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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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wieder relativ, denn Erfahrungen in der Geschichte des christlichen Bewußtseins
hatte Goethe viel mehr gemacht.

Von dem 100jährigen Geburtstag Schillers wenden wir uns zum Wjäh-
rigen Arndts, dessen gesammelte Gedichte soeben in Berlin bei Weidmann
erschienen sind. Zehn Jahre Unterschied, und eine ganz andere Culturwelt
tritt uns entgegen. Hier ist wirklich eine echte und tiefe Religiosität vorhan¬
den, eine Religiosität, die nicht ganz mit dem lutherischen Katechismus zu¬
sammenfällt, aber doch in der Hauptsache deutsch protestantisch christlich ist.
Der Gott, der in Arndts Gedichten gefeiert wird, ist nicht mehr blos der con-
siitutionelle König des Himmels, wie ihn der Deismus beschreibt, sondern.ein
starker, lebendiger Gott, von dem man ein beständiges Eingreifen in die
menschlichen Angelegenheiten voraussetzt. Man hat Schiller mahl blos zu einem
Christen, sondern auch zu einem deutschen Patrioten machen wollen, und einer
von seinen ungeschickten Verehrern hat als Beleg die Briefstelle angeführt:
"die Liebe zum Baterlande ist mächtig in mir geworden"; dabei aber über¬
sehen, daß dies Vaterland nicht Deutschland, sondern Württemberg war, und daß
dies Vaterlandsgefühl auf einer Reise von Jena nach Stuttgart herauskam.
Bei Arndt dagegen ist das Vaterland der Mittelpunkt aller Gedanken und Em¬
pfindungen. Die starke Vaterlandsliebe ist nicht immer das Zeichen politischer
Gesundheit, so wie es nicht el" Zeichen physischer Gesundheit ist, locum man
seinen Körper fühlt; sie regt sich am stärksten bei bedrohten, unglücklichen,
unterjochten Völkern. Daß man also 1807 lebhafter an das Vaterland dachte,
als 1770, läßt sich leicht begreifen. Zudem haben Goethe, Schiller und die
übrigen Kosmopoliten das Beste dazu gethan, den Deutschen ihr Vaterland
werth zu machen, und dadurch indirect die patriotische Periode vorbereitet.
Indessen würde es auch sehr unrichtig sein, wenn man jenen Satz umkehren,
und in der Abwesenheit des Nationalgefühls ein Zeichen der Gesundheit sehen
wollte.

Arndt gehört zu jenen Dichtern, deren wahrhaft schöpferische Kraft sich
auf einen bestimmten Zeitraum beschränkt. Einige von diesen Dichtern haben
das bestimmte Gefühl davon und hören dann zu dichten auf, wie z. B. Uh-
land; bei Arndt war das nicht der Fall. Einige seiner Lieder, diejenigen,
die sich auf die Freiheitskriege beziehn, gehören zu den schönsten, die in deut¬
scher Sprache gesungen sind, und werden voraussichtlich uicht früher untergehn,
als diese Sprache selbst. Was aber die übrigen Lieder betrifft -- und die
Zahl ist ziemlich groß -- so ist der Abstand ganz unglaublich. Von ursprüng¬
licher poetischer Lebenskraft ist fast keine Spur darin, und selbst in der Classe der
Nachahmungen gehören sie. keineswegs in den ersten Rang; für die Geschichte
seiner Bildung sind sie immerhin von Wichtigkeit.

Ueber einen neuen plattdeutschen Dichter John Bnnkmann l^agel


wieder relativ, denn Erfahrungen in der Geschichte des christlichen Bewußtseins
hatte Goethe viel mehr gemacht.

Von dem 100jährigen Geburtstag Schillers wenden wir uns zum Wjäh-
rigen Arndts, dessen gesammelte Gedichte soeben in Berlin bei Weidmann
erschienen sind. Zehn Jahre Unterschied, und eine ganz andere Culturwelt
tritt uns entgegen. Hier ist wirklich eine echte und tiefe Religiosität vorhan¬
den, eine Religiosität, die nicht ganz mit dem lutherischen Katechismus zu¬
sammenfällt, aber doch in der Hauptsache deutsch protestantisch christlich ist.
Der Gott, der in Arndts Gedichten gefeiert wird, ist nicht mehr blos der con-
siitutionelle König des Himmels, wie ihn der Deismus beschreibt, sondern.ein
starker, lebendiger Gott, von dem man ein beständiges Eingreifen in die
menschlichen Angelegenheiten voraussetzt. Man hat Schiller mahl blos zu einem
Christen, sondern auch zu einem deutschen Patrioten machen wollen, und einer
von seinen ungeschickten Verehrern hat als Beleg die Briefstelle angeführt:
„die Liebe zum Baterlande ist mächtig in mir geworden"; dabei aber über¬
sehen, daß dies Vaterland nicht Deutschland, sondern Württemberg war, und daß
dies Vaterlandsgefühl auf einer Reise von Jena nach Stuttgart herauskam.
Bei Arndt dagegen ist das Vaterland der Mittelpunkt aller Gedanken und Em¬
pfindungen. Die starke Vaterlandsliebe ist nicht immer das Zeichen politischer
Gesundheit, so wie es nicht el» Zeichen physischer Gesundheit ist, locum man
seinen Körper fühlt; sie regt sich am stärksten bei bedrohten, unglücklichen,
unterjochten Völkern. Daß man also 1807 lebhafter an das Vaterland dachte,
als 1770, läßt sich leicht begreifen. Zudem haben Goethe, Schiller und die
übrigen Kosmopoliten das Beste dazu gethan, den Deutschen ihr Vaterland
werth zu machen, und dadurch indirect die patriotische Periode vorbereitet.
Indessen würde es auch sehr unrichtig sein, wenn man jenen Satz umkehren,
und in der Abwesenheit des Nationalgefühls ein Zeichen der Gesundheit sehen
wollte.

