Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

erinnern müssen, daß dieser großartige Organismus im Keim bereits in jenem
ersten Entwurf von 1817 enthalten war.

Eine ganz ähnliche Aufgabe haben sich auf dem Gebiet der Sprache die
Gebrüder Grimm gestellt. Mehr noch als sein älterer Bruder ging Wil¬
helm in seiner Bildung von der Romantik aus. Aber es w^r nicht mehr
jene Romantik von 17S6, die im Dienst der classischen Schule, im Interesse
der kosmopolitischen Bildung, die bisher nur einseitig dem griechischen und
römischen Alterthum entlehnten Muster durch Muster aus der romanischen
Literatur und aus der Renaissance, ergänzte; die innerlich von allen Banden
der Autorität gelöst, aus ästhetischen Gründen die alten Säulen der Religion,
welche den großen Tempel der Kunst getragen, zu stützen oder wenigstens neu
aufzuputzen unternahm: sondern jene bekehrte Romantik, die sich von dem
aufgeklärten Zeitalter in ihr eigenes Innere zurückwandte, die im eigenen
Glauben zu erwecken suchte, was sie bisher nur äußerlich gepredigt. Was
uns schon in den ersten Schriften der Gebrüder Grimm, namentlich Wilhelms
auffällt, ist die sinnliche Kraft und Bestimmtheit, die alles Abstrakte bei ihm
gewinnt: selbst die Worte finden Farbe und Individualität, worüber sich
A. W. Schlegel, der Romantiker aus der classischen Schule, in den Heidelberger
Jahrbüchern sehr lustig machte; so ists mit den Rechtsformeln, den Weis-
thümern, den Sprichwörtern, den Notizen aus der Sagenwelt u. f. w. Wenn
wir von Ritter sagten, daß sein Sammelgeist von einem schöpferischen Ge¬
danken getragen war, so gilt das bei Grimm in einem ungleich höheren
Grade, wobei man freilich in Anschlag bringen muß, daß sich hier zwei ver¬
wandte, eng befreundete und doch verschiedene Geister sehr glücklich ergänzten.
Diese nervöse Reizbarkeit, welcher die Worte und Formeln gewissermaßen in
individueller Macht entgegentreten, diese Unfähigkeit, sich etwas anderes zu
denken, als was in lebendiger Fülle vorgestellt werden kann, diese, wenn man
den Ausdruck hinnehmen will, Gebundenheit der Einbildungskraft, hat für
die Sprachwissenschaft ein Gesetz und eine Methode gefunden, von der man
früher geradewegs keine Ahnung hatte. Wenn uns in manchen Schriften
Wilhelm Grimms, z. B. auch in manchen Artikeln des Wörterbuchs, die Ab¬
wesenheit jenes äußerlichen Ordnungssinnes, den man gemeine Logik nennt,
beschwerlich fällt, so dürfen wir darüber nicht vergessen, daß gerade jenes
Bedürfniß, eine Erscheinung von allen Seiten zugleich zu sehen, das freilich
manches Verwirrende nach sich zieht, dennoch allein fähig war, das positive
Leben in der Vergangenheit zu entdecken und nachzufühlen, das den Histo¬
rikern aus der alten Schule entging. Historischen Sinn in der strengen Be¬
deutung wird man Wilhelm Grimm kaum zuschreiben, da es ihm nie Be¬
dürfniß war, sich vom sittlichen zum politischen, vom Naturwuchs des mensch¬
lichen Geistes zum planmäßigen Wirken der Freiheit zu erheben; aber um das


erinnern müssen, daß dieser großartige Organismus im Keim bereits in jenem
ersten Entwurf von 1817 enthalten war.

