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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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sich stundenlang ins Gras oder Haidekraut zu legen, die Küfer, den Wind und
die Wolken zu beobachten. Wenn sie am Teich im tiefsten Walde lag, konnten
sie oft kaum die Abendnebel vertreiben. Die Gebilde, die ihr kurzsichtiges
Auge im Mondenschein dort entstehen sah, wurden zu Gedichten, wenn sie
in ihrem Stübchen war, wo sie auch wieder meist in liegender Stellung ver¬
harrte. Ein altes schlechtes Sopha war ihr Lager, am Fußende durften ihre
bevorzugten Besuche Platz nehmen, sie las ihnen die neuen Gedichte vor, die
sie eben aus Papierschnitzel und zerrissene Briefcouverts in einer völlig unleser¬
licher Schrift niedergeschrieben. Auf dem unpolirten viereckigen Tisch, dem
einzigen im Zimmer, standen große Schalen mit Feldblumen und Haidckräutern.
die sie von jedem Gange ins Freie mitzubringen pflegte. Ein altes kleines
Clavier. dessen Saiten wie,eine Harfe schwirrten, stand am Kopfende des
Sophas. sie drehte sich oft mitten in der Unterhaltung danach um und sang
ein paar Lieder eigner Composition. Sie hatte fast alle sangbaren Gedichte
Byrons in Musik gesetzt, aber nie ihre eignen. Wenn es dunkel wurde, er¬
zählte sie gern ihren Freunden Schauergeschichten, wozu sie ein wunderbares
Talent besaß, das ja auch in ihren Gedichten sich so sehr bemerkbar macht.
Die starkgcistigen grauem sich vor dem Heimgange und fast noch mehr vor
den Lvgirstuben im obern Stockwerk, wo die braunen Eichenholzthüren und
die verblichenen Ahnenbilder eine drastische Verstärkung des Gehörten abgaben.
Sie selbst war eigentlich dabei scherzhaft gestimmt, sie schien das Vergnügen
eines guten Schauspielers zu empfinden, der seine Zuhörer mit sich fortreißen
will. Nur zuweilen redete sie auch sich selbst in eine förmliche Fieberphantasic
hinein und die Zuhörer glaubten sich auf Augenblicke an der entsetzlichen Grenze
von Vernunft und Wahnsinn. Sie lachte am andern Tage nie über solche
Momente, sondern erwähnte ihrer mit Trauer, aber mit völliger Klarheit.

Ihr Talent zum Erzählen zeigte sich aber auch im komischen Genre; alle
Dinlcctc wußte sie meisterhaft nachzuahmen, namentlich konnte sie köstliche Züge
aus dem Volksleben im westfälischen Plattdeutsch erzählen. Sie werden viel¬
leicht hier fragen, wie Sie schon in Ihrer Kritik gethan, wo die "vornehme
kränkliche Dame" Gelegenheit hatte, dergleichen zu beobachten? Daß ihre Kränk¬
lichkeit sie nicht hinderte aufs Vertrauteste mit der Natur zu verkehren, ist
schon erwähnt worden. Mit dem Volke lebt der westfälische Adel mehr als
man in den Städten denkt. Er bleibt die längste Zeit des Jahres auf dem
Lande, und redet platt mit seiner Dienerschaft, besucht die Hütten der armen
Heuerlinge und die Höfe der reichen Bauern in familiärer Weise; er erfährt
alles, was in der Umgegend der Güter sich ereignet, d. h. in den benachbarten
Dörfern, die in Westfalen bekanntlich keine geschlossene Ortschaften sind, son¬
dern Einzelhöfe zwischen "Kämpen" und "Busch", wie es dort heißt. So
konnte Annette v. Droste schon in früher Jugend ihre Studien machen und


sich stundenlang ins Gras oder Haidekraut zu legen, die Küfer, den Wind und
die Wolken zu beobachten. Wenn sie am Teich im tiefsten Walde lag, konnten
sie oft kaum die Abendnebel vertreiben. Die Gebilde, die ihr kurzsichtiges
Auge im Mondenschein dort entstehen sah, wurden zu Gedichten, wenn sie
in ihrem Stübchen war, wo sie auch wieder meist in liegender Stellung ver¬
harrte. Ein altes schlechtes Sopha war ihr Lager, am Fußende durften ihre
bevorzugten Besuche Platz nehmen, sie las ihnen die neuen Gedichte vor, die
sie eben aus Papierschnitzel und zerrissene Briefcouverts in einer völlig unleser¬
licher Schrift niedergeschrieben. Auf dem unpolirten viereckigen Tisch, dem
einzigen im Zimmer, standen große Schalen mit Feldblumen und Haidckräutern.
die sie von jedem Gange ins Freie mitzubringen pflegte. Ein altes kleines
Clavier. dessen Saiten wie,eine Harfe schwirrten, stand am Kopfende des
Sophas. sie drehte sich oft mitten in der Unterhaltung danach um und sang
ein paar Lieder eigner Composition. Sie hatte fast alle sangbaren Gedichte
Byrons in Musik gesetzt, aber nie ihre eignen. Wenn es dunkel wurde, er¬
zählte sie gern ihren Freunden Schauergeschichten, wozu sie ein wunderbares
Talent besaß, das ja auch in ihren Gedichten sich so sehr bemerkbar macht.
Die starkgcistigen grauem sich vor dem Heimgange und fast noch mehr vor
den Lvgirstuben im obern Stockwerk, wo die braunen Eichenholzthüren und
die verblichenen Ahnenbilder eine drastische Verstärkung des Gehörten abgaben.
Sie selbst war eigentlich dabei scherzhaft gestimmt, sie schien das Vergnügen
eines guten Schauspielers zu empfinden, der seine Zuhörer mit sich fortreißen
will. Nur zuweilen redete sie auch sich selbst in eine förmliche Fieberphantasic
hinein und die Zuhörer glaubten sich auf Augenblicke an der entsetzlichen Grenze
von Vernunft und Wahnsinn. Sie lachte am andern Tage nie über solche
Momente, sondern erwähnte ihrer mit Trauer, aber mit völliger Klarheit.

