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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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hob; ja in beiden letzteren wurde die Herrschaft der zünftigen Gelehrsamkeit
erst im Lauf des achtzehnten Jahrhunderts durch Wolff und durch Gottsched
auf die Spitze getrieben.

Wenn man die Pedanterie, die aus diesem Zunftwesen hervorging, mit
Recht beklagt, so darf man doch einen Umstand nicht übersehn, der zu ihrer
Rechtfertigung dient. Die deutschen Zustände waren, namentlich seit dem
dreißigjährigen Krieg, so bodenlos elend, so verächtlich und verachtet, daß man
in dem akademischen Zunftwesen den letzten Rest der bürgerlichen Ehrbarkeit
und im gewissen Sinn der bürgerlichen Ehre suchen muß. Der wirkliche Adel
war in die tiefste Roheit versunken, diese lateinisch redenden und lateinisch
denkenden oder auch nicht- denkenden Theologen. Juristen u. s. w. bildeten
eine Art von geistiger Aristokratie, welche die völlige Versumpfung des Lebens
hinderte. Freilich mußte gegen sie. als den vollendetsten Ausdruck der Unfrei¬
heit, der Hauptkampf des achtzehnten Jahrhunderts gerichtet werden; aber
durch sie ist der Kampf auch nur möglich geworden; und wenn man in der
Hitze des Kampfes gegen Wolff und Gottsched, gegen die Orthodoxie und die
zünftige Gelehrsamkeit ungerecht gewesen ist, so sind wir jetzt wol unbefangen
genug, sie als ein nothwendiges Moment unserer Entwickelung zu begreifen.

Der Pietismus hat den Kampf eröffnet, welcher das ganze achtzehnte
Jahrhundert charakterisirt, den Kampf der individuellen Freiheit gegen den
Zunftzwang, des praktischen Lebens gegen die leere Abstraction der Dogmen.
Es war kein blos äußerer Zufall, daß der erste große Kämpfer für die Frei¬
heit, daß Thomasius sich eine Zeit lang eng mit den Pietisten einließ, denn
sie bildeten denselben Gegensatz gegen die zünftige Gelehrsamkeit. Es war
auch nicht blos ein religiöser Haß, der die Pietisten gegen Wolfs aufregte,
sondern das dunkle Gefühl, daß aus diesem neuen Rationalismus ein ebenso
arger unlebendiger Zunftzwang hervorgehn werde, als aus der alten Orthodoxie.

Spener ging von dem doppelten Bedürfniß aus, dem individuell religi¬
ösen Leben des Laicnthums einen Spielraum zu öffnen, da es sich bisher
auf die Passivität des Katechisirtwerdens beschränkt hatte, und den Glauben
aus der Lehre in das praktische Leben überzuführen. Es war im Grunde
nicht eine abweichende Glaubensansicht, welche den Zorn der Orthodoxen gegen
die Pietisten erregte, sondern der Verdruß der zünftigen Gelehrsamkeit, daß
außerhalb ihres cngumschränkten Kreises sich ein geistiges Leben zu regen unter¬
stand. Freilich unterlag nicht lange daraus der eigentliche Pietismus dem
herrschenden Zeitgeist, er wurde zünftig wie seine alten Gegner: diejenigen,
die sein Werk wirklich fortführten, sind Klopstock, Herder, Göthe.

Man möge diesen Punkt der Verwandtschaft im Auge halten, um in dem
Folgenden Manches nicht gar zu unerklärlich zu finden: freilich würde man
für einzelne Umstände eine deutlichere Vermittelung wünschen.


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hob; ja in beiden letzteren wurde die Herrschaft der zünftigen Gelehrsamkeit
erst im Lauf des achtzehnten Jahrhunderts durch Wolff und durch Gottsched
auf die Spitze getrieben.

Wenn man die Pedanterie, die aus diesem Zunftwesen hervorging, mit
Recht beklagt, so darf man doch einen Umstand nicht übersehn, der zu ihrer
Rechtfertigung dient. Die deutschen Zustände waren, namentlich seit dem
dreißigjährigen Krieg, so bodenlos elend, so verächtlich und verachtet, daß man
in dem akademischen Zunftwesen den letzten Rest der bürgerlichen Ehrbarkeit
und im gewissen Sinn der bürgerlichen Ehre suchen muß. Der wirkliche Adel
war in die tiefste Roheit versunken, diese lateinisch redenden und lateinisch
denkenden oder auch nicht- denkenden Theologen. Juristen u. s. w. bildeten
eine Art von geistiger Aristokratie, welche die völlige Versumpfung des Lebens
hinderte. Freilich mußte gegen sie. als den vollendetsten Ausdruck der Unfrei¬
heit, der Hauptkampf des achtzehnten Jahrhunderts gerichtet werden; aber
durch sie ist der Kampf auch nur möglich geworden; und wenn man in der
Hitze des Kampfes gegen Wolff und Gottsched, gegen die Orthodoxie und die
zünftige Gelehrsamkeit ungerecht gewesen ist, so sind wir jetzt wol unbefangen
genug, sie als ein nothwendiges Moment unserer Entwickelung zu begreifen.

Der Pietismus hat den Kampf eröffnet, welcher das ganze achtzehnte
Jahrhundert charakterisirt, den Kampf der individuellen Freiheit gegen den
Zunftzwang, des praktischen Lebens gegen die leere Abstraction der Dogmen.
Es war kein blos äußerer Zufall, daß der erste große Kämpfer für die Frei¬
heit, daß Thomasius sich eine Zeit lang eng mit den Pietisten einließ, denn
sie bildeten denselben Gegensatz gegen die zünftige Gelehrsamkeit. Es war
auch nicht blos ein religiöser Haß, der die Pietisten gegen Wolfs aufregte,
sondern das dunkle Gefühl, daß aus diesem neuen Rationalismus ein ebenso
arger unlebendiger Zunftzwang hervorgehn werde, als aus der alten Orthodoxie.

Spener ging von dem doppelten Bedürfniß aus, dem individuell religi¬
ösen Leben des Laicnthums einen Spielraum zu öffnen, da es sich bisher
auf die Passivität des Katechisirtwerdens beschränkt hatte, und den Glauben
aus der Lehre in das praktische Leben überzuführen. Es war im Grunde
nicht eine abweichende Glaubensansicht, welche den Zorn der Orthodoxen gegen
die Pietisten erregte, sondern der Verdruß der zünftigen Gelehrsamkeit, daß
außerhalb ihres cngumschränkten Kreises sich ein geistiges Leben zu regen unter¬
stand. Freilich unterlag nicht lange daraus der eigentliche Pietismus dem
herrschenden Zeitgeist, er wurde zünftig wie seine alten Gegner: diejenigen,
die sein Werk wirklich fortführten, sind Klopstock, Herder, Göthe.

Man möge diesen Punkt der Verwandtschaft im Auge halten, um in dem
Folgenden Manches nicht gar zu unerklärlich zu finden: freilich würde man
für einzelne Umstände eine deutlichere Vermittelung wünschen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/175>, abgerufen am 04.07.2024.