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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Lebens, soweit sie ihnen zu Gebote standen. -- Daß aber nicht jede Mono¬
graphie die Verpflichtung hat, auch die Culturgeschichte des betreffenden Zeit¬
raums darzustellen, das kann nur derjenige verkennen, der von der Sprache
verlangt, sie solle alles nebeneinander oder durcheinander sagen, während sie
doch, um sich verstündlich zu machen, die Gegenstände hintereinander behan¬
deln muß. Buckle gibt zwar ein sehr wunderliches Durcheinander, aber er
hat damit das Verständniß und die Wirksamkeit seiner Schrift keineswegs
gefördert.

In dieser Beziehung macht das Buch überhaupt einen eigenthümlich ge¬
mischten Eindruck. Der Verfasser zeigt eine staunenswerthe Belesenheit, und
nach den Citaten zu schließen, die er anführt, muß diese sich über alle mög¬
lichen Zweige des Wissens erstrecken. Aber auch in dieser Belesenheit zeigt
sich wenig Ordnung und Methode; denn nicht blos werden Quellen und Hilfs¬
mittel bunt durcheinander citirt (und zuweilen Hilfsmittel der allertnviaisten
Art), sondern der Verfasser entnimmt seine Nachrichten häufig gerade da, wo
sie nicht zu suchen sind: für theologische Dinge citirt er naturhistorische Bücher
und umgekehrt. Durch das ganze Buch geht daher ein gewisses Gefühl der
Unsicherheit. Was auch Buckle für Gründe hatte, seine Vorgänger zu schelten,
in einem Punkt hätte er ihnen doch nachahmen sollen, nämlich darin, die histo¬
rischen Behauptungen aus den Quellen zu erweisen. Leider finden sich aber halb
oder ganz unwahre, aus der Lust gegriffene Behauptungen nur zu häusig in
diesem Werk, welches doch für die Geschichtsschreibung eine neue Basis legen
soll. So behauptet er einmal, der große Aufschwung der deutschen Literatur
sei hauptsächlich aus dem Einfluß der von Friedrich dem Großen nach Berlin
berufenen französischen Schriftsteller hervorgegangen (S. 203). Für einen,
der es unternimmt, eine Geschichte der Civilisation zu schreiben, ist das doch
eine barbarische Unwissenheit! Ein andermal meint er, die französische Revo¬
lution sei hauptsächlich eine Auflehnung gegen das Merkantilstem gewesen.
Nun sind zwar über die französische Revolution so viel Ansichten aufgestellt
worden, daß eine Ansicht mehr oder weniger nicht schadet; aber in einem ernst¬
haft gemeinten Buch muß man sich doch einigermaßen danach umsehen, ob
eine solche Meinung durch die Thatsachen unterstützt wird. Daß er an einer
dritten Stelle eine fortdauernde Verminderung des Kriegführens annimmt, mag
durch den fast vierzigjährigen Frieden unseres Jahrhunderts entschuldigt wer¬
den; aber wenn man bedenkt, daß ein Menschenalter in dem Raum der all¬
gemeinen Geschichte doch nicht viel sagen will, daß ihm die Periode von
1792--1818 vorausging, die kriegerischeste in der ganzen Weltgeschichte, und
daß wir jetzt einen guten Anfang gemacht haben, uns in ähnlicher Weise wie
damals zu verständigen, so wird man zugeben, daß durch solche allgemeine
und unbestimmte Behauptungen wenigstens das nicht erreicht wird, was der


Lebens, soweit sie ihnen zu Gebote standen. — Daß aber nicht jede Mono¬
graphie die Verpflichtung hat, auch die Culturgeschichte des betreffenden Zeit¬
raums darzustellen, das kann nur derjenige verkennen, der von der Sprache
verlangt, sie solle alles nebeneinander oder durcheinander sagen, während sie
doch, um sich verstündlich zu machen, die Gegenstände hintereinander behan¬
deln muß. Buckle gibt zwar ein sehr wunderliches Durcheinander, aber er
hat damit das Verständniß und die Wirksamkeit seiner Schrift keineswegs
gefördert.

