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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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seinem Herzen; und: wir wissen, daß ein Todtschläger nicht hat das ewige
Leben bei ihm bleibend; als gegen welche Sprüche der Goethesche Roman
der verwegenste Widerspruch sei. Warum macht ein solches Auftreten auch
auf einen Solchen den Eindruck des Abgeschmackten, der den Inhalt jener
Sprüche als sittliche Wahrheit anerkennt? Deswegen, weil sie in dieser Form
auf die für Werther schwärmende Jugend unmöglich Eindruck machen konnte.
Die Zeit wollte diese sittlichen Wahrheiten als solche menschlich begründet med
entwickelt, nicht als geoffenbarte Gottcsgebote sich entgegengeworfen haben.
(Zuocleuirnzuo ostemlis midi sie, inoreclulus veli.

Aber ehrlich war Göze, und noch eins, er war consequent. Er stellte sich
auf den Boden des orthodoxen Lutherthums, und auf dem war ihm nichts
anzuhaben. Das wußte Lessing gar wohl, und darum rief er gegen Luthers
Buchstaben Luthers Geist an. Dieses lutherischen Geistes, urtheilte er, habe
sein Widersacher keinen Funken. "Wer bringt uns endlich," redete er den
Reformator an, "ein Christenthum, wie du es jetzt lehren würdest?" Diese
Berufung, meint nun freilich Herr Nvpe, habe Luther längst im Voraus zurück¬
gewiesen. Am Schlüsse seines großen Bekenntnisses vom Abendmahl schreibe
er ja, ob Jemand nach seinem Tode sagen würde, so der Luther jetzt lebte,
würde er diesen oder jenen Artikel anders lehren oder halten, denn er habe ihn
im Leben nicht genugsam bedacht, dem erwidere er jetzt wie dann und dann
wie jetzt, daß er Alles wohl bedacht habe und nie anders lehren würde
(S. 186 Anm.). Da haben wir schon wieder das Geschmückchen. Wenn sich
einer darauf beruft, daß ein längst Verstorbener jetzt über Manches anders als
bei seinen Lebzeiten sprechen würde, was will er damit sagen? Offenbar, daß
ein Geist wie der Abgeschiedene, wenn er alles das auf sich hätte wirken
lassen, was seit seinem Tode in der Welt vorgegangen, wenn er alle die
Bildungsmittel benutzen könnte, die uns jetzt zur Verfügung stehen, daß er
dann, hell und empfänglich und vorschreitend wie er war, auch seine Ansichten
wesentlich um- und fortgebildet haben würde. Und hiegegen beruft sich Herr
R. auf ein Wort Luthers bei Leibesleben, also ehe und ohne daß alles das
auf ihn gewirkt hatte, ja auch nur von ihm geahnt werden konnte, worauf
die Voraussetzung, daß er jetzt anders lehren würde, begründet war. Im
Geiste seines Helden ist solche Widerlegung allerdings, aber geistreich können
wir sie nicht finden.

Daß nun dem ehrlichen Streiter Göze gegenüber Lessing nicht ehrlich zu
Werke gegangen, sucht der Vers, hauptsächlich dadurch zu beweisen, daß er
seine öffentlichen Aeußerungen in den Streitschriften wider Göze durch die
Privatäußerungen seiner gleichzeitigen freundschaftlichen Briefe controlirte.
seinem Bruder und andern Vertrauten hat er ja längst, wie jedermann weiß,
eingestanden, daß er seine Waffen nach dem Gegner einrichte, und daher


seinem Herzen; und: wir wissen, daß ein Todtschläger nicht hat das ewige
Leben bei ihm bleibend; als gegen welche Sprüche der Goethesche Roman
der verwegenste Widerspruch sei. Warum macht ein solches Auftreten auch
auf einen Solchen den Eindruck des Abgeschmackten, der den Inhalt jener
Sprüche als sittliche Wahrheit anerkennt? Deswegen, weil sie in dieser Form
auf die für Werther schwärmende Jugend unmöglich Eindruck machen konnte.
Die Zeit wollte diese sittlichen Wahrheiten als solche menschlich begründet med
entwickelt, nicht als geoffenbarte Gottcsgebote sich entgegengeworfen haben.
(Zuocleuirnzuo ostemlis midi sie, inoreclulus veli.