Ihr Talent zum Erzählen zeigte sich aber auch im komischen Genre; alle
Dinlcctc wußte sie meisterhaft nachzuahmen, namentlich konnte sie köstliche Züge
aus dem Volksleben im westfälischen Plattdeutsch erzählen. Sie werden viel¬
leicht hier fragen, wie Sie schon in Ihrer Kritik gethan, wo die „vornehme
kränkliche Dame" Gelegenheit hatte, dergleichen zu beobachten? Daß ihre Kränk¬
lichkeit sie nicht hinderte aufs Vertrauteste mit der Natur zu verkehren, ist
schon erwähnt worden. Mit dem Volke lebt der westfälische Adel mehr als
man in den Städten denkt. Er bleibt die längste Zeit des Jahres auf dem
Lande, und redet platt mit seiner Dienerschaft, besucht die Hütten der armen
Heuerlinge und die Höfe der reichen Bauern in familiärer Weise; er erfährt
alles, was in der Umgegend der Güter sich ereignet, d. h. in den benachbarten
Dörfern, die in Westfalen bekanntlich keine geschlossene Ortschaften sind, son¬
dern Einzelhöfe zwischen „Kämpen" und „Busch", wie es dort heißt. So
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[0208] sich stundenlang ins Gras oder Haidekraut zu legen, die Küfer, den Wind und die Wolken zu beobachten. Wenn sie am Teich im tiefsten Walde lag, konnten sie oft kaum die Abendnebel vertreiben. Die Gebilde, die ihr kurzsichtiges Auge im Mondenschein dort entstehen sah, wurden zu Gedichten, wenn sie in ihrem Stübchen war, wo sie auch wieder meist in liegender Stellung ver¬ harrte. Ein altes schlechtes Sopha war ihr Lager, am Fußende durften ihre bevorzugten Besuche Platz nehmen, sie las ihnen die neuen Gedichte vor, die sie eben aus Papierschnitzel und zerrissene Briefcouverts in einer völlig unleser¬ licher Schrift niedergeschrieben. Auf dem unpolirten viereckigen Tisch, dem einzigen im Zimmer, standen große Schalen mit Feldblumen und Haidckräutern. die sie von jedem Gange ins Freie mitzubringen pflegte. Ein altes kleines Clavier. dessen Saiten wie,eine Harfe schwirrten, stand am Kopfende des Sophas. sie drehte sich oft mitten in der Unterhaltung danach um und sang ein paar Lieder eigner Composition. Sie hatte fast alle sangbaren Gedichte Byrons in Musik gesetzt, aber nie ihre eignen. Wenn es dunkel wurde, er¬ zählte sie gern ihren Freunden Schauergeschichten, wozu sie ein wunderbares Talent besaß, das ja auch in ihren Gedichten sich so sehr bemerkbar macht. Die starkgcistigen grauem sich vor dem Heimgange und fast noch mehr vor den Lvgirstuben im obern Stockwerk, wo die braunen Eichenholzthüren und die verblichenen Ahnenbilder eine drastische Verstärkung des Gehörten abgaben. Sie selbst war eigentlich dabei scherzhaft gestimmt, sie schien das Vergnügen eines guten Schauspielers zu empfinden, der seine Zuhörer mit sich fortreißen will. Nur zuweilen redete sie auch sich selbst in eine förmliche Fieberphantasic hinein und die Zuhörer glaubten sich auf Augenblicke an der entsetzlichen Grenze von Vernunft und Wahnsinn. Sie lachte am andern Tage nie über solche Momente, sondern erwähnte ihrer mit Trauer, aber mit völliger Klarheit. Ihr Talent zum Erzählen zeigte sich aber auch im komischen Genre; alle Dinlcctc wußte sie meisterhaft nachzuahmen, namentlich konnte sie köstliche Züge aus dem Volksleben im westfälischen Plattdeutsch erzählen. Sie werden viel¬ leicht hier fragen, wie Sie schon in Ihrer Kritik gethan, wo die „vornehme kränkliche Dame" Gelegenheit hatte, dergleichen zu beobachten? Daß ihre Kränk¬ lichkeit sie nicht hinderte aufs Vertrauteste mit der Natur zu verkehren, ist schon erwähnt worden. Mit dem Volke lebt der westfälische Adel mehr als man in den Städten denkt. Er bleibt die längste Zeit des Jahres auf dem Lande, und redet platt mit seiner Dienerschaft, besucht die Hütten der armen Heuerlinge und die Höfe der reichen Bauern in familiärer Weise; er erfährt alles, was in der Umgegend der Güter sich ereignet, d. h. in den benachbarten Dörfern, die in Westfalen bekanntlich keine geschlossene Ortschaften sind, son¬ dern Einzelhöfe zwischen „Kämpen" und „Busch", wie es dort heißt. So konnte Annette v. Droste schon in früher Jugend ihre Studien machen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/208>, abgerufen am 23.07.2024.