Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Warum gerade die besten unter den römischen Kaisern die Christen verfolgten,
ist allgemein bekannt; was soll aber eigentlich daraus gefolgert werden? Wer
hat aus das Glück der Menschen wohlthätiger eingewirkt, Trajan oder Como-
dus? Der erste verfolgte die Christen, der letztere nicht. Damit ist also gar
nichts bewiesen. -- Was die spanischen Inquisitoren betrifft, so sind wir mit
dem Detail zu wenig bekannt, um über die angebliche Thatsache urtheilen zu
können, doch ist es uns sehr unwahrscheinlich, daß die unrichtige Erkenntniß
in Religionsangelegenheiten mehr zu dieser Verfolgung beigetragen haben soll
als die sittliche Depravation; aus der Geschichte der Hexenprocesse wenigstens
ist bekannt, daß die Bestialität dieser Processe mit der Bestialität der Richter
und Henker Hand in Hand ging. -- Um uns nun einigermaßen in diesem
Gewirr falscher Schlüsse und Einfälle zurecht zu finden, müssen wir auf zweier¬
lei aufmerksam machen. Einmal verwechselt Buckle fortwährend Sittlichkeit
mit Moralsystem, d. h. den durch allmälige Gewohnheit in den Menschen zur
Sitte gewordenen guten Geist mit der Predigt über diesen guten Geist; die
letztere hat freilich die Menschheit nicht sehr gefördert. Wie kann aber einer,
der über diese Elementarbegriffe noch im Unklaren ist. eine Reform der Wissen¬
schaft unternehmen! Und wie kann Rüge, der doch aus der Hegelschen Philo¬
sophie diesen Unterschied aus das deutlichste eingesehen haben muß. eine solche
Lehre den Deutschen als Fortschritt empfehlen! -- Ein zweiter Irrthum, der
beiläufig durch das ganze Buch geht, ist, daß Buckle die Wechselwirkung der
geistigen Motive ganz übersieht. Freilich haben Becker und Thomasius, in¬
dem sie die Erkenntniß förderten, viel zur Abschaffung der Hexenprocesse bei¬
getragen; sie hätten es aber nicht vermocht, wäre nicht im sittlichen Geist der
Zeit bereits ein gewaltiger Umschwung eingetreten, der ihre Nebenmenschen
verhinderte, sie ohne Weiteres als Teufelsanbeter zu verbrennen. Buckle sagt
später ganz richtig, daß die schöne Literatur auf ein Volk nur dann einwirkt,
wenn es darauf vorbereitet ist; aber genau dasselbe gilt von den intellectuellen
Wahrheiten. Auch zur Ausnahme dieser Wahrheiten muß ein Volk sittlich
vorbereitet sein.

Die ganze Deduction löst sich in nichts auf und das ist für das Buch
doch schlimm, da sie der Kern desselben ist. Hier aber erkennen wir, daß
es mit jener Ansicht über die menschliche Freiheit doch nicht so unverfänglich
ist, daß sie vielmehr daraus ausgeht, die Würde des menschlichen Thuns her¬
abzusetzen.

Darauf folgt die Auseinandersetzung der Gründe, aus denen der kriege¬
rische Geist sich vermindert habe. "Es ist klar, daß Rußland ein kriegerisches
Land ist, nicht weil seine Bewohner unsittlich, sondern weil sie ununterrichtet
sind. Der Fehler liegt im Kopf und nicht im Herzen. Weil in Rußland
die Intelligenz des Volkes wenig ausgebildet ist, so fehlt es den intelligenten


Warum gerade die besten unter den römischen Kaisern die Christen verfolgten,
ist allgemein bekannt; was soll aber eigentlich daraus gefolgert werden? Wer
hat aus das Glück der Menschen wohlthätiger eingewirkt, Trajan oder Como-
dus? Der erste verfolgte die Christen, der letztere nicht. Damit ist also gar
nichts bewiesen. — Was die spanischen Inquisitoren betrifft, so sind wir mit
dem Detail zu wenig bekannt, um über die angebliche Thatsache urtheilen zu
können, doch ist es uns sehr unwahrscheinlich, daß die unrichtige Erkenntniß
in Religionsangelegenheiten mehr zu dieser Verfolgung beigetragen haben soll
als die sittliche Depravation; aus der Geschichte der Hexenprocesse wenigstens
ist bekannt, daß die Bestialität dieser Processe mit der Bestialität der Richter
und Henker Hand in Hand ging. — Um uns nun einigermaßen in diesem
Gewirr falscher Schlüsse und Einfälle zurecht zu finden, müssen wir auf zweier¬
lei aufmerksam machen. Einmal verwechselt Buckle fortwährend Sittlichkeit
mit Moralsystem, d. h. den durch allmälige Gewohnheit in den Menschen zur
Sitte gewordenen guten Geist mit der Predigt über diesen guten Geist; die
letztere hat freilich die Menschheit nicht sehr gefördert. Wie kann aber einer,
der über diese Elementarbegriffe noch im Unklaren ist. eine Reform der Wissen¬
schaft unternehmen! Und wie kann Rüge, der doch aus der Hegelschen Philo¬
sophie diesen Unterschied aus das deutlichste eingesehen haben muß. eine solche
Lehre den Deutschen als Fortschritt empfehlen! — Ein zweiter Irrthum, der
beiläufig durch das ganze Buch geht, ist, daß Buckle die Wechselwirkung der
geistigen Motive ganz übersieht. Freilich haben Becker und Thomasius, in¬
dem sie die Erkenntniß förderten, viel zur Abschaffung der Hexenprocesse bei¬
getragen; sie hätten es aber nicht vermocht, wäre nicht im sittlichen Geist der
Zeit bereits ein gewaltiger Umschwung eingetreten, der ihre Nebenmenschen
verhinderte, sie ohne Weiteres als Teufelsanbeter zu verbrennen. Buckle sagt
später ganz richtig, daß die schöne Literatur auf ein Volk nur dann einwirkt,
wenn es darauf vorbereitet ist; aber genau dasselbe gilt von den intellectuellen
Wahrheiten. Auch zur Ausnahme dieser Wahrheiten muß ein Volk sittlich
vorbereitet sein.

