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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Ich fürchte. Herr Röpe nimmt Lessings Herabsetzung der damals modernen
Theologie der alten orthodoxen gegenüber zu ernstlich, oder vielmehr zu un¬
eingeschränkt, weil er seine Freude daran hat. Daß Lessing die alte Theologie
für falsch und unhaltbar, für unreines nicht mehr brauchbares Wasser er¬
kannte und die Orthodoxen verachtete, kann er freilich nicht läugnen. Aber
Lessing verachtete doch, wie er selbst erklärte, die neumodischen Geistlichen
noch viel mehr. Ganz recht; aber warum? Weil sie, sagte er, Theologen
viel zu wenig, und Philosophen lange nicht genug sind. Weil sie uns unter
dem Vorwande, uns zu vernünftigen Christen zu machen, zu höchst unvernünf¬
tigen Philosophen machen. Also nicht daß Theologie und Philosophie in Be¬
rührung traten, nicht daß die letztere einen läuternden, fortbildenden Einfluß
auf die erstere zu gewinnen suchte, tadelt Lessing, sondern nur daß die bis¬
herigen Vermittler dieses Processes so seichte Philosophen, so oberflächliche
Theologen, und darum die Mischung, die sie zuwege brachten, eine so unreine,
sich selbst widersprechende war. Wie also, wenn einer kam, der Philosoph
genug und Theolog nicht zu wenig war? Wenn einer, der in beiden Fächern
auf den Grund sah, sich um die Fortbildung der Theologie durch die Philo¬
sophie bemühte? Wenn dieser hoffte, statt des unreinen Wassers der alten
und der Mistjauche der bisherigen ncuernden Theologie reineres Wasser zu
gewinnen? Und das hätte sich Lessing nicht zutrauen dürfen? Er hat es
ja wirklich geleistet, wie auch der Verf. nicht ganz verkennt, und würde es
noch vollständiger geleistet haben, wäre ihm vergönnt gewesen, die theologischen
Entwürfe seines Nachlasses auszuführen.

Allein warum bekannte er denn nicht offen, daß er mit seinem Fragmentisten
in der Hauptsache einverstanden sei? Fürs Erste darum nicht, weil er es nicht war.
An.Betrug als betheiligt bei dem Ursprung des Christenthums, hat Lessing sicher
nicht gedacht. Einer großen Anzahl von Schwierigkeiten entging er auch da¬
durch, daß er die Annahme einer wörtlichen Eingebung der biblischen Schriften
wie natürlich fallen ließ. Manches, was bei dieser Annahme, aus der heraus
der Fragmentist gegen seine orthodoxen Gegner so glücklich operirte, ein höchst
anstößiger Widerspruch war, wurde ohne dieselbe, die Evangelisten als blos
menschliche Geschichtschreiber betrachtet, zur unverfänglichen Abweichung ver¬
schiedener Beobachter oder Wiedererzähler. Zweitens aber und hauptsächlich
stand der Verfasser der Erziehung des Menschengeschlechts nicht wie Reimarus
auf dem Standpunkt einer spröden Vernunftreligion, die der geoffenbarten im
schroffsten Gegensatz gegenüberlag, sondern auf dem geschichtsphilosopischen,
der eben in der Reihe der positiven Religionen selbst die Entwicklung der na¬
türlichen Religion erkennt. Lessings Vernunftreligion war, wenn man einen
neueren Kunstausdruck erlauben will, den geoffenbarten Religionen immanent,
nicht transscendent, und demgemäß wollte auch er seinen Standpunkt nehmen.


Ich fürchte. Herr Röpe nimmt Lessings Herabsetzung der damals modernen
Theologie der alten orthodoxen gegenüber zu ernstlich, oder vielmehr zu un¬
eingeschränkt, weil er seine Freude daran hat. Daß Lessing die alte Theologie
für falsch und unhaltbar, für unreines nicht mehr brauchbares Wasser er¬
kannte und die Orthodoxen verachtete, kann er freilich nicht läugnen. Aber
Lessing verachtete doch, wie er selbst erklärte, die neumodischen Geistlichen
noch viel mehr. Ganz recht; aber warum? Weil sie, sagte er, Theologen
viel zu wenig, und Philosophen lange nicht genug sind. Weil sie uns unter
dem Vorwande, uns zu vernünftigen Christen zu machen, zu höchst unvernünf¬
tigen Philosophen machen. Also nicht daß Theologie und Philosophie in Be¬
rührung traten, nicht daß die letztere einen läuternden, fortbildenden Einfluß
auf die erstere zu gewinnen suchte, tadelt Lessing, sondern nur daß die bis¬
herigen Vermittler dieses Processes so seichte Philosophen, so oberflächliche
Theologen, und darum die Mischung, die sie zuwege brachten, eine so unreine,
sich selbst widersprechende war. Wie also, wenn einer kam, der Philosoph
genug und Theolog nicht zu wenig war? Wenn einer, der in beiden Fächern
auf den Grund sah, sich um die Fortbildung der Theologie durch die Philo¬
sophie bemühte? Wenn dieser hoffte, statt des unreinen Wassers der alten
und der Mistjauche der bisherigen ncuernden Theologie reineres Wasser zu
gewinnen? Und das hätte sich Lessing nicht zutrauen dürfen? Er hat es
ja wirklich geleistet, wie auch der Verf. nicht ganz verkennt, und würde es
noch vollständiger geleistet haben, wäre ihm vergönnt gewesen, die theologischen
Entwürfe seines Nachlasses auszuführen.

