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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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an die sittlichen Mächte erschüttert. Neben ihm stehen die modernen Roman-
schreiber, die Se. Simonisten, die Verkünder einer Religion des Fleisches
u. s. w. Der schädliche Einfluß dieser Literatur ist bereits hinlänglich gewür¬
digt; im gegenwärtigen Augenblick können wir unbefangen genug sein, auch
ihre positiven Seiten anzuerkennen: sie war nothwendig als Kritik der
Restaurationsliteratur, die theils in einer hohlen poetischen Convenienz, theils
in einer steifen schwerfälligen Schulsprache versumpfte.

Man sieht, daß in diesen beiden Perioden der Einfluß der Franzosen ein
entgegengesetzter war, daß sie erst als Zuchtmeister, dann als Aufwiegler auftraten.
Unter diesen beiden Formen pflegt man sie sich auch gewöhnlich vorzustellen:
entweder mit der Allongenperrücke und dem Galanteriedegen. im Tünzerpas
den Alexandriner declamirend. oder als Sansculotten/ die rothe Mütze
auf dem Kopf, im Gefolge tobender Fischweiber betrunken die Marseillaise
brüllend.

Es liegt aber zwischen diesen beiden Perioden noch eine dritte, deren
Einfluß auf unsere Literatur weniger auffällt und doch sehr hoch anzuschlagen
ist. Will man sich diesen Einfluß sinnlich vors Auge stellen, so blättere man
in dem Briefwechsel der Rahel. Der Ton dieses Briefwechsels weicht so we¬
sentlich von der Art ab, in der man früher zu schreiben Pflegte, und sieht
trotz einzelner Schönheiten mitunter so gezwungen ans, daß man im ersten
Augenblick über seinen Ursprung nicht ins Klare kommt: vergleicht man ferner
den Ton dieser Briefe z. B. mit den Aphorismen des Athenäums, die in
dieselbe Zeit fallen, kurz mit den Versuchen der jungen Dichter und Kritiker,
die noch viel lauter und leidenschaftlicher als Lessing gegen das Franzosenthum
declamirten, so findet man eine seltsame Uebereinstimmung. Man erinnert
sich dann, daß die Schlegel, Tieck, Bernhardt u. s. w. viel in den Salons
der Rahel und der übrigen geistreichen Berliner Jüdinnen verkehrten und daß
ihre Richtung hier zuerst gewürdigt wurde. Die liebenswürdigste Frau dieses
Kreises, Henriette Herz, gibt in ihrer Ehe mit dem Kantianer Markus Herz
ein recht auffallendes Beispiel, wie hart die alte und neue Zeit an einander
stoßen, nicht blos in Sprache und Denken, sondern auch in Sitte und Em¬
pfindung.

Wo ist nun die eigentliche Quelle dieses veränderten Tons zu suchen?
Der Einfluß Goethe's ist es nicht allein; denn zwischen Poesie und Prosa
bleibt immer ein gewaltiger Unterschied, und in Goethe's Prosa, so schön sie
ist. wird man selten oder nie an die Kühnheiten seiner poetischen Sprache er¬
innert: sie ist auch darin classisch, daß man aus ihr sofort die Regel eines
guten d. h. sachgemäßen Stils entnehmen könnte. -- Ein Licht geht uns auf.
wenn wir in Rachel's Korrespondenz die französisch geschriebenen Briefe ins
Auge fassen, darunter die Briefe des Mannes, dessen gesammelte Werke uns


an die sittlichen Mächte erschüttert. Neben ihm stehen die modernen Roman-
schreiber, die Se. Simonisten, die Verkünder einer Religion des Fleisches
u. s. w. Der schädliche Einfluß dieser Literatur ist bereits hinlänglich gewür¬
digt; im gegenwärtigen Augenblick können wir unbefangen genug sein, auch
ihre positiven Seiten anzuerkennen: sie war nothwendig als Kritik der
Restaurationsliteratur, die theils in einer hohlen poetischen Convenienz, theils
in einer steifen schwerfälligen Schulsprache versumpfte.

Man sieht, daß in diesen beiden Perioden der Einfluß der Franzosen ein
entgegengesetzter war, daß sie erst als Zuchtmeister, dann als Aufwiegler auftraten.
Unter diesen beiden Formen pflegt man sie sich auch gewöhnlich vorzustellen:
entweder mit der Allongenperrücke und dem Galanteriedegen. im Tünzerpas
den Alexandriner declamirend. oder als Sansculotten/ die rothe Mütze
auf dem Kopf, im Gefolge tobender Fischweiber betrunken die Marseillaise
brüllend.

Es liegt aber zwischen diesen beiden Perioden noch eine dritte, deren
Einfluß auf unsere Literatur weniger auffällt und doch sehr hoch anzuschlagen
ist. Will man sich diesen Einfluß sinnlich vors Auge stellen, so blättere man
in dem Briefwechsel der Rahel. Der Ton dieses Briefwechsels weicht so we¬
sentlich von der Art ab, in der man früher zu schreiben Pflegte, und sieht
trotz einzelner Schönheiten mitunter so gezwungen ans, daß man im ersten
Augenblick über seinen Ursprung nicht ins Klare kommt: vergleicht man ferner
den Ton dieser Briefe z. B. mit den Aphorismen des Athenäums, die in
dieselbe Zeit fallen, kurz mit den Versuchen der jungen Dichter und Kritiker,
die noch viel lauter und leidenschaftlicher als Lessing gegen das Franzosenthum
declamirten, so findet man eine seltsame Uebereinstimmung. Man erinnert
sich dann, daß die Schlegel, Tieck, Bernhardt u. s. w. viel in den Salons
der Rahel und der übrigen geistreichen Berliner Jüdinnen verkehrten und daß
ihre Richtung hier zuerst gewürdigt wurde. Die liebenswürdigste Frau dieses
Kreises, Henriette Herz, gibt in ihrer Ehe mit dem Kantianer Markus Herz
ein recht auffallendes Beispiel, wie hart die alte und neue Zeit an einander
stoßen, nicht blos in Sprache und Denken, sondern auch in Sitte und Em¬
pfindung.

Wo ist nun die eigentliche Quelle dieses veränderten Tons zu suchen?
Der Einfluß Goethe's ist es nicht allein; denn zwischen Poesie und Prosa
bleibt immer ein gewaltiger Unterschied, und in Goethe's Prosa, so schön sie
ist. wird man selten oder nie an die Kühnheiten seiner poetischen Sprache er¬
innert: sie ist auch darin classisch, daß man aus ihr sofort die Regel eines
guten d. h. sachgemäßen Stils entnehmen könnte. — Ein Licht geht uns auf.
wenn wir in Rachel's Korrespondenz die französisch geschriebenen Briefe ins
Auge fassen, darunter die Briefe des Mannes, dessen gesammelte Werke uns


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[0193] an die sittlichen Mächte erschüttert. Neben ihm stehen die modernen Roman- schreiber, die Se. Simonisten, die Verkünder einer Religion des Fleisches u. s. w. Der schädliche Einfluß dieser Literatur ist bereits hinlänglich gewür¬ digt; im gegenwärtigen Augenblick können wir unbefangen genug sein, auch ihre positiven Seiten anzuerkennen: sie war nothