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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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ihnen macht. -- Die sogenannte Wahrscheinlichkeitsrechnung ist aller Welt
bekannt, obgleich noch Niemand etwas Mystisches darin gesucht hat. Wenn
man einen Würfel eine längere Zeit hinter einander aus den Tisch schüttelt,
so erwartet man. daß jede der sechs Zahlen ungefähr gleich viel mal nach
oben kommen wird. Der Grund ist einfach; er ist ein ganz negativer: es
ist nämlich kein Grund vorhanden, weshalb irgend eine von den Zahlen
häusiger als eine andere hervortreten sollte. Daß man sich für einen ziemlich
großen Zeitraum doch mit diesem Gesetz verrechnen kann, weiß i"der Pharao¬
spieler. Freilich macht es uns beim ersten Anblick stutzig, wenn wir hören,
daß eine Reihe von Jahren hindurch die Zahl der Menschen, die durch Gift
sterben, in einem constanten Verhältniß zur Zahl derjenigen steht, die man
mit dem Stock oder Messer umgebracht hat. Nehmen wir aber einmal das
Gegentheil, daß z. B. unter den Mordthaten in einem bestimmten Jahr der
Giftmord in einem ungewöhnlichen Maaß sich regte, so würden wir offenbar
nach der Ursache fragen; ob vielleicht ein neues bequemes Gift entdeckt wor¬
den sei? ob ein beliebter Roman diese Art des Verbrechens besonders in¬
teressant dargestellt habe? oder was sonst; kurz, wenn wir uns über die Regel¬
mäßigkeit verwundern, so würden wir uns über die Unregelmäßigkeit noch
mehr verwundern; und jene erste Verwunderung bezieht sich auf nichts ande¬
res, als daß wir als Totalität vor Augen sehen, was wir nur als einzelne
Fälle zu betrachten gewöhnt waren. Für gewisse größere Perioden wird die
Zahl der Verbrechen sich im allgemeinen gleich bleiben, weil die Combinatio¬
nen böser Leidenschaften und günstiger Gelegenheiten sich gleich bleiben, so
lange kein Grund der Aenderung eintritt; deshalb bleibt es aber doch nur
immer eine Zusammcnzählung einzelner Verbrechen, nicht ein mystischer
Verbrechensstoff, der auf die Einzelnen lauert, an> sie zu ergreifen. Der
Collectivbegriff ist nicht das Erzeugende, sondern das Erzeugte, trotz der
Regelmäßigkeit, in der er wiederkehrt. Und nicht blos vor dem Juristen,
sondern auch vor dem Philosophen ist wenigstens bis zu einem gewissen
Grade jeder Einzelne für seine That verantwortlich.

Im zweiten Capitel beschreibt der Verfasser die Einwirkungen des Climas
und die Bodenverhältnisse auf die gesellschaftlichen Zustände. Was er gibt,
ist nicht sehr neu, und sein letztes Resultat, unter allen Welttheilen sei Eu¬
ropa am meisten geeignet, den Menschen von der Naturgewalt zu lösen, weil
in ihm dieselbe am unkräftigsten sei, bedürfte kaum einer so langen Auseinan¬
dersetzung. Im dritten Capitel werden die bisherigen metaphysischen Metho¬
den der Geschichtsschreibung kritisirt; im Resultat kann man ihm beipflichten,
seine Gründe sind aber zu schwach, weil er den Gegenstand, um den es sich
handelt, sehr wenig kennt. Der Kern der Untersuchung liegt im vierten Capitel.

Um nämlich festzustellen, welches geistige Motiv am meisten auf den Fort-


ihnen macht. — Die sogenannte Wahrscheinlichkeitsrechnung ist aller Welt
bekannt, obgleich noch Niemand etwas Mystisches darin gesucht hat. Wenn
man einen Würfel eine längere Zeit hinter einander aus den Tisch schüttelt,
so erwartet man. daß jede der sechs Zahlen ungefähr gleich viel mal nach
oben kommen wird. Der Grund ist einfach; er ist ein ganz negativer: es
ist nämlich kein Grund vorhanden, weshalb irgend eine von den Zahlen
häusiger als eine andere hervortreten sollte. Daß man sich für einen ziemlich
großen Zeitraum doch mit diesem Gesetz verrechnen kann, weiß i«der Pharao¬
spieler. Freilich macht es uns beim ersten Anblick stutzig, wenn wir hören,
daß eine Reihe von Jahren hindurch die Zahl der Menschen, die durch Gift
sterben, in einem constanten Verhältniß zur Zahl derjenigen steht, die man
mit dem Stock oder Messer umgebracht hat. Nehmen wir aber einmal das
Gegentheil, daß z. B. unter den Mordthaten in einem bestimmten Jahr der
Giftmord in einem ungewöhnlichen Maaß sich regte, so würden wir offenbar
nach der Ursache fragen; ob vielleicht ein neues bequemes Gift entdeckt wor¬
den sei? ob ein beliebter Roman diese Art des Verbrechens besonders in¬
teressant dargestellt habe? oder was sonst; kurz, wenn wir uns über die Regel¬
mäßigkeit verwundern, so würden wir uns über die Unregelmäßigkeit noch
mehr verwundern; und jene erste Verwunderung bezieht sich auf nichts ande¬
res, als daß wir als Totalität vor Augen sehen, was wir nur als einzelne
Fälle zu betrachten gewöhnt waren. Für gewisse größere Perioden wird die
Zahl der Verbrechen sich im allgemeinen gleich bleiben, weil die Combinatio¬
nen böser Leidenschaften und günstiger Gelegenheiten sich gleich bleiben, so
lange kein Grund der Aenderung eintritt; deshalb bleibt es aber doch nur
immer eine Zusammcnzählung einzelner Verbrechen, nicht ein mystischer
Verbrechensstoff, der auf die Einzelnen lauert, an> sie zu ergreifen. Der
Collectivbegriff ist nicht das Erzeugende, sondern das Erzeugte, trotz der
Regelmäßigkeit, in der er wiederkehrt. Und nicht blos vor dem Juristen,
sondern auch vor dem Philosophen ist wenigstens bis zu einem gewissen
Grade jeder Einzelne für seine That verantwortlich.