Allein warum bekannte er denn nicht offen, daß er mit seinem Fragmentisten
in der Hauptsache einverstanden sei? Fürs Erste darum nicht, weil er es nicht war.
An.Betrug als betheiligt bei dem Ursprung des Christenthums, hat Lessing sicher
nicht gedacht. Einer großen Anzahl von Schwierigkeiten entging er auch da¬
durch, daß er die Annahme einer wörtlichen Eingebung der biblischen Schriften
wie natürlich fallen ließ. Manches, was bei dieser Annahme, aus der heraus
der Fragmentist gegen seine orthodoxen Gegner so glücklich operirte, ein höchst
anstößiger Widerspruch war, wurde ohne dieselbe, die Evangelisten als blos
menschliche Geschichtschreiber betrachtet, zur unverfänglichen Abweichung ver¬
schiedener Beobachter oder Wiedererzähler. Zweitens aber und hauptsächlich
stand der Verfasser der Erziehung des Menschengeschlechts nicht wie Reimarus
auf dem Standpunkt einer spröden Vernunftreligion, die der geoffenbarten im
schroffsten Gegensatz gegenüberlag, sondern auf dem geschichtsphilosopischen,
der eben in der Reihe der positiven Religionen selbst die Entwicklung der na¬
türlichen Religion erkennt. Lessings Vernunftreligion war, wenn man einen
neueren Kunstausdruck erlauben will, den geoffenbarten Religionen immanent,
nicht transscendent, und demgemäß wollte auch er seinen Standpunkt nehmen.


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[0464] Ich fürchte. Herr Röpe nimmt Lessings Herabsetzung der damals modernen Theologie der alten orthodoxen gegenüber zu ernstlich, oder vielmehr zu un¬ eingeschränkt, weil er seine Freude daran hat. Daß Lessing die alte Theologie für falsch und unhaltbar, für unreines nicht mehr brauchbares Wasser er¬ kannte und die Orthodoxen verachtete, kann er freilich nicht läugnen. Aber Lessing verachtete doch, wie er selbst erklärte, die neumodischen Geistlichen noch viel mehr. Ganz recht; aber warum? Weil sie, sagte er, Theologen viel zu wenig, und Philosophen lange nicht genug sind. Weil sie uns unter dem Vorwande, uns zu vernünftigen Christen zu machen, zu höchst unvernünf¬ tigen Philosophen machen. Also nicht daß Theologie und Philosophie in Be¬ rührung traten, nicht daß die letztere einen läuternden, fortbildenden Einfluß auf die erstere zu gewinnen suchte, tadelt Lessing, sondern nur daß die bis¬ herigen Vermittler dieses Processes so seichte Philosophen, so oberflächliche Theologen, und darum die Mischung, die sie zuwege brachten, eine so unreine, sich selbst widersprechende war. Wie also, wenn einer kam, der Philosoph genug und Theolog nicht zu wenig war? Wenn einer, der in beiden Fächern auf den Grund sah, sich um die Fortbildung der Theologie durch die Philo¬ sophie bemühte? Wenn dieser hoffte, statt des unreinen Wassers der alten und der Mistjauche der bisherigen ncuernden Theologie reineres Wasser zu gewinnen? Und das hätte sich Lessing nicht zutrauen dürfen? Er hat es ja wirklich geleistet, wie auch der Verf. nicht ganz verkennt, und würde es noch vollständiger geleistet haben, wäre ihm vergönnt gewesen, die theologischen Entwürfe seines Nachlasses auszuführen. Allein warum bekannte er denn nicht offen, daß er mit seinem Fragmentisten in der Hauptsache einverstanden sei? Fürs Erste darum nicht, weil er es nicht war. An.Betrug als betheiligt bei dem Ursprung des Christenthums, hat Lessing sicher nicht gedacht. Einer großen Anzahl von Schwierigkeiten entging er auch da¬ durch, daß er die Annahme einer wörtlichen Eingebung der biblischen Schriften wie natürlich fallen ließ. Manches, was bei dieser Annahme, aus der heraus der Fragmentist gegen seine orthodoxen Gegner so glücklich operirte, ein höchst anstößiger Widerspruch war, wurde ohne dieselbe, die Evangelisten als blos menschliche Geschichtschreiber betrachtet, zur unverfänglichen Abweichung ver¬ schiedener Beobachter oder Wiedererzähler. Zweitens aber und hauptsächlich stand der Verfasser der Erziehung des Menschengeschlechts nicht wie Reimarus auf dem Standpunkt einer spröden Vernunftreligion, die der geoffenbarten im schroffsten Gegensatz gegenüberlag, sondern auf dem geschichtsphilosopischen, der eben in der Reihe der positiven Religionen selbst die Entwicklung der na¬ türlichen Religion erkennt. Lessings Vernunftreligion war, wenn man einen neueren Kunstausdruck erlauben will, den geoffenbarten Religionen immanent, nicht transscendent, und demgemäß wollte auch er seinen Standpunkt nehmen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/464>, abgerufen am 25.08.2024.