Die ganze Deduction löst sich in nichts auf und das ist für das Buch
doch schlimm, da sie der Kern desselben ist. Hier aber erkennen wir, daß
es mit jener Ansicht über die menschliche Freiheit doch nicht so unverfänglich
ist, daß sie vielmehr daraus ausgeht, die Würde des menschlichen Thuns her¬
abzusetzen.

Darauf folgt die Auseinandersetzung der Gründe, aus denen der kriege¬
rische Geist sich vermindert habe. „Es ist klar, daß Rußland ein kriegerisches
Land ist, nicht weil seine Bewohner unsittlich, sondern weil sie ununterrichtet
sind. Der Fehler liegt im Kopf und nicht im Herzen. Weil in Rußland
die Intelligenz des Volkes wenig ausgebildet ist, so fehlt es den intelligenten


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0318" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/109040"/>
          <p xml:id="ID_906" prev="#ID_905"> Warum gerade die besten unter den römischen Kaisern die Christen verfolgten,<lb/>
ist allgemein bekannt; was soll aber eigentlich daraus gefolgert werden? Wer<lb/>
hat aus das Glück der Menschen wohlthätiger eingewirkt, Trajan oder Como-<lb/>
dus? Der erste verfolgte die Christen, der letztere nicht. Damit ist also gar<lb/>
nichts bewiesen. &#x2014; Was die spanischen Inquisitoren betrifft, so sind wir mit<lb/>
dem Detail zu wenig bekannt, um über die angebliche Thatsache urtheilen zu<lb/>
können, doch ist es uns sehr unwahrscheinlich, daß die unrichtige Erkenntniß<lb/>
in Religionsangelegenheiten mehr zu dieser Verfolgung beigetragen haben soll<lb/>
als die sittliche Depravation; aus der Geschichte der Hexenprocesse wenigstens<lb/>
ist bekannt, daß die Bestialität dieser Processe mit der Bestialität der Richter<lb/>
und Henker Hand in Hand ging. &#x2014; Um uns nun einigermaßen in diesem<lb/>
Gewirr falscher Schlüsse und Einfälle zurecht zu finden, müssen wir auf zweier¬<lb/>
lei aufmerksam machen. Einmal verwechselt Buckle fortwährend Sittlichkeit<lb/>
mit Moralsystem, d. h. den durch allmälige Gewohnheit in den Menschen zur<lb/>
Sitte gewordenen guten Geist mit der Predigt über diesen guten Geist; die<lb/>
letztere hat freilich die Menschheit nicht sehr gefördert. Wie kann aber einer,<lb/>
der über diese Elementarbegriffe noch im Unklaren ist. eine Reform der Wissen¬<lb/>
schaft unternehmen! Und wie kann Rüge, der doch aus der Hegelschen Philo¬<lb/>
sophie diesen Unterschied aus das deutlichste eingesehen haben muß. eine solche<lb/>
Lehre den Deutschen als Fortschritt empfehlen! &#x2014; Ein zweiter Irrthum, der<lb/>
beiläufig durch das ganze Buch geht, ist, daß Buckle die Wechselwirkung der<lb/>
geistigen Motive ganz übersieht. Freilich haben Becker und Thomasius, in¬<lb/>
dem sie die Erkenntniß förderten, viel zur Abschaffung der Hexenprocesse bei¬<lb/>
getragen; sie hätten es aber nicht vermocht, wäre nicht im sittlichen Geist der<lb/>
Zeit bereits ein gewaltiger Umschwung eingetreten, der ihre Nebenmenschen<lb/>
verhinderte, sie ohne Weiteres als Teufelsanbeter zu verbrennen. Buckle sagt<lb/>
später ganz richtig, daß die schöne Literatur auf ein Volk nur dann einwirkt,<lb/>
wenn es darauf vorbereitet ist; aber genau dasselbe gilt von den intellectuellen<lb/>
Wahrheiten. Auch zur Ausnahme dieser Wahrheiten muß ein Volk sittlich<lb/>
vorbereitet sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_907"> Die ganze Deduction löst sich in nichts auf und das ist für das Buch<lb/>
doch schlimm, da sie der Kern desselben ist. Hier aber erkennen wir, daß<lb/>
es mit jener Ansicht über die menschliche Freiheit doch nicht so unverfänglich<lb/>
ist, daß sie vielmehr daraus ausgeht, die Würde des menschlichen Thuns her¬<lb/>