Eine ganz ähnliche Aufgabe haben sich auf dem Gebiet der Sprache die
Gebrüder Grimm gestellt. Mehr noch als sein älterer Bruder ging Wil¬
helm in seiner Bildung von der Romantik aus. Aber es w^r nicht mehr
jene Romantik von 17S6, die im Dienst der classischen Schule, im Interesse
der kosmopolitischen Bildung, die bisher nur einseitig dem griechischen und
römischen Alterthum entlehnten Muster durch Muster aus der romanischen
Literatur und aus der Renaissance, ergänzte; die innerlich von allen Banden
der Autorität gelöst, aus ästhetischen Gründen die alten Säulen der Religion,
welche den großen Tempel der Kunst getragen, zu stützen oder wenigstens neu
aufzuputzen unternahm: sondern jene bekehrte Romantik, die sich von dem
aufgeklärten Zeitalter in ihr eigenes Innere zurückwandte, die im eigenen
Glauben zu erwecken suchte, was sie bisher nur äußerlich gepredigt. Was
uns schon in den ersten Schriften der Gebrüder Grimm, namentlich Wilhelms
auffällt, ist die sinnliche Kraft und Bestimmtheit, die alles Abstrakte bei ihm
gewinnt: selbst die Worte finden Farbe und Individualität, worüber sich
A. W. Schlegel, der Romantiker aus der classischen Schule, in den Heidelberger
Jahrbüchern sehr lustig machte; so ists mit den Rechtsformeln, den Weis-
thümern, den Sprichwörtern, den Notizen aus der Sagenwelt u. f. w. Wenn
wir von Ritter sagten, daß sein Sammelgeist von einem schöpferischen Ge¬
danken getragen war, so gilt das bei Grimm in einem ungleich höheren
Grade, wobei man freilich in Anschlag bringen muß, daß sich hier zwei ver¬
wandte, eng befreundete und doch verschiedene Geister sehr glücklich ergänzten.
Diese nervöse Reizbarkeit, welcher die Worte und Formeln gewissermaßen in
individueller Macht entgegentreten, diese Unfähigkeit, sich etwas anderes zu
denken, als was in lebendiger Fülle vorgestellt werden kann, diese, wenn man
den Ausdruck hinnehmen will, Gebundenheit der Einbildungskraft, hat für
die Sprachwissenschaft ein Gesetz und eine Methode gefunden, von der man
früher geradewegs keine Ahnung hatte. Wenn uns in manchen Schriften
Wilhelm Grimms, z. B. auch in manchen Artikeln des Wörterbuchs, die Ab¬
wesenheit jenes äußerlichen Ordnungssinnes, den man gemeine Logik nennt,
beschwerlich fällt, so dürfen wir darüber nicht vergessen, daß gerade jenes
Bedürfniß, eine Erscheinung von allen Seiten zugleich zu sehen, das freilich
manches Verwirrende nach sich zieht, dennoch allein fähig war, das positive
Leben in der Vergangenheit zu entdecken und nachzufühlen, das den Histo¬
rikern aus der alten Schule entging. Historischen Sinn in der strengen Be¬
deutung wird man Wilhelm Grimm kaum zuschreiben, da es ihm nie Be¬
dürfniß war, sich vom sittlichen zum politischen, vom Naturwuchs des mensch¬
lichen Geistes zum planmäßigen Wirken der Freiheit zu erheben; aber um das


