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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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sehen, erhalten sie den Antrieb durch deutsche Einwanderer, welche Handwerke
treiben. Zünfte bilden und nach lübecker oder Magdeburger Recht leben. Bei
den Czechen ist das am unmittelbarsten, ausgedehntesten und nachhaltigsten
geschehen, und in ähnlicher Weise flössen ihnen andere Errungenschaften der
Arbeit des deutschen Geistes zu.

Wir sind weit entfernt von der Behauptung, daß es den bölnniscben
Slawen, daß es den Slawen überhaupt an guten Anlagen fehle; sie zeigen
mancherlei Fertigkeiten, große Gewandtheit und Anstelligkeit, lernen mit Leich¬
tigkeit fremde Sprachen und nehmen rasch eine gewisse Politur an, sie ent¬
wickeln Talente in der Musik, besitzen einen Schatz schöner Volkslieder und
repräsentiren in der europäischen Völkerfamilie die besten Tänzer. In allem
Uebrigen haben sie sich bis jetzt lediglich receptiv verhalten. Sie haben es
zu keiner Mannigfaltigkeit, keinem Reichthum der Lebensformen gebracht, haben
weder in der Kunst noch in der Wissenschaft, noch auch in der Industrie aus
sich selbst heraus etwas Originales und Epochemachendes geleistet.

Was man uns aus der Vergangenheit entgegenhalten kann! Prag, die
erste mitteleuropäische Universität, Huß, den ersten Reformator an der Grenze
des Mittelalters, hält vor der Geschichte nicht Stich. Prag war damals schon
weit mehr eine deutsche als eine czechische Stadt, Huß war von England her
angeregt, und die Bewegung, die er hervorrief, gewann erst Jntensivität, als
sich der Racenhaß ihrer bemächtigte.

Aehnlich steht es mit den Gegenbeweisen, die man aus der Gegenwart
schöpfen könnte. Die Czechen besitzen einige Gelehrte von bedeutendem Range,
aber gerade die Führer der Bewegung, welche das Czechenthum weckte und
ihm einen neuen Inhalt gab, waren entweder von deutschem Blut oder min¬
destens deutscher Bildung. Pelzel und Dombrowski, welche den ersten Anstoß
gaben, schrieben zugleich in deutscher Sprache, Jungmann und Puchinayer, die
ihnen folgten, hatten einen deutschen Vater, Schaffarik studirte auf einer deut¬
schen Hochschule, und in gleicher Weise wurzelte Palatzkis gelehrte Bildung,
wurzelten die Principien, nach denen die übrigen Glieder dieser Schule ihre
Forschungen anstellten, in der deutschen Wissenschaft. Sollte dies bei dem
Entdecker der Königinhofener Handschnft nicht zutreffen -- was uns aus guten
Gründen nicht Wunder nehmen würde -- so könnten wir diesen Anspruch getrost
fahren lassen, und unterscheiden sich die andern gelehrten Czechen von den
Vertretern deutscher Gelehrsamkeit, so zeigt der Charakter ihres wissenschaft¬
lichen Verfahrens nur einen Mangel, keinen Vorzug. Wenn sie eine bewun-
dernswerthe Gewandtheit in der Analyse entwickelten, so fehlte es ihnen fast
gänzlich an der Begabung zur Synthese. Sie studirten mit großem Eifer
Sprache, Alterthümer, Geographie. Volkspoesie und Sagen der Czechen und
andrer Slawenstamme, aber sie kümmerten sich wenig oder gar nicht um die


sehen, erhalten sie den Antrieb durch deutsche Einwanderer, welche Handwerke
treiben. Zünfte bilden und nach lübecker oder Magdeburger Recht leben. Bei
den Czechen ist das am unmittelbarsten, ausgedehntesten und nachhaltigsten
geschehen, und in ähnlicher Weise flössen ihnen andere Errungenschaften der
Arbeit des deutschen Geistes zu.

Wir sind weit entfernt von der Behauptung, daß es den bölnniscben
Slawen, daß es den Slawen überhaupt an guten Anlagen fehle; sie zeigen
mancherlei Fertigkeiten, große Gewandtheit und Anstelligkeit, lernen mit Leich¬
tigkeit fremde Sprachen und nehmen rasch eine gewisse Politur an, sie ent¬
wickeln Talente in der Musik, besitzen einen Schatz schöner Volkslieder und
repräsentiren in der europäischen Völkerfamilie die besten Tänzer. In allem
Uebrigen haben sie sich bis jetzt lediglich receptiv verhalten. Sie haben es
zu keiner Mannigfaltigkeit, keinem Reichthum der Lebensformen gebracht, haben
weder in der Kunst noch in der Wissenschaft, noch auch in der Industrie aus
sich selbst heraus etwas Originales und Epochemachendes geleistet.

Was man uns aus der Vergangenheit entgegenhalten kann! Prag, die
erste mitteleuropäische Universität, Huß, den ersten Reformator an der Grenze
des Mittelalters, hält vor der Geschichte nicht Stich. Prag war damals schon
weit mehr eine deutsche als eine czechische Stadt, Huß war von England her
angeregt, und die Bewegung, die er hervorrief, gewann erst Jntensivität, als
sich der Racenhaß ihrer bemächtigte.

Aehnlich steht es mit den Gegenbeweisen, die man aus der Gegenwart
schöpfen könnte. Die Czechen besitzen einige Gelehrte von bedeutendem Range,
aber gerade die Führer der Bewegung, welche das Czechenthum weckte und
ihm einen neuen Inhalt gab, waren entweder von deutschem Blut oder min¬
destens deutscher Bildung. Pelzel und Dombrowski, welche den ersten Anstoß
gaben, schrieben zugleich in deutscher Sprache, Jungmann und Puchinayer, die
ihnen folgten, hatten einen deutschen Vater, Schaffarik studirte auf einer deut¬
schen Hochschule, und in gleicher Weise wurzelte Palatzkis gelehrte Bildung,
wurzelten die Principien, nach denen die übrigen Glieder dieser Schule ihre
Forschungen anstellten, in der deutschen Wissenschaft. Sollte dies bei dem
Entdecker der Königinhofener Handschnft nicht zutreffen — was uns aus guten
Gründen nicht Wunder nehmen würde — so könnten wir diesen Anspruch getrost
fahren lassen, und unterscheiden sich die andern gelehrten Czechen von den
Vertretern deutscher Gelehrsamkeit, so zeigt der Charakter ihres wissenschaft¬
lichen Verfahrens nur einen Mangel, keinen Vorzug. Wenn sie eine bewun-
dernswerthe Gewandtheit in der Analyse entwickelten, so fehlte es ihnen fast
gänzlich an der Begabung zur Synthese. Sie studirten mit großem Eifer
Sprache, Alterthümer, Geographie. Volkspoesie und Sagen der Czechen und
andrer Slawenstamme, aber sie kümmerten sich wenig oder gar nicht um die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/433>, abgerufen am 23.07.2024.