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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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manchen Sah zum Behuf Streits hinstelle, den er, wenn es sich um Dar¬
legung seiner Ueberzeugungen handelte, nicht aufstellen würde; daß er sich
gegen Göze schlechterdings in die Positur gesetzt habe, daß ihm dieser nicht
als einem Unchristen beisammen könne; ja er hat sich zuletzt, mit Berufung
auf des Apostels Paulus Verfahren im jüdischen Synedrium zwischen Phari¬
säern und Scidducäern, ein besonderes Vergnügen daraus gemacht, durch ein
scheinbares Compliment für den Katholicismus sich gegen die lutherischen
Eiferer zu decken.

Die von Lessing herausgegebenen Fragmente aus dem Werke von Herr¬
mann Samuel Reimarus hatten die Glaubwürdigkeit der Bibel, die Wahr¬
heit der biblischen Geschichte in Abrede gestellt. Dadurch meinten damals
Bekenner wie Widersacher der christlichen Religion diese selbst gefährdet. Les¬
sing war dieser Meinung nicht, er sagte vielmehr: die Bibel ist nicht die
Religion, so wenig der Buchstabe der Geist ist. Diese Unabhängigkeit der
Religion von der Bibel läßt nun Herr Röpe wie einst Göze, nur für die
Vernunftreligion gelten, nicht für die christliche. Wenn sie Lessing auch von
dieser behaupte, und zwar in Ausdrücken, als glaubte er selbst auch an sie.
so sei dies ein täuschendes Spiel mit Worten gewesen. Der Unterschied
zwischen christlicher Religion und der Religion Christi, den er später gemacht,
könne ihm für jenen Streit nicht zu Gute kommen. "Die Religion, welche
Lessing hatte und wollte," sagt der Verf., "bedürfte keiner historischen That¬
sachen, und die, welche der historischen Thatsachen bedürfte, wollte er nicht.
Aber dies mochte er nicht eingestehen, und somit richtete er seine Angriffe blos
gegen die Autorität der historischen Urkunden, immer vorgebend, daß er die
Thatsachen selbst nicht bezweifle" (S. 216).

In diese unwahre Stellung, meint Herr R., sei Lessing unvermerkt in
der Hitze des unerwartet sich wendenden Streites hineingerathen. Ursprünglich
habe er dnrch die Herausgabe der Fragmente, als einer "noch feineren Unter¬
suchung des Kanon", nicht die Orthodoxen, sondern die neuernden Theologen,
die Semlcr, Teller, Spalding. in Verlegenheit setzen, ihnen zeigen wollen, daß,
wenn einmal von Kritik die Rede sein solle, man mit ihr auch Ernst machen,
consequent bis zum letzten Ziele fortgehen müsse, nicht beliebig, wo das Weiter¬
gehen bedenklich erscheine, Halt machen dürfe. Erst wie sich die Orthodoxen
durch seine den Fragmenten beigegebenen Gegensätze nicht haben beruhigen
lassen, sondern gleichfalls gegen ihn losgebrochen seien, habe er ungern auch
gegen sie Front machen, und, um sich gleichwol noch auf christlichem Boden
zu behaupten, eine Stellung einnehmen müssen, die an Zweideutigkeit der jener
ihm so verächtlichen neumodischen Theologen nichts nachgegeben habe. Er
sei, was er sonst so weit von sich gewiesen, selbst ein Kuppler der Wahrheit
geworden.


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manchen Sah zum Behuf Streits hinstelle, den er, wenn es sich um Dar¬
legung seiner Ueberzeugungen handelte, nicht aufstellen würde; daß er sich
gegen Göze schlechterdings in die Positur gesetzt habe, daß ihm dieser nicht
als einem Unchristen beisammen könne; ja er hat sich zuletzt, mit Berufung
auf des Apostels Paulus Verfahren im jüdischen Synedrium zwischen Phari¬
säern und Scidducäern, ein besonderes Vergnügen daraus gemacht, durch ein
scheinbares Compliment für den Katholicismus sich gegen die lutherischen
Eiferer zu decken.

Die von Lessing herausgegebenen Fragmente aus dem Werke von Herr¬
mann Samuel Reimarus hatten die Glaubwürdigkeit der Bibel, die Wahr¬
heit der biblischen Geschichte in Abrede gestellt. Dadurch meinten damals
Bekenner wie Widersacher der christlichen Religion diese selbst gefährdet. Les¬
sing war dieser Meinung nicht, er sagte vielmehr: die Bibel ist nicht die
Religion, so wenig der Buchstabe der Geist ist. Diese Unabhängigkeit der
Religion von der Bibel läßt nun Herr Röpe wie einst Göze, nur für die
Vernunftreligion gelten, nicht für die christliche. Wenn sie Lessing auch von
dieser behaupte, und zwar in Ausdrücken, als glaubte er selbst auch an sie.
so sei dies ein täuschendes Spiel mit Worten gewesen. Der Unterschied
zwischen christlicher Religion und der Religion Christi, den er später gemacht,
könne ihm für jenen Streit nicht zu Gute kommen. „Die Religion, welche
Lessing hatte und wollte," sagt der Verf., „bedürfte keiner historischen That¬
sachen, und die, welche der historischen Thatsachen bedürfte, wollte er nicht.
Aber dies mochte er nicht eingestehen, und somit richtete er seine Angriffe blos
gegen die Autorität der historischen Urkunden, immer vorgebend, daß er die
Thatsachen selbst nicht bezweifle" (S. 216).

In diese unwahre Stellung, meint Herr R., sei Lessing unvermerkt in
der Hitze des unerwartet sich wendenden Streites hineingerathen. Ursprünglich
habe er dnrch die Herausgabe der Fragmente, als einer „noch feineren Unter¬
suchung des Kanon", nicht die Orthodoxen, sondern die neuernden Theologen,
die Semlcr, Teller, Spalding. in Verlegenheit setzen, ihnen zeigen wollen, daß,
wenn einmal von Kritik die Rede sein solle, man mit ihr auch Ernst machen,
consequent bis zum letzten Ziele fortgehen müsse, nicht beliebig, wo das Weiter¬
gehen bedenklich erscheine, Halt machen dürfe. Erst wie sich die Orthodoxen
durch seine den Fragmenten beigegebenen Gegensätze nicht haben beruhigen
lassen, sondern gleichfalls gegen ihn losgebrochen seien, habe er ungern auch
gegen sie Front machen, und, um sich gleichwol noch auf christlichem Boden
zu behaupten, eine Stellung einnehmen müssen, die an Zweideutigkeit der jener
ihm so verächtlichen neumodischen Theologen nichts nachgegeben habe. Er
sei, was er sonst so weit von sich gewiesen, selbst ein Kuppler der Wahrheit
geworden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/463>, abgerufen am 25.08.2024.