In dieser Beziehung macht das Buch überhaupt einen eigenthümlich ge¬
mischten Eindruck. Der Verfasser zeigt eine staunenswerthe Belesenheit, und
nach den Citaten zu schließen, die er anführt, muß diese sich über alle mög¬
lichen Zweige des Wissens erstrecken. Aber auch in dieser Belesenheit zeigt
sich wenig Ordnung und Methode; denn nicht blos werden Quellen und Hilfs¬
mittel bunt durcheinander citirt (und zuweilen Hilfsmittel der allertnviaisten
Art), sondern der Verfasser entnimmt seine Nachrichten häufig gerade da, wo
sie nicht zu suchen sind: für theologische Dinge citirt er naturhistorische Bücher
und umgekehrt. Durch das ganze Buch geht daher ein gewisses Gefühl der
Unsicherheit. Was auch Buckle für Gründe hatte, seine Vorgänger zu schelten,
in einem Punkt hätte er ihnen doch nachahmen sollen, nämlich darin, die histo¬
rischen Behauptungen aus den Quellen zu erweisen. Leider finden sich aber halb
oder ganz unwahre, aus der Lust gegriffene Behauptungen nur zu häusig in
diesem Werk, welches doch für die Geschichtsschreibung eine neue Basis legen
soll. So behauptet er einmal, der große Aufschwung der deutschen Literatur
sei hauptsächlich aus dem Einfluß der von Friedrich dem Großen nach Berlin
berufenen französischen Schriftsteller hervorgegangen (S. 203). Für einen,
der es unternimmt, eine Geschichte der Civilisation zu schreiben, ist das doch
eine barbarische Unwissenheit! Ein andermal meint er, die französische Revo¬
lution sei hauptsächlich eine Auflehnung gegen das Merkantilstem gewesen.
Nun sind zwar über die französische Revolution so viel Ansichten aufgestellt
worden, daß eine Ansicht mehr oder weniger nicht schadet; aber in einem ernst¬
haft gemeinten Buch muß man sich doch einigermaßen danach umsehen, ob
eine solche Meinung durch die Thatsachen unterstützt wird. Daß er an einer
dritten Stelle eine fortdauernde Verminderung des Kriegführens annimmt, mag
durch den fast vierzigjährigen Frieden unseres Jahrhunderts entschuldigt wer¬
den; aber wenn man bedenkt, daß ein Menschenalter in dem Raum der all¬
gemeinen Geschichte doch nicht viel sagen will, daß ihm die Periode von
1792—1818 vorausging, die kriegerischeste in der ganzen Weltgeschichte, und
daß wir jetzt einen guten Anfang gemacht haben, uns in ähnlicher Weise wie
damals zu verständigen, so wird man zugeben, daß durch solche allgemeine
und unbestimmte Behauptungen wenigstens das nicht erreicht wird, was der


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[0312] Lebens, soweit sie ihnen zu Gebote standen. — Daß aber nicht jede Mono¬ graphie die Verpflichtung hat, auch die Culturgeschichte des betreffenden Zeit¬ raums darzustellen, das kann nur derjenige verkennen, der von der Sprache verlangt, sie solle alles nebeneinander oder durcheinander sagen, während sie doch, um sich verstündlich zu machen, die Gegenstände hintereinander behan¬ deln muß. Buckle gibt zwar ein sehr wunderliches Durcheinander, aber er hat damit das Verständniß und die Wirksamkeit seiner Schrift keineswegs gefördert. In dieser Beziehung macht das Buch überhaupt einen eigenthümlich ge¬ mischten Eindruck. Der Verfasser zeigt eine staunenswerthe Belesenheit, und nach den Citaten zu schließen, die er anführt, muß diese sich über alle mög¬ lichen Zweige des Wissens erstrecken. Aber auch in dieser Belesenheit zeigt sich wenig Ordnung und Methode; denn nicht blos werden Quellen und Hilfs¬ mittel bunt durcheinander citirt (und zuweilen Hilfsmittel der allertnviaisten Art), sondern der Verfasser entnimmt seine Nachrichten häufig gerade da, wo sie nicht zu suchen sind: für theologische Dinge citirt er naturhistorische Bücher und umgekehrt. Durch das ganze Buch geht daher ein gewisses Gefühl der Unsicherheit. Was auch Buckle für Gründe hatte, seine Vorgänger zu schelten, in einem Punkt hätte er ihnen doch nachahmen sollen, nämlich darin, die histo¬ rischen Behauptungen aus den Quellen zu erweisen. Leider finden sich aber halb oder ganz unwahre, aus der Lust gegriffene Behauptungen nur zu häusig in diesem Werk, welches doch für die Geschichtsschreibung eine neue Basis legen soll. So behauptet er einmal, der große Aufschwung der deutschen Literatur sei hauptsächlich aus dem Einfluß der von Friedrich dem Großen nach Berlin berufenen französischen Schriftsteller hervorgegangen (S. 203). Für einen, der es unternimmt, eine Geschichte der Civilisation zu schreiben, ist das doch eine barbarische Unwissenheit! Ein andermal meint er, die französische Revo¬ lution sei hauptsächlich eine Auflehnung gegen das Merkantilstem gewesen. Nun sind zwar über die französische Revolution so viel Ansichten aufgestellt worden, daß eine Ansicht mehr oder weniger nicht schadet; aber in einem ernst¬ haft gemeinten Buch muß man sich doch einigermaßen danach umsehen, ob eine solche Meinung durch die Thatsachen unterstützt wird. Daß er an einer dritten Stelle eine fortdauernde Verminderung des Kriegführens annimmt, mag durch den fast vierzigjährigen Frieden unseres Jahrhunderts entschuldigt wer¬ den; aber wenn man bedenkt, daß ein Menschenalter in dem Raum der all¬ gemeinen Geschichte doch nicht viel sagen will, daß ihm die Periode von 1792—1818 vorausging, die kriegerischeste in der ganzen Weltgeschichte, und daß wir jetzt einen guten Anfang gemacht haben, uns in ähnlicher Weise wie damals zu verständigen, so wird man zugeben, daß durch solche allgemeine und unbestimmte Behauptungen wenigstens das nicht erreicht wird, was der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/312>, abgerufen am 23.07.2024.