abzusetzen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_908" next="#ID_909"> Darauf folgt die Auseinandersetzung der Gründe, aus denen der kriege¬<lb/>
rische Geist sich vermindert habe. &#x201E;Es ist klar, daß Rußland ein kriegerisches<lb/>
Land ist, nicht weil seine Bewohner unsittlich, sondern weil sie ununterrichtet<lb/>
sind. Der Fehler liegt im Kopf und nicht im Herzen. Weil in Rußland<lb/>
die Intelligenz des Volkes wenig ausgebildet ist, so fehlt es den intelligenten</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0318] Warum gerade die besten unter den römischen Kaisern die Christen verfolgten, ist allgemein bekannt; was soll aber eigentlich daraus gefolgert werden? Wer hat aus das Glück der Menschen wohlthätiger eingewirkt, Trajan oder Como- dus? Der erste verfolgte die Christen, der letztere nicht. Damit ist also gar nichts bewiesen. — Was die spanischen Inquisitoren betrifft, so sind wir mit dem Detail zu wenig bekannt, um über die angebliche Thatsache urtheilen zu können, doch ist es uns sehr unwahrscheinlich, daß die unrichtige Erkenntniß in Religionsangelegenheiten mehr zu dieser Verfolgung beigetragen haben soll als die sittliche Depravation; aus der Geschichte der Hexenprocesse wenigstens ist bekannt, daß die Bestialität dieser Processe mit der Bestialität der Richter und Henker Hand in Hand ging. — Um uns nun einigermaßen in diesem Gewirr falscher Schlüsse und Einfälle zurecht zu finden, müssen wir auf zweier¬ lei aufmerksam machen. Einmal verwechselt Buckle fortwährend Sittlichkeit mit Moralsystem, d. h. den durch allmälige Gewohnheit in den Menschen zur Sitte gewordenen guten Geist mit der Predigt über diesen guten Geist; die letztere hat freilich die Menschheit nicht sehr gefördert. Wie kann aber einer, der über diese Elementarbegriffe noch im Unklaren ist. eine Reform der Wissen¬ schaft unternehmen! Und wie kann Rüge, der doch aus der Hegelschen Philo¬ sophie diesen Unterschied aus das deutlichste eingesehen haben muß. eine solche Lehre den Deutschen als Fortschritt empfehlen! — Ein zweiter Irrthum, der beiläufig durch das ganze Buch geht, ist, daß Buckle die Wechselwirkung der geistigen Motive ganz übersieht. Freilich haben Becker und Thomasius, in¬ dem sie die Erkenntniß förderten, viel zur Abschaffung der Hexenprocesse bei¬ getragen; sie hätten es aber nicht vermocht, wäre nicht im sittlichen Geist der Zeit bereits ein gewaltiger Umschwung eingetreten, der ihre Nebenmenschen verhinderte, sie ohne Weiteres als Teufelsanbeter zu verbrennen. Buckle sagt später ganz richtig, daß die schöne Literatur auf ein Volk nur dann einwirkt, wenn es darauf vorbereitet ist; aber genau dasselbe gilt von den intellectuellen Wahrheiten. Auch zur Ausnahme dieser Wahrheiten muß ein Volk sittlich vorbereitet sein. Die ganze Deduction löst sich in nichts auf und das ist für das Buch doch schlimm, da sie der Kern desselben ist. Hier aber erkennen wir, daß es mit jener Ansicht über die menschliche Freiheit doch nicht so unverfänglich ist, daß sie vielmehr daraus ausgeht, die Würde des menschlichen Thuns her¬ abzusetzen. Darauf folgt die Auseinandersetzung der Gründe, aus denen der kriege¬ rische Geist sich vermindert habe. „Es ist klar, daß Rußland ein kriegerisches Land ist, nicht weil seine Bewohner unsittlich, sondern weil sie ununterrichtet sind. Der Fehler liegt im Kopf und nicht im Herzen. Weil in Rußland die Intelligenz des Volkes wenig ausgebildet ist, so fehlt es den intelligenten

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/318
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/318>, abgerufen am 23.07.2024.