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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Verfasser bezweckt: die Verwandlung der Geschichte in eine exacte Wissen¬
schaft; und daß die Gründe, die er zur Erklärung dieser angeblichen Thatsachen
anführt, nur zu sehr den Gründen gleichen, mit welchen der Sage nach die
Akademiker unter Carl dem Zweiten die königliche Frage beleuchteten: warum
ein in ein volles Gefäß geworfener Fisch dasselbe nicht zum Ueberfließen bringe?
Die gelehrten Herrn hatten ganz vergessen, vorher die Thatsache zu constatiren.

Versuchen wir jetzt, uns den Gedankengang des Verfassers deutlich zu
machen.

Im ersten Capitel wird die Berechtigung des neuen Versuchs, die Geschichte
zur exacten Wissenschaft zu erheben, dadurch nachgewiesen, daß der Begriff
der menschlichen Freiheit als ein ganz leerer und nichtiger dargestellt wird.
Im Gebiet des menschlichen Lebens und der Geschichte herrscht der Zusammen¬
hang zwischen Ursache und Wirkung ebenso wie in dem Gebiet der Natur,
und aus den gegebenen Zustünden muß das Darausfolgende genau ebenso
berechnet werden können.

Wenn sich das wirklich so verhielte, so wäre dadurch für die Wissenschaft
nicht das Mindeste gewonnen. Ganz unzweifelhaft verhält es sich so in der
Meteorologie. Jeder Wind, jeder Regen hat seine ganz bestimmten Ursachen
und muß berechnet werden können, wenn man die nöthigen Daten hat.
Kein Gegenstand liegt dem praktischen Leben so nahe und ist, abstract genom¬
men, aus so einfachen Verhältnissen zusammengesetzt; trotzdem ist es noch
keinem unserer Meteorologen eingefallen einen tausendjährigen Kalender zu
machen, aus dem einfachen Grunde, weil wir jene nöthigen Daten nicht
haben. So einfach die bei der Berechnung des Wetters in Anschlag zu
bringenden Kräfte aussehen, wenn man sie blos dem Begriff nach betrachtet,
so verwickelt werden sie, wenn man ihre individuelle Erscheinung ins Auge
faßt; und wie viel schlimmer ist es, wenn wir in das buntbewegte Menschen¬
leben treten! Wer wollte auch nur von einem einzigen Menschen, den man
ganz genau zu kennen glaubt, im Voraus, was er thun und denken wird, ge¬
nau bestimmen! Und nun gar von den tausend Millionen, die sich in jedem
Menschenalter einander ablösen! Für die Geschichtsschreibung und Geschichts¬
forschung ist es daher vollkommen gleichgiltig, ob die Menschen sich mit Frei¬
heit bestimmen oder ob sie dem Instinkt folgen gleich den Thieren. In dem einen
wie in dem andern Fall hat man zur Ermittelung der Thatsachen nichts anderes
als den Augenschein oder die Dokumente; und erzählen kann man die Bege¬
benheiten auch nicht anders als sie erzählt worden sind, solange die Welt steht.
Auch macht Buckle gar keinen Versuch, anders zu erzählen: er berichtet in dem
Abriß der englischen Geschichte, der am Ende dieses Bandes steht und von
dessen Verhältniß zu der später zu erwartenden ausführlichen Geschichte wir
keine Ahnung haben, ganz wie seine Vorgänger: in dem und dem Jahre


Verfasser bezweckt: die Verwandlung der Geschichte in eine exacte Wissen¬
schaft; und daß die Gründe, die er zur Erklärung dieser angeblichen Thatsachen
anführt, nur zu sehr den Gründen gleichen, mit welchen der Sage nach die
Akademiker unter Carl dem Zweiten die königliche Frage beleuchteten: warum
ein in ein volles Gefäß geworfener Fisch dasselbe nicht zum Ueberfließen bringe?
Die gelehrten Herrn hatten ganz vergessen, vorher die Thatsache zu constatiren.

Versuchen wir jetzt, uns den Gedankengang des Verfassers deutlich zu
machen.

Im ersten Capitel wird die Berechtigung des neuen Versuchs, die Geschichte
zur exacten Wissenschaft zu erheben, dadurch nachgewiesen, daß der Begriff
der menschlichen Freiheit als ein ganz leerer und nichtiger dargestellt wird.
Im Gebiet des menschlichen Lebens und der Geschichte herrscht der Zusammen¬
hang zwischen Ursache und Wirkung ebenso wie in dem Gebiet der Natur,
und aus den gegebenen Zustünden muß das Darausfolgende genau ebenso
berechnet werden können.

