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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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unzeitgemäß sind. -- Zwei neue Novellen des fruchtbarsten aller Romanschreiber,
August Schröder, "die Stiefmutter" und "Des Lebens Leid und Lust"
(Leipzig, Luppe), seien hier wenigstens erwähnt: trotz seiner Schnelligkeit im
Produciren schreibt der Verfasser fast immer lesbar. -- Mit größerer Freude
begrüßen wir die Uebersetzung einer norwegische" Dorfgeschichte: "Synnöve
Solbekkcn", von Björnstjerne Björnson (Hamburg. Niemeyer), ein recht
aus dem innersten Leben des Volks herausgegriffnes, in kräftigen Farben aus¬
geführtes Bild, das auch für uns Deutsche von großem Interesse sein muß.
Wie der Uebersetzer (Otto Lübbert) im Vorwort berichtet, ist der Verfasser
noch ein junger Mann, auf den also große Hoffnungen zu setzen sind. -- Die
amerikanische Literatur ist in diesem Augenblick überreich an Novellen, weiche
in der Art der Mysterien von Paris die geselligen Zustände aufdecken, die
durch die Entdeckung der Goldlande und das dort zusammenströmende Ge-
sindel um ein Erhebliches vermehrt sind. Einigermaßen in diese Gattung
schlägt der Roman von Otto Nuppius: "DerPedlar" und dessen Fortsetzung
"das Vermächtniß des Pcdlars"; doch ist in den wüsten Geschichten einiges
Maß gehalten, und die Erzählung ist spannend genug. -- Mit vieler Be¬
friedigung haben wir die unter dem Titel Ncmclum! gesammelten Erzählungen
von Franz Ziegler gelesen (Berlin, David): eine tüchtige, männliche Ge¬
sinnung, kräftige Feder, viel gesunder Verstand, den freilich zuweilen der Ver¬
fasser zu sehr in allgemeinen Bemerkungen ausgibt, statt sie für den bestimm¬
ten Fall concrct auszuführen. Der Verfasser rechnet sich zur "Demokratie",
was aber jetzt, abgesehen von einzelnen persönlichen Reminiscenzen, soviel heißt
als Liberalismus. Die erste Erzählung "der Bürgerwall" ist die beste; die
dritte "Saat und Ernte", in den Farben ihr ebenbürtig, hat doch in Bezug
auf die menschliche Auffassung einige bedenkliche Seiten.

Vom Roman wenden wir uns zu einem verwandten Gebiet, dem musi¬
kalischen Feuilleton. Bekanntlich erfreut sich dieser Zweig der Literatur gegen¬
wärtig nicht blos in Deutschland, sondern auch in Frankreich einer großen
Popularität, und es haben sich namhafte Talente daran betheiligt. Die musi¬
kalische Kritik in wissenschaftlicher Form ist eine sehr bedenkliche Sache, weil
der Kritiker nur selten auf allgemein anerkannte Gesetze zurückgehen kann;
man ersetzt daher gern die Kritik durch poetische Darstellung der Empfindungen,
welche ein Kunstwerk zunächst in der Seele des Beurtheilers und dann voraus¬
sichtlich im ganzen Publicum erregt. Es ist gegen diese Form an sich nichts
einzuwenden, sobald die Beschreibung nur richtig ist, d. h. sobald sie wirklich
die Stimmung wiedergibt, die in jeder richtig organisirten Natur die Musik
hervorbringen muß. Freilich ist das Feuilleton nur zu geneigt, darüber hinaus-
zugehen und durch poetisches Beiwerk, durch Einfälle, die an sich ganz artig
sind, aber nicht wesentlich zur Sache gehören, die objective Beschreibung zu


unzeitgemäß sind. — Zwei neue Novellen des fruchtbarsten aller Romanschreiber,
August Schröder, „die Stiefmutter" und „Des Lebens Leid und Lust"
(Leipzig, Luppe), seien hier wenigstens erwähnt: trotz seiner Schnelligkeit im
Produciren schreibt der Verfasser fast immer lesbar. — Mit größerer Freude
begrüßen wir die Uebersetzung einer norwegische» Dorfgeschichte: „Synnöve
Solbekkcn", von Björnstjerne Björnson (Hamburg. Niemeyer), ein recht
aus dem innersten Leben des Volks herausgegriffnes, in kräftigen Farben aus¬
geführtes Bild, das auch für uns Deutsche von großem Interesse sein muß.
Wie der Uebersetzer (Otto Lübbert) im Vorwort berichtet, ist der Verfasser
noch ein junger Mann, auf den also große Hoffnungen zu setzen sind. — Die
amerikanische Literatur ist in diesem Augenblick überreich an Novellen, weiche
in der Art der Mysterien von Paris die geselligen Zustände aufdecken, die
durch die Entdeckung der Goldlande und das dort zusammenströmende Ge-
sindel um ein Erhebliches vermehrt sind. Einigermaßen in diese Gattung
schlägt der Roman von Otto Nuppius: „DerPedlar" und dessen Fortsetzung
„das Vermächtniß des Pcdlars"; doch ist in den wüsten Geschichten einiges
Maß gehalten, und die Erzählung ist spannend genug. — Mit vieler Be¬
friedigung haben wir die unter dem Titel Ncmclum! gesammelten Erzählungen
von Franz Ziegler gelesen (Berlin, David): eine tüchtige, männliche Ge¬
sinnung, kräftige Feder, viel gesunder Verstand, den freilich zuweilen der Ver¬
fasser zu sehr in allgemeinen Bemerkungen ausgibt, statt sie für den bestimm¬
ten Fall concrct auszuführen. Der Verfasser rechnet sich zur „Demokratie",
was aber jetzt, abgesehen von einzelnen persönlichen Reminiscenzen, soviel heißt
als Liberalismus. Die erste Erzählung „der Bürgerwall" ist die beste; die
dritte „Saat und Ernte", in den Farben ihr ebenbürtig, hat doch in Bezug
auf die menschliche Auffassung einige bedenkliche Seiten.

Vom Roman wenden wir uns zu einem verwandten Gebiet, dem musi¬
kalischen Feuilleton. Bekanntlich erfreut sich dieser Zweig der Literatur gegen¬
wärtig nicht blos in Deutschland, sondern auch in Frankreich einer großen
Popularität, und es haben sich namhafte Talente daran betheiligt. Die musi¬
kalische Kritik in wissenschaftlicher Form ist eine sehr bedenkliche Sache, weil
der Kritiker nur selten auf allgemein anerkannte Gesetze zurückgehen kann;
man ersetzt daher gern die Kritik durch poetische Darstellung der Empfindungen,
welche ein Kunstwerk zunächst in der Seele des Beurtheilers und dann voraus¬
sichtlich im ganzen Publicum erregt. Es ist gegen diese Form an sich nichts
einzuwenden, sobald die Beschreibung nur richtig ist, d. h. sobald sie wirklich
die Stimmung wiedergibt, die in jeder richtig organisirten Natur die Musik
hervorbringen muß. Freilich ist das Feuilleton nur zu geneigt, darüber hinaus-
zugehen und durch poetisches Beiwerk, durch Einfälle, die an sich ganz artig
sind, aber nicht wesentlich zur Sache gehören, die objective Beschreibung zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/284>, abgerufen am 23.07.2024.