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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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die Beziehungen zu England und Frankreich thun. Es ist wahr, die di¬
plomatische Sprache Lord Russells zeichnet sich durchweg durch eine gewisse
jugendliche Ungenirtheit aus, aber der Ton, der hier gegen Preußen angestimmt
wird, ist doch noch nicht dagewesen, und was das Schlimmste ist, der preu¬
ßische Minister scheint durch diesen Ton gar nicht überrascht zu werden. Frei¬
lich, wenn man im November den Vorschlag Englands, das Prinzip der
Nichtintervention für Italien festzustellen, entschieden zurückweist und im Ja¬
nuar mit demselben Vorschlag England entgegenkommt -- was für einen Ton
soll man da eigentlich erwarten? -- Vielleicht sind diese Actenstücke verfälscht
oder ungenau? -- Das ist sehr möglich; dann aber wird es H. v. Schleinil)
wahrscheinlich so machen, wie mit den östreichischen Anklagen nach dem Frieden
von Villafranca: er wird erst abwarten, bis jene Papiere ihre volle Wirkung
gethan und dann, wenn sie längst vergessen sind, wird er sie widerlegen.
'

Wir wollen auf den Kern der Sache eingehn, Im Inhalt freilich von der
Politik des H. v. Manteuffel himmelweit verschieden, ist die Politik des neuen
Eabinets in der Form mit ihr noch immer identisch: es ist die sogenannte
Politik der freien Hand. Indem Preußen sich von vornherein zu nichts
verpflichtet, sich mit Niemand engagirt, glaubt es dadurch allen übrigen Mäch¬
ten überlegen zu sein und die letzte Entscheidung in der Hand zu haben.
Diese Politik hätte aber nur Sinn, wenn Preußen so mächtig wäre, allenfalls
drei seiner Nachbarn zu gleicher Zeit niederzuschlagen; da es aber keinem ein¬
zigen von ihnen gewachsen ist, so ist sein Verfahren zweckwidrig und gefahr¬
voll; denn die wirkliche Freiheit der Ballon hat nur der Stärkere, nicht der
Schwächere. Man hat über den Satz des H. v. Manteuffel: "der Starke
geht zurück!" viel gespottet; es ist aber doch ein Sinn darin, denn nur dem
Starken ist es wirklich möglich, nach Belieben zurückzugehn, und da Stärke
nur ein relativer Begriff ist, so konnte sich Preußen allenfalls noch in der ol-
mützcr Zeit einen Starken nennen. Jedenfalls waren seine Gegner auch keine
Helden. Es könnte aber einmal mit einem Stärkeren zu thun haben, und
dann würde ihm auch das Zurückgchn nicht ohne Weiteres möglich sein;
wenigstens wäre die Grenze dieses Zurückgehns nicht leicht nach Wunsch fest¬
zustellen.

Soviel stellt sich aus der Correspondenz klar heraus, daß Preußen mit
England auf gar keinem Fuß steht; wie es sich mit Frankreich gestellt hat, dar¬
über klärt uns die bezaubernde Naivetät des französischen Bevollmächtigten auf.
Auf die Bemerkung des H. v. Schleinitz, Deutschland werde über die Ein¬
verleibung Savoyens sehr ungehalten sein, antwortet er mit der ausgesuchte¬
sten Höflichkeit: eben darum hat man noch nichts davon gesagt! -- Zur
Diplomatie ist doch viel Kaltblütigkeit nöthig.

Mit Rußland scheint Preußen etwas besser zu stehn, d. h. beid" unter-


die Beziehungen zu England und Frankreich thun. Es ist wahr, die di¬
plomatische Sprache Lord Russells zeichnet sich durchweg durch eine gewisse
jugendliche Ungenirtheit aus, aber der Ton, der hier gegen Preußen angestimmt
wird, ist doch noch nicht dagewesen, und was das Schlimmste ist, der preu¬
ßische Minister scheint durch diesen Ton gar nicht überrascht zu werden. Frei¬
lich, wenn man im November den Vorschlag Englands, das Prinzip der
Nichtintervention für Italien festzustellen, entschieden zurückweist und im Ja¬
nuar mit demselben Vorschlag England entgegenkommt — was für einen Ton
soll man da eigentlich erwarten? — Vielleicht sind diese Actenstücke verfälscht
oder ungenau? — Das ist sehr möglich; dann aber wird es H. v. Schleinil)
wahrscheinlich so machen, wie mit den östreichischen Anklagen nach dem Frieden
von Villafranca: er wird erst abwarten, bis jene Papiere ihre volle Wirkung
gethan und dann, wenn sie längst vergessen sind, wird er sie widerlegen.
'