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0084" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/108806"/>
          <p xml:id="ID_247" prev="#ID_246"> erinnern müssen, daß dieser großartige Organismus im Keim bereits in jenem<lb/>
ersten Entwurf von 1817 enthalten war.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_248" next="#ID_249"> Eine ganz ähnliche Aufgabe haben sich auf dem Gebiet der Sprache die<lb/>
Gebrüder Grimm gestellt. Mehr noch als sein älterer Bruder ging Wil¬<lb/>
helm in seiner Bildung von der Romantik aus. Aber es w^r nicht mehr<lb/>
jene Romantik von 17S6, die im Dienst der classischen Schule, im Interesse<lb/>
der kosmopolitischen Bildung, die bisher nur einseitig dem griechischen und<lb/>
römischen Alterthum entlehnten Muster durch Muster aus der romanischen<lb/>
Literatur und aus der Renaissance, ergänzte; die innerlich von allen Banden<lb/>
der Autorität gelöst, aus ästhetischen Gründen die alten Säulen der Religion,<lb/>
welche den großen Tempel der Kunst getragen, zu stützen oder wenigstens neu<lb/>
aufzuputzen unternahm: sondern jene bekehrte Romantik, die sich von dem<lb/>
aufgeklärten Zeitalter in ihr eigenes Innere zurückwandte, die im eigenen<lb/>
Glauben zu erwecken suchte, was sie bisher nur äußerlich gepredigt. Was<lb/>
uns schon in den ersten Schriften der Gebrüder Grimm, namentlich Wilhelms<lb/>
auffällt, ist die sinnliche Kraft und Bestimmtheit, die alles Abstrakte bei ihm<lb/>
gewinnt: selbst die Worte finden Farbe und Individualität, worüber sich<lb/>
A. W. Schlegel, der Romantiker aus der classischen Schule, in den Heidelberger<lb/>
Jahrbüchern sehr lustig machte; so ists mit den Rechtsformeln, den Weis-<lb/>
thümern, den Sprichwörtern, den Notizen aus der Sagenwelt u. f. w. Wenn<lb/>
wir von Ritter sagten, daß sein Sammelgeist von einem schöpferischen Ge¬<lb/>
danken getragen war, so gilt das bei Grimm in einem ungleich höheren<lb/>
Grade, wobei man freilich in Anschlag bringen muß, daß sich hier zwei ver¬<lb/>
wandte, eng befreundete und doch verschiedene Geister sehr glücklich ergänzten.<lb/>
Diese nervöse Reizbarkeit, welcher die Worte und Formeln gewissermaßen in<lb/>
individueller Macht entgegentreten, diese Unfähigkeit, sich etwas anderes zu<lb/>
denken, als was in lebendiger Fülle vorgestellt werden kann, diese, wenn man<lb/>
den Ausdruck hinnehmen will, Gebundenheit der Einbildungskraft, hat für<lb/>
die Sprachwissenschaft ein Gesetz und eine Methode gefunden, von der man<lb/>
früher geradewegs keine Ahnung hatte. Wenn uns in manchen Schriften<lb/>
Wilhelm Grimms, z. B. auch in manchen Artikeln des Wörterbuchs, die Ab¬<lb/>
wesenheit jenes äußerlichen Ordnungssinnes, den man gemeine Logik nennt,<lb/>
beschwerlich fällt, so dürfen wir darüber nicht vergessen, daß gerade jenes<lb/>
Bedürfniß, eine Erscheinung von allen Seiten zugleich zu sehen, das freilich<lb/>
manches Verwirrende nach sich zieht, dennoch allein fähig war, das positive<lb/>
Leben in der Vergangenheit zu entdecken und nachzufühlen, das den Histo¬<lb/>
rikern aus der alten Schule entging. Historischen Sinn in der strengen Be¬<lb/>
deutung wird man Wilhelm Grimm kaum zuschreiben, da es ihm nie Be¬<lb/>
dürfniß war, sich vom sittlichen zum politischen, vom Naturwuchs des mensch¬<lb/>
lichen Geistes zum planmäßigen Wirken der Freiheit zu erheben; aber um das</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0084] erinnern müssen, daß dieser großartige Organismus im Keim bereits in jenem ersten Entwurf von 1817 enthalten war. Eine ganz ähnliche Aufgabe haben sich auf dem Gebiet der Sprache die Gebrüder Grimm gestellt. Mehr noch als sein älterer Bruder ging Wil¬ helm in seiner Bildung von der Romantik aus. Aber es w^r nicht mehr jene Romantik von 17S6, die im Dienst der classischen Schule, im Interesse der kosmopolitischen Bildung, die bisher nur einseitig dem griechischen und römischen Alterthum entlehnten Muster durch Muster aus der romanischen Literatur und aus der Renaissance, ergänzte; die innerlich von allen Banden der Autorität gelöst, aus ästhetischen Gründen die alten Säulen der Religion, welche den großen Tempel der Kunst getragen, zu stützen oder wenigstens neu aufzuputzen unternahm: sondern jene bekehrte Romantik, die sich von dem aufgeklärten Zeitalter in ihr eigenes Innere zurückwandte, die im eigenen Glauben zu erwecken suchte, was sie bisher nur äußerlich gepredigt. Was uns schon in den ersten Schriften der Gebrüder Grimm, namentlich Wilhelms auffällt, ist die sinnliche Kraft und Bestimmtheit, die alles Abstrakte bei ihm gewinnt: selbst die Worte finden Farbe und Individualität, worüber sich A. W. Schlegel, der Romantiker aus der classischen Schule, in den Heidelberger Jahrbüchern sehr lustig machte; so ists mit den Rechtsformeln, den Weis- thümern, den Sprichwörtern, den Notizen aus der Sagenwelt u. f. w. Wenn wir von Ritter sagten, daß sein Sammelgeist von einem schöpferischen Ge¬ danken getragen war, so gilt das bei Grimm in einem ungleich höheren Grade, wobei man freilich in Anschlag bringen muß, daß sich hier zwei ver¬ wandte, eng befreundete und doch verschiedene Geister sehr glücklich ergänzten. Diese nervöse Reizbarkeit, welcher die Worte und Formeln gewissermaßen in individueller Macht entgegentreten, diese Unfähigkeit, sich etwas anderes zu denken, als was in lebendiger Fülle vorgestellt werden kann, diese, wenn man den Ausdruck hinnehmen will, Gebundenheit der Einbildungskraft, hat für die Sprachwissenschaft ein Gesetz und eine Methode gefunden, von der man früher geradewegs keine Ahnung hatte. Wenn uns in manchen Schriften Wilhelm Grimms, z. B. auch in manchen Artikeln des Wörterbuchs, die Ab¬ wesenheit jenes äußerlichen Ordnungssinnes, den man gemeine Logik nennt, beschwerlich fällt, so dürfen wir darüber nicht vergessen, daß gerade jenes Bedürfniß, eine Erscheinung von allen Seiten zugleich zu sehen, das freilich manches Verwirrende nach sich zieht, dennoch allein fähig war, das positive Leben in der Vergangenheit zu entdecken und nachzufühlen, das den Histo¬ rikern aus der alten Schule entging. Historischen Sinn in der strengen Be¬ deutung wird man Wilhelm Grimm kaum zuschreiben, da es ihm nie Be¬ dürfniß war, sich vom sittlichen zum politischen, vom Naturwuchs des mensch¬ lichen Geistes zum planmäßigen Wirken der Freiheit zu erheben; aber um das

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/84
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/84>, abgerufen am 23.07.2024.