Im zweiten Capitel beschreibt der Verfasser die Einwirkungen des Climas
und die Bodenverhältnisse auf die gesellschaftlichen Zustände. Was er gibt,
ist nicht sehr neu, und sein letztes Resultat, unter allen Welttheilen sei Eu¬
ropa am meisten geeignet, den Menschen von der Naturgewalt zu lösen, weil
in ihm dieselbe am unkräftigsten sei, bedürfte kaum einer so langen Auseinan¬
dersetzung. Im dritten Capitel werden die bisherigen metaphysischen Metho¬
den der Geschichtsschreibung kritisirt; im Resultat kann man ihm beipflichten,
seine Gründe sind aber zu schwach, weil er den Gegenstand, um den es sich
handelt, sehr wenig kennt. Der Kern der Untersuchung liegt im vierten Capitel.

Um nämlich festzustellen, welches geistige Motiv am meisten auf den Fort-


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[0316] ihnen macht. — Die sogenannte Wahrscheinlichkeitsrechnung ist aller Welt bekannt, obgleich noch Niemand etwas Mystisches darin gesucht hat. Wenn man einen Würfel eine längere Zeit hinter einander aus den Tisch schüttelt, so erwartet man. daß jede der sechs Zahlen ungefähr gleich viel mal nach oben kommen wird. Der Grund ist einfach; er ist ein ganz negativer: es ist nämlich kein Grund vorhanden, weshalb irgend eine von den Zahlen häusiger als eine andere hervortreten sollte. Daß man sich für einen ziemlich großen Zeitraum doch mit diesem Gesetz verrechnen kann, weiß i«der Pharao¬ spieler. Freilich macht es uns beim ersten Anblick stutzig, wenn wir hören, daß eine Reihe von Jahren hindurch die Zahl der Menschen, die durch Gift sterben, in einem constanten Verhältniß zur Zahl derjenigen steht, die man mit dem Stock oder Messer umgebracht hat. Nehmen wir aber einmal das Gegentheil, daß z. B. unter den Mordthaten in einem bestimmten Jahr der Giftmord in einem ungewöhnlichen Maaß sich regte, so würden wir offenbar nach der Ursache fragen; ob vielleicht ein neues bequemes Gift entdeckt wor¬ den sei? ob ein beliebter Roman diese Art des Verbrechens besonders in¬ teressant dargestellt habe? oder was sonst; kurz, wenn wir uns über die Regel¬ mäßigkeit verwundern, so würden wir uns über die Unregelmäßigkeit noch mehr verwundern; und jene erste Verwunderung bezieht sich auf nichts ande¬ res, als daß wir als Totalität vor Augen sehen, was wir nur als einzelne Fälle zu betrachten gewöhnt waren. Für gewisse größere Perioden wird die Zahl der Verbrechen sich im allgemeinen gleich bleiben, weil die Combinatio¬ nen böser Leidenschaften und günstiger Gelegenheiten sich gleich bleiben, so lange kein Grund der Aenderung eintritt; deshalb bleibt es aber doch nur immer eine Zusammcnzählung einzelner Verbrechen, nicht ein mystischer Verbrechensstoff, der auf die Einzelnen lauert, an> sie zu ergreifen. Der Collectivbegriff ist nicht das Erzeugende, sondern das Erzeugte, trotz der Regelmäßigkeit, in der er wiederkehrt. Und nicht blos vor dem Juristen, sondern auch vor dem Philosophen ist wenigstens bis zu einem gewissen Grade jeder Einzelne für seine That verantwortlich. Im zweiten Capitel beschreibt der Verfasser die Einwirkungen des Climas und die Bodenverhältnisse auf die gesellschaftlichen Zustände. Was er gibt, ist nicht sehr neu, und sein letztes Resultat, unter allen Welttheilen sei Eu¬ ropa am meisten geeignet, den Menschen von der Naturgewalt zu lösen, weil in ihm dieselbe am unkräftigsten sei, bedürfte kaum einer so langen Auseinan¬ dersetzung. Im dritten Capitel werden die bisherigen metaphysischen Metho¬ den der Geschichtsschreibung kritisirt; im Resultat kann man ihm beipflichten, seine Gründe sind aber zu schwach, weil er den Gegenstand, um den es sich handelt, sehr wenig kennt. Der Kern der Untersuchung liegt im vierten Capitel. Um nämlich festzustellen, welches geistige Motiv am meisten auf den Fort-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/316>, abgerufen am 23.07.2024.