Wir wollen auf den Kern der Sache eingehn, Im Inhalt freilich von der
Politik des H. v. Manteuffel himmelweit verschieden, ist die Politik des neuen
Eabinets in der Form mit ihr noch immer identisch: es ist die sogenannte
Politik der freien Hand. Indem Preußen sich von vornherein zu nichts
verpflichtet, sich mit Niemand engagirt, glaubt es dadurch allen übrigen Mäch¬
ten überlegen zu sein und die letzte Entscheidung in der Hand zu haben.
Diese Politik hätte aber nur Sinn, wenn Preußen so mächtig wäre, allenfalls
drei seiner Nachbarn zu gleicher Zeit niederzuschlagen; da es aber keinem ein¬
zigen von ihnen gewachsen ist, so ist sein Verfahren zweckwidrig und gefahr¬
voll; denn die wirkliche Freiheit der Ballon hat nur der Stärkere, nicht der
Schwächere. Man hat über den Satz des H. v. Manteuffel: „der Starke
geht zurück!" viel gespottet; es ist aber doch ein Sinn darin, denn nur dem
Starken ist es wirklich möglich, nach Belieben zurückzugehn, und da Stärke
nur ein relativer Begriff ist, so konnte sich Preußen allenfalls noch in der ol-
mützcr Zeit einen Starken nennen. Jedenfalls waren seine Gegner auch keine
Helden. Es könnte aber einmal mit einem Stärkeren zu thun haben, und
dann würde ihm auch das Zurückgchn nicht ohne Weiteres möglich sein;
wenigstens wäre die Grenze dieses Zurückgehns nicht leicht nach Wunsch fest¬
zustellen.

Soviel stellt sich aus der Correspondenz klar heraus, daß Preußen mit
England auf gar keinem Fuß steht; wie es sich mit Frankreich gestellt hat, dar¬
über klärt uns die bezaubernde Naivetät des französischen Bevollmächtigten auf.
Auf die Bemerkung des H. v. Schleinitz, Deutschland werde über die Ein¬
verleibung Savoyens sehr ungehalten sein, antwortet er mit der ausgesuchte¬
sten Höflichkeit: eben darum hat man noch nichts davon gesagt! — Zur
Diplomatie ist doch viel Kaltblütigkeit nöthig.

Mit Rußland scheint Preußen etwas besser zu stehn, d. h. beid» unter-


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[0498] die Beziehungen zu England und Frankreich thun. Es ist wahr, die di¬ plomatische Sprache Lord Russells zeichnet sich durchweg durch eine gewisse jugendliche Ungenirtheit aus, aber der Ton, der hier gegen Preußen angestimmt wird, ist doch noch nicht dagewesen, und was das Schlimmste ist, der preu¬ ßische Minister scheint durch diesen Ton gar nicht überrascht zu werden. Frei¬ lich, wenn man im November den Vorschlag Englands, das Prinzip der Nichtintervention für Italien festzustellen, entschieden zurückweist und im Ja¬ nuar mit demselben Vorschlag England entgegenkommt — was für einen Ton soll man da eigentlich erwarten? — Vielleicht sind diese Actenstücke verfälscht oder ungenau? — Das ist sehr möglich; dann aber wird es H. v. Schleinil) wahrscheinlich so machen, wie mit den östreichischen Anklagen nach dem Frieden von Villafranca: er wird erst abwarten, bis jene Papiere ihre volle Wirkung gethan und dann, wenn sie längst vergessen sind, wird er sie widerlegen. ' Wir wollen auf den Kern der Sache eingehn, Im Inhalt freilich von der Politik des H. v. Manteuffel himmelweit verschieden, ist die Politik des neuen Eabinets in der Form mit ihr noch immer identisch: es ist die sogenannte Politik der freien Hand. Indem Preußen sich von vornherein zu nichts verpflichtet, sich mit Niemand engagirt, glaubt es dadurch allen übrigen Mäch¬ ten überlegen zu sein und die letzte Entscheidung in der Hand zu haben. Diese Politik hätte aber nur Sinn, wenn Preußen so mächtig wäre, allenfalls drei seiner Nachbarn zu gleicher Zeit niederzuschlagen; da es aber keinem ein¬ zigen von ihnen gewachsen ist, so ist sein Verfahren zweckwidrig und gefahr¬ voll; denn die wirkliche Freiheit der Ballon hat nur der Stärkere, nicht der Schwächere. Man hat über den Satz des H. v. Manteuffel: „der Starke geht zurück!" viel gespottet; es ist aber doch ein Sinn darin, denn nur dem Starken ist es wirklich möglich, nach Belieben zurückzugehn, und da Stärke nur ein relativer Begriff ist, so konnte sich Preußen allenfalls noch in der ol- mützcr Zeit einen Starken nennen. Jedenfalls waren seine Gegner auch keine Helden. Es könnte aber einmal mit einem Stärkeren zu thun haben, und dann würde ihm auch das Zurückgchn nicht ohne Weiteres möglich sein; wenigstens wäre die Grenze dieses Zurückgehns nicht leicht nach Wunsch fest¬ zustellen. Soviel stellt sich aus der Correspondenz klar heraus, daß Preußen mit England auf gar keinem Fuß steht; wie es sich mit Frankreich gestellt hat, dar¬ über klärt uns die bezaubernde Naivetät des französischen Bevollmächtigten auf. Auf die Bemerkung des H. v. Schleinitz, Deutschland werde über die Ein¬ verleibung Savoyens sehr ungehalten sein, antwortet er mit der ausgesuchte¬ sten Höflichkeit: eben darum hat man noch nichts davon gesagt! — Zur Diplomatie ist doch viel Kaltblütigkeit nöthig. Mit Rußland scheint Preußen etwas besser zu stehn, d. h. beid» unter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/498>, abgerufen am 23.07.2024.