschen Recension über Bürger seinem Urtheil zu Grunde gelegt, der aber im Allgemeinen wie im Besondern einer genauern Fassung bedarf. — Man kann starke Leidenschaften haben, und doch kein großer Dichter sein; man kann seine „Subjectivität" harmonisch gebildet haben, und doch kein großer Dichter sein. Nicht die Leidenschaft, nicht die Bildung macht den Dichter, sondern die Fähigkeit, während der innern Auf¬ regung sich selbst und die Bewegungen der Seele im Detail anzuschaun und sie wiederzugeben. Freilich gehört dazu starke Subjectivität, d. h. ein wirklicher Inhalt; es gehört dazu sittliche Bildung, d. h. ein werthvoller Inhalt, der auch andere interessirt als die guten Freunde; aber jene Fähigkeit, sich zu spie¬ geln, muß nicht blos hinzukommen, sie ist die Hauptsache. Daß Günther den Muth hatte, sein Inneres aufzudecken, war etwas, aber noch nicht alles: er hatte auch die Fähigkeit dazu. — Man hat Günther oft mit Bürger verglichen, und äußere Aehnlichkeiten springen in der That leicht in die Augen: aber auch die Verschiedenheit ist nicht klein. Bürgers Größe liegt in den Balladen, über¬ haupt in den Gedichten, welche nicht subjectiv sind, während die Mollylieder und Elegien mit Günthers Gedichten derselben Art nicht den geringsten Ver¬ gleich zulassen. Das „Hohelied von der Einzigen" gehört zu den langweilig¬ sten und lcdernsten Gedichten, die in deutscher Sprache geschrieben sind; nicht, wie Schiller meinte, weil der Gegenstand und die dazu gehörige Empfindung eine unmoralische oder eine unharmonisch gebildete war, sondern weil dem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/296
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/296>, abgerufen am 25.07.2024.