Arndt gehört zu jenen Dichtern, deren wahrhaft schöpferische Kraft sich
auf einen bestimmten Zeitraum beschränkt. Einige von diesen Dichtern haben
das bestimmte Gefühl davon und hören dann zu dichten auf, wie z. B. Uh-
land; bei Arndt war das nicht der Fall. Einige seiner Lieder, diejenigen,
die sich auf die Freiheitskriege beziehn, gehören zu den schönsten, die in deut¬
scher Sprache gesungen sind, und werden voraussichtlich uicht früher untergehn,
als diese Sprache selbst. Was aber die übrigen Lieder betrifft — und die
Zahl ist ziemlich groß — so ist der Abstand ganz unglaublich. Von ursprüng¬
licher poetischer Lebenskraft ist fast keine Spur darin, und selbst in der Classe der
Nachahmungen gehören sie. keineswegs in den ersten Rang; für die Geschichte
seiner Bildung sind sie immerhin von Wichtigkeit.

Ueber einen neuen plattdeutschen Dichter John Bnnkmann l^agel


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[0426] wieder relativ, denn Erfahrungen in der Geschichte des christlichen Bewußtseins hatte Goethe viel mehr gemacht. Von dem 100jährigen Geburtstag Schillers wenden wir uns zum Wjäh- rigen Arndts, dessen gesammelte Gedichte soeben in Berlin bei Weidmann erschienen sind. Zehn Jahre Unterschied, und eine ganz andere Culturwelt tritt uns entgegen. Hier ist wirklich eine echte und tiefe Religiosität vorhan¬ den, eine Religiosität, die nicht ganz mit dem lutherischen Katechismus zu¬ sammenfällt, aber doch in der Hauptsache deutsch protestantisch christlich ist. Der Gott, der in Arndts Gedichten gefeiert wird, ist nicht mehr blos der con- siitutionelle König des Himmels, wie ihn der Deismus beschreibt, sondern.ein starker, lebendiger Gott, von dem man ein beständiges Eingreifen in die menschlichen Angelegenheiten voraussetzt. Man hat Schiller mahl blos zu einem Christen, sondern auch zu einem deutschen Patrioten machen wollen, und einer von seinen ungeschickten Verehrern hat als Beleg die Briefstelle angeführt: „die Liebe zum Baterlande ist mächtig in mir geworden"; dabei aber über¬ sehen, daß dies Vaterland nicht Deutschland, sondern Württemberg war, und daß dies Vaterlandsgefühl auf einer Reise von Jena nach Stuttgart herauskam. Bei Arndt dagegen ist das Vaterland der Mittelpunkt aller Gedanken und Em¬ pfindungen. Die starke Vaterlandsliebe ist nicht immer das Zeichen politischer Gesundheit, so wie es nicht el» Zeichen physischer Gesundheit ist, locum man seinen Körper fühlt; sie regt sich am stärksten bei bedrohten, unglücklichen, unterjochten Völkern. Daß man also 1807 lebhafter an das Vaterland dachte, als 1770, läßt sich leicht begreifen. Zudem haben Goethe, Schiller und die übrigen Kosmopoliten das Beste dazu gethan, den Deutschen ihr Vaterland werth zu machen, und dadurch indirect die patriotische Periode vorbereitet. Indessen würde es auch sehr unrichtig sein, wenn man jenen Satz umkehren, und in der Abwesenheit des Nationalgefühls ein Zeichen der Gesundheit sehen wollte. Arndt gehört zu jenen Dichtern, deren wahrhaft schöpferische Kraft sich auf einen bestimmten Zeitraum beschränkt. Einige von diesen Dichtern haben das bestimmte Gefühl davon und hören dann zu dichten auf, wie z. B. Uh- land; bei Arndt war das nicht der Fall. Einige seiner Lieder, diejenigen, die sich auf die Freiheitskriege beziehn, gehören zu den schönsten, die in deut¬ scher Sprache gesungen sind, und werden voraussichtlich uicht früher untergehn, als diese Sprache selbst. Was aber die übrigen Lieder betrifft — und die Zahl ist ziemlich groß — so ist der Abstand ganz unglaublich. Von ursprüng¬ licher poetischer Lebenskraft ist fast keine Spur darin, und selbst in der Classe der Nachahmungen gehören sie. keineswegs in den ersten Rang; für die Geschichte seiner Bildung sind sie immerhin von Wichtigkeit. Ueber einen neuen plattdeutschen Dichter John Bnnkmann l^agel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/426>, abgerufen am 23.07.2024.