Aber ehrlich war Göze, und noch eins, er war consequent. Er stellte sich
auf den Boden des orthodoxen Lutherthums, und auf dem war ihm nichts
anzuhaben. Das wußte Lessing gar wohl, und darum rief er gegen Luthers
Buchstaben Luthers Geist an. Dieses lutherischen Geistes, urtheilte er, habe
sein Widersacher keinen Funken. „Wer bringt uns endlich," redete er den
Reformator an, „ein Christenthum, wie du es jetzt lehren würdest?" Diese
Berufung, meint nun freilich Herr Nvpe, habe Luther längst im Voraus zurück¬
gewiesen. Am Schlüsse seines großen Bekenntnisses vom Abendmahl schreibe
er ja, ob Jemand nach seinem Tode sagen würde, so der Luther jetzt lebte,
würde er diesen oder jenen Artikel anders lehren oder halten, denn er habe ihn
im Leben nicht genugsam bedacht, dem erwidere er jetzt wie dann und dann
wie jetzt, daß er Alles wohl bedacht habe und nie anders lehren würde
(S. 186 Anm.). Da haben wir schon wieder das Geschmückchen. Wenn sich
einer darauf beruft, daß ein längst Verstorbener jetzt über Manches anders als
bei seinen Lebzeiten sprechen würde, was will er damit sagen? Offenbar, daß
ein Geist wie der Abgeschiedene, wenn er alles das auf sich hätte wirken
lassen, was seit seinem Tode in der Welt vorgegangen, wenn er alle die
Bildungsmittel benutzen könnte, die uns jetzt zur Verfügung stehen, daß er
dann, hell und empfänglich und vorschreitend wie er war, auch seine Ansichten
wesentlich um- und fortgebildet haben würde. Und hiegegen beruft sich Herr
R. auf ein Wort Luthers bei Leibesleben, also ehe und ohne daß alles das
auf ihn gewirkt hatte, ja auch nur von ihm geahnt werden konnte, worauf
die Voraussetzung, daß er jetzt anders lehren würde, begründet war. Im
Geiste seines Helden ist solche Widerlegung allerdings, aber geistreich können
wir sie nicht finden.

Daß nun dem ehrlichen Streiter Göze gegenüber Lessing nicht ehrlich zu
Werke gegangen, sucht der Vers, hauptsächlich dadurch zu beweisen, daß er
seine öffentlichen Aeußerungen in den Streitschriften wider Göze durch die
Privatäußerungen seiner gleichzeitigen freundschaftlichen Briefe controlirte.
seinem Bruder und andern Vertrauten hat er ja längst, wie jedermann weiß,
eingestanden, daß er seine Waffen nach dem Gegner einrichte, und daher


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[0462] seinem Herzen; und: wir wissen, daß ein Todtschläger nicht hat das ewige Leben bei ihm bleibend; als gegen welche Sprüche der Goethesche Roman der verwegenste Widerspruch sei. Warum macht ein solches Auftreten auch auf einen Solchen den Eindruck des Abgeschmackten, der den Inhalt jener Sprüche als sittliche Wahrheit anerkennt? Deswegen, weil sie in dieser Form auf die für Werther schwärmende Jugend unmöglich Eindruck machen konnte. Die Zeit wollte diese sittlichen Wahrheiten als solche menschlich begründet med entwickelt, nicht als geoffenbarte Gottcsgebote sich entgegengeworfen haben. (Zuocleuirnzuo ostemlis midi sie, inoreclulus veli. Aber ehrlich war Göze, und noch eins, er war consequent. Er stellte sich auf den Boden des orthodoxen Lutherthums, und auf dem war ihm nichts anzuhaben. Das wußte Lessing gar wohl, und darum rief er gegen Luthers Buchstaben Luthers Geist an. Dieses lutherischen Geistes, urtheilte er, habe sein Widersacher keinen Funken. „Wer bringt uns endlich," redete er den Reformator an, „ein Christenthum, wie du es jetzt lehren würdest?" Diese Berufung, meint nun freilich Herr Nvpe, habe Luther längst im Voraus zurück¬ gewiesen. Am Schlüsse seines großen Bekenntnisses vom Abendmahl schreibe er ja, ob Jemand nach seinem Tode sagen würde, so der Luther jetzt lebte, würde er diesen oder jenen Artikel anders lehren oder halten, denn er habe ihn im Leben nicht genugsam bedacht, dem erwidere er jetzt wie dann und dann wie jetzt, daß er Alles wohl bedacht habe und nie anders lehren würde (S. 186 Anm.). Da haben wir schon wieder das Geschmückchen. Wenn sich einer darauf beruft, daß ein längst Verstorbener jetzt über Manches anders als bei seinen Lebzeiten sprechen würde, was will er damit sagen? Offenbar, daß ein Geist wie der Abgeschiedene, wenn er alles das auf sich hätte wirken lassen, was seit seinem Tode in der Welt vorgegangen, wenn er alle die Bildungsmittel benutzen könnte, die uns jetzt zur Verfügung stehen, daß er dann, hell und empfänglich und vorschreitend wie er war, auch seine Ansichten wesentlich um- und fortgebildet haben würde. Und hiegegen beruft sich Herr R. auf ein Wort Luthers bei Leibesleben, also ehe und ohne daß alles das auf ihn gewirkt hatte, ja auch nur von ihm geahnt werden konnte, worauf die Voraussetzung, daß er jetzt anders lehren würde, begründet war. Im Geiste seines Helden ist solche Widerlegung allerdings, aber geistreich können wir sie nicht finden. Daß nun dem ehrlichen Streiter Göze gegenüber Lessing nicht ehrlich zu Werke gegangen, sucht der Vers, hauptsächlich dadurch zu beweisen, daß er seine öffentlichen Aeußerungen in den Streitschriften wider Göze durch die Privatäußerungen seiner gleichzeitigen freundschaftlichen Briefe controlirte. seinem Bruder und andern Vertrauten hat er ja längst, wie jedermann weiß, eingestanden, daß er seine Waffen nach dem Gegner einrichte, und daher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/462>, abgerufen am 25.08.2024.