Wenn sich das wirklich so verhielte, so wäre dadurch für die Wissenschaft
nicht das Mindeste gewonnen. Ganz unzweifelhaft verhält es sich so in der
Meteorologie. Jeder Wind, jeder Regen hat seine ganz bestimmten Ursachen
und muß berechnet werden können, wenn man die nöthigen Daten hat.
Kein Gegenstand liegt dem praktischen Leben so nahe und ist, abstract genom¬
men, aus so einfachen Verhältnissen zusammengesetzt; trotzdem ist es noch
keinem unserer Meteorologen eingefallen einen tausendjährigen Kalender zu
machen, aus dem einfachen Grunde, weil wir jene nöthigen Daten nicht
haben. So einfach die bei der Berechnung des Wetters in Anschlag zu
bringenden Kräfte aussehen, wenn man sie blos dem Begriff nach betrachtet,
so verwickelt werden sie, wenn man ihre individuelle Erscheinung ins Auge
faßt; und wie viel schlimmer ist es, wenn wir in das buntbewegte Menschen¬
leben treten! Wer wollte auch nur von einem einzigen Menschen, den man
ganz genau zu kennen glaubt, im Voraus, was er thun und denken wird, ge¬
nau bestimmen! Und nun gar von den tausend Millionen, die sich in jedem
Menschenalter einander ablösen! Für die Geschichtsschreibung und Geschichts¬
forschung ist es daher vollkommen gleichgiltig, ob die Menschen sich mit Frei¬
heit bestimmen oder ob sie dem Instinkt folgen gleich den Thieren. In dem einen
wie in dem andern Fall hat man zur Ermittelung der Thatsachen nichts anderes
als den Augenschein oder die Dokumente; und erzählen kann man die Bege¬
benheiten auch nicht anders als sie erzählt worden sind, solange die Welt steht.
Auch macht Buckle gar keinen Versuch, anders zu erzählen: er berichtet in dem
Abriß der englischen Geschichte, der am Ende dieses Bandes steht und von
dessen Verhältniß zu der später zu erwartenden ausführlichen Geschichte wir
keine Ahnung haben, ganz wie seine Vorgänger: in dem und dem Jahre


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[0313] Verfasser bezweckt: die Verwandlung der Geschichte in eine exacte Wissen¬ schaft; und daß die Gründe, die er zur Erklärung dieser angeblichen Thatsachen anführt, nur zu sehr den Gründen gleichen, mit welchen der Sage nach die Akademiker unter Carl dem Zweiten die königliche Frage beleuchteten: warum ein in ein volles Gefäß geworfener Fisch dasselbe nicht zum Ueberfließen bringe? Die gelehrten Herrn hatten ganz vergessen, vorher die Thatsache zu constatiren. Versuchen wir jetzt, uns den Gedankengang des Verfassers deutlich zu machen. Im ersten Capitel wird die Berechtigung des neuen Versuchs, die Geschichte zur exacten Wissenschaft zu erheben, dadurch nachgewiesen, daß der Begriff der menschlichen Freiheit als ein ganz leerer und nichtiger dargestellt wird. Im Gebiet des menschlichen Lebens und der Geschichte herrscht der Zusammen¬ hang zwischen Ursache und Wirkung ebenso wie in dem Gebiet der Natur, und aus den gegebenen Zustünden muß das Darausfolgende genau ebenso berechnet werden können. Wenn sich das wirklich so verhielte, so wäre dadurch für die Wissenschaft nicht das Mindeste gewonnen. Ganz unzweifelhaft verhält es sich so in der Meteorologie. Jeder Wind, jeder Regen hat seine ganz bestimmten Ursachen und muß berechnet werden können, wenn man die nöthigen Daten hat. Kein Gegenstand liegt dem praktischen Leben so nahe und ist, abstract genom¬ men, aus so einfachen Verhältnissen zusammengesetzt; trotzdem ist es noch keinem unserer Meteorologen eingefallen einen tausendjährigen Kalender zu machen, aus dem einfachen Grunde, weil wir jene nöthigen Daten nicht haben. So einfach die bei der Berechnung des Wetters in Anschlag zu bringenden Kräfte aussehen, wenn man sie blos dem Begriff nach betrachtet, so verwickelt werden sie, wenn man ihre individuelle Erscheinung ins Auge faßt; und wie viel schlimmer ist es, wenn wir in das buntbewegte Menschen¬ leben treten! Wer wollte auch nur von einem einzigen Menschen, den man ganz genau zu kennen glaubt, im Voraus, was er thun und denken wird, ge¬ nau bestimmen! Und nun gar von den tausend Millionen, die sich in jedem Menschenalter einander ablösen! Für die Geschichtsschreibung und Geschichts¬ forschung ist es daher vollkommen gleichgiltig, ob die Menschen sich mit Frei¬ heit bestimmen oder ob sie dem Instinkt folgen gleich den Thieren. In dem einen wie in dem andern Fall hat man zur Ermittelung der Thatsachen nichts anderes als den Augenschein oder die Dokumente; und erzählen kann man die Bege¬ benheiten auch nicht anders als sie erzählt worden sind, solange die Welt steht. Auch macht Buckle gar keinen Versuch, anders zu erzählen: er berichtet in dem Abriß der englischen Geschichte, der am Ende dieses Bandes steht und von dessen Verhältniß zu der später zu erwartenden ausführlichen Geschichte wir keine Ahnung haben, ganz wie seine Vorgänger: in dem und dem Jahre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/313>, abgerufen am 23.07.2024.