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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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fähiges Volk bestellen wollen. Man berufe sich nicht auf schlechte Wahlgesetze
und Aehnliches; freilich wird die Arbeit dadurch erschwert, aber nur der Ge¬
winn hat Frucht, den man im Schweiß des Angesichts erwirbt.

Disciplin und Einheit in der allgemeinen Frage; entschiedn? Richtung
auf das individuelle Staats- und Gemeindeleben in der unmittelbaren Thä¬
tigkeit des Tages: das sind die Mittel, durch welche die liberale Partei fort¬
schreiten wird. --

Die Abwendung des Nationalvereins und der ihm nahestehenden Liberalen
von Oestreich ist ein gutes Zeichen; sie muß aber allgemeiner werden, wenn
die neue Krisis uns nicht wieder in bodenloser Verwirrung finden soll. Die
Krisis aber sieht bevor.

Bei der Zusammenkunft zu Baden hat man mehr Aufmerksamkeit auf
den Prinzregenten und die deutschen Fürsten als auf den Kaiser Napoleon ver¬
wandt. -- Was hat Napoleon in Baden gewollt?

Es gibt eine Classe von Politikern, die diesem Manne gegenüber am
sichersten zu gehen glauben, wenn sie von dem, was er sagt, das Gegentheil
sür wahr halten. Wäre er aber so leicht zu durchschauen, so wäre es mit
seiner Politik nicht weit her. -- Wir sind fest überzeugt, daß die Friedensver-
sicherungen, die er den deutschen Fürsten ertheilt, ganz ernsthaft gemeint sind,
wenigstens für jetzt; daß er, wenigstens sür jetzt, nicht die Absicht hat, einen
Krieg am Rhein zu führen.

Wollte er den Krieg führen, so hätte er es ohne diese Zusammenkunft
viel bequemer haben können: die Einigkeit Deutschlands war vor jener Zu-
sammenkunft schwächer als nach ihr, und Napoleon konnte das sehr gut be¬
rechnen. Die französische Diplomatie ist im Ganzen nicht schlecht bedient, und
über die regierenden Persönlichkeiten ziemlich gut unterrichtet. Er hat die Po>
sition, die ihm der Prinzregent anwies, unumwunden angenommen; er hat
die Stellung desselben als Schutzherrn Deutschlands nicht blos gelten lassen,
sondern sie geflissentlich und so stark als möglich markirt.

Was können seine Gründe sein? -- Ein Rheinkrieg wäre der theuerste
und gefährlichste; er wäre ein Krieg auf Leben und Tod. -- Die Conjunc-
turen sind vor der Hand so, daß er die kriegerischen Gelüste seines Volks
wohlfeiler und mit weniger Gefahr befriedigen kann.

Die italienische Frage wird sich von selbst nicht lösen. Sicilien verlangt einen
Hera; Neapel wird wahrscheinlich in kurzer Frist in derselben Lage sein. Daß
Sardinien diese Erbschaft antritt, wird -- allenfalls England ausgenommen --
keine der Großmächte wünschen; Sardinien selbst nicht, wenn es richtig rech¬
net. Ein Königreich Murat herzustellen, würde aber nicht möglich sein, ohne
offne oder stille Mitwirkung Sardiniens. Für diese Mitwirkung gibt es aber
nur einen Kaufpreis : Venetien.


fähiges Volk bestellen wollen. Man berufe sich nicht auf schlechte Wahlgesetze
und Aehnliches; freilich wird die Arbeit dadurch erschwert, aber nur der Ge¬
winn hat Frucht, den man im Schweiß des Angesichts erwirbt.

Disciplin und Einheit in der allgemeinen Frage; entschiedn? Richtung
auf das individuelle Staats- und Gemeindeleben in der unmittelbaren Thä¬
tigkeit des Tages: das sind die Mittel, durch welche die liberale Partei fort¬
schreiten wird. —

Die Abwendung des Nationalvereins und der ihm nahestehenden Liberalen
von Oestreich ist ein gutes Zeichen; sie muß aber allgemeiner werden, wenn
die neue Krisis uns nicht wieder in bodenloser Verwirrung finden soll. Die
Krisis aber sieht bevor.

Bei der Zusammenkunft zu Baden hat man mehr Aufmerksamkeit auf
den Prinzregenten und die deutschen Fürsten als auf den Kaiser Napoleon ver¬
wandt. — Was hat Napoleon in Baden gewollt?

Es gibt eine Classe von Politikern, die diesem Manne gegenüber am
sichersten zu gehen glauben, wenn sie von dem, was er sagt, das Gegentheil
sür wahr halten. Wäre er aber so leicht zu durchschauen, so wäre es mit
seiner Politik nicht weit her. — Wir sind fest überzeugt, daß die Friedensver-
sicherungen, die er den deutschen Fürsten ertheilt, ganz ernsthaft gemeint sind,
wenigstens für jetzt; daß er, wenigstens sür jetzt, nicht die Absicht hat, einen
Krieg am Rhein zu führen.

Wollte er den Krieg führen, so hätte er es ohne diese Zusammenkunft
viel bequemer haben können: die Einigkeit Deutschlands war vor jener Zu-
sammenkunft schwächer als nach ihr, und Napoleon konnte das sehr gut be¬
rechnen. Die französische Diplomatie ist im Ganzen nicht schlecht bedient, und
über die regierenden Persönlichkeiten ziemlich gut unterrichtet. Er hat die Po>
sition, die ihm der Prinzregent anwies, unumwunden angenommen; er hat
die Stellung desselben als Schutzherrn Deutschlands nicht blos gelten lassen,
sondern sie geflissentlich und so stark als möglich markirt.

Was können seine Gründe sein? — Ein Rheinkrieg wäre der theuerste
und gefährlichste; er wäre ein Krieg auf Leben und Tod. — Die Conjunc-
turen sind vor der Hand so, daß er die kriegerischen Gelüste seines Volks
wohlfeiler und mit weniger Gefahr befriedigen kann.

Die italienische Frage wird sich von selbst nicht lösen. Sicilien verlangt einen
Hera; Neapel wird wahrscheinlich in kurzer Frist in derselben Lage sein. Daß
Sardinien diese Erbschaft antritt, wird — allenfalls England ausgenommen —
keine der Großmächte wünschen; Sardinien selbst nicht, wenn es richtig rech¬
net. Ein Königreich Murat herzustellen, würde aber nicht möglich sein, ohne
offne oder stille Mitwirkung Sardiniens. Für diese Mitwirkung gibt es aber
nur einen Kaufpreis : Venetien.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/137>, abgerufen am 04.07.2024.