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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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nen Entschlüssen nachträglich den innern Zusammenhang nachzuweisen, der
wirklich darin vorhanden war. In dieser Beziehung war Thouvenel's erste
Depesche, die Antwort auf die englischen vier Punkte, musterhaft abgefaßt.
Noch viel musterhafter ist die Antwort auf die päpstliche Encyklika. Thou-
venel scheint nicht blos ein geschickter Diplomat, sondern auch ein logischer
Kopf zu sein. Die Depesche enthält nichts als was zur Sache gehört, aber
ihr Thema führt sie mit einer Dialektik durch, daß nicht der mindeste Wider¬
spruch übrig bleibt. Sie geht nicht auf die Sache selbst ein, auf die Abtre¬
tung der Legationen; sie beschränkt sich daraus, nachzuweisen, daß diese Ange¬
legenheit nur nach weltlichen Gesichtspunkten geschlichtet werden kann, daß
die Dogmatik der katholischen Kirche mit der Frage nach der Grenze des Kir¬
chenstaats nicht das Mindeste zu thun hat. Wird die preußische Regierung,
die doch protestantisch ist. aus dieser Denkschrift eines katholischen Ministers
etwas lernen? Wird sie eine Antwort finden auf das Ansinnen preußischer
Bischöfe: der preußische Staat solle seine Politik nach den Dogmen der allein
selig machenden Kirche einrichten? Wird sie diesem Ansinnen entgegenhalten,
daß selbst, wenn der preußische Staat dazu gewillt wäre, er doch nicht zugeben
könne, daß die Integrität des Kirchenstaats ein Dogma der allein selig ma¬
chenden Kirche sei? Wird der preußische Landtag sich zu der Anfrage an seine
Regierung ermannen, was man denn auf dieses Ansinnen für einen Bescheid
ertheilt habe? Eine Anfrage, die um so mel/r gerechtfertigt sein dürfte, da
bereits eine Stimme im Herrenhaus die Ansicht der Bischöfe vertreten hat,
und da die Agitation für den Papst durch ganz Deutschland in einer Weise
fortgetrieben wird, die dem Protestantismus nicht blos Aergerniß, sondern
auch Gefahr bringt.

Wir sind entschieden nicht der Absicht, daß der preußische Landtag haupt¬
sächlich die Aufgabe habe, sich die Aufmerksamkeit und den Beifall des deut¬
schen Publikums zu erwerben: er hat seine bestimmt vorgeschriebenen Pflichten
zu erfüllen; aber wenn das eine mit dem andern zusammenfällt, und wenn
nebenbei die Zeit drängt, da jeder Augenblick die Entscheidung bringen kann,
so hat doch wohl der preußische Patriot und der Freund Preußens das Recht,
es zu beklagen, daß grade im Mittelpunkt des preußischen Lebens das Blut
so langsam fließt. Wie oft man sich auch wiederholen mag, daß die Stel¬
lung, welche Preußen in Deutschland beansprucht, nicht auf irgend einen Vor¬
zug des preußischen Fürstenhauses vor andern Fürstenhäusern, nicht auf einen
Vorzug des preußischen Volkes vor andern deutschen Völkern sich gründet,
sondern lediglich auf die politische Nothwendigkeit'; so bleiben die Menschen
doch immer Menschen, sie wollen sich nicht nach abstracten Berechnungen, son¬
dern nach dem lebendigen Gefühl, am liebsten nach dem unmittelbaren Ein¬
druck bedeutender Persönlichkeiten bestimmen, und wenn diese Persönlichkeiten,


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nen Entschlüssen nachträglich den innern Zusammenhang nachzuweisen, der
wirklich darin vorhanden war. In dieser Beziehung war Thouvenel's erste
Depesche, die Antwort auf die englischen vier Punkte, musterhaft abgefaßt.
Noch viel musterhafter ist die Antwort auf die päpstliche Encyklika. Thou-
venel scheint nicht blos ein geschickter Diplomat, sondern auch ein logischer
Kopf zu sein. Die Depesche enthält nichts als was zur Sache gehört, aber
ihr Thema führt sie mit einer Dialektik durch, daß nicht der mindeste Wider¬
spruch übrig bleibt. Sie geht nicht auf die Sache selbst ein, auf die Abtre¬
tung der Legationen; sie beschränkt sich daraus, nachzuweisen, daß diese Ange¬
legenheit nur nach weltlichen Gesichtspunkten geschlichtet werden kann, daß
die Dogmatik der katholischen Kirche mit der Frage nach der Grenze des Kir¬
chenstaats nicht das Mindeste zu thun hat. Wird die preußische Regierung,
die doch protestantisch ist. aus dieser Denkschrift eines katholischen Ministers
etwas lernen? Wird sie eine Antwort finden auf das Ansinnen preußischer
Bischöfe: der preußische Staat solle seine Politik nach den Dogmen der allein
selig machenden Kirche einrichten? Wird sie diesem Ansinnen entgegenhalten,
daß selbst, wenn der preußische Staat dazu gewillt wäre, er doch nicht zugeben
könne, daß die Integrität des Kirchenstaats ein Dogma der allein selig ma¬
chenden Kirche sei? Wird der preußische Landtag sich zu der Anfrage an seine
Regierung ermannen, was man denn auf dieses Ansinnen für einen Bescheid
ertheilt habe? Eine Anfrage, die um so mel/r gerechtfertigt sein dürfte, da
bereits eine Stimme im Herrenhaus die Ansicht der Bischöfe vertreten hat,
und da die Agitation für den Papst durch ganz Deutschland in einer Weise
fortgetrieben wird, die dem Protestantismus nicht blos Aergerniß, sondern
auch Gefahr bringt.

Wir sind entschieden nicht der Absicht, daß der preußische Landtag haupt¬
sächlich die Aufgabe habe, sich die Aufmerksamkeit und den Beifall des deut¬
schen Publikums zu erwerben: er hat seine bestimmt vorgeschriebenen Pflichten
zu erfüllen; aber wenn das eine mit dem andern zusammenfällt, und wenn
nebenbei die Zeit drängt, da jeder Augenblick die Entscheidung bringen kann,
so hat doch wohl der preußische Patriot und der Freund Preußens das Recht,
es zu beklagen, daß grade im Mittelpunkt des preußischen Lebens das Blut
so langsam fließt. Wie oft man sich auch wiederholen mag, daß die Stel¬
lung, welche Preußen in Deutschland beansprucht, nicht auf irgend einen Vor¬
zug des preußischen Fürstenhauses vor andern Fürstenhäusern, nicht auf einen
Vorzug des preußischen Volkes vor andern deutschen Völkern sich gründet,
sondern lediglich auf die politische Nothwendigkeit'; so bleiben die Menschen
doch immer Menschen, sie wollen sich nicht nach abstracten Berechnungen, son¬
dern nach dem lebendigen Gefühl, am liebsten nach dem unmittelbaren Ein¬
druck bedeutender Persönlichkeiten bestimmen, und wenn diese Persönlichkeiten,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/335>, abgerufen am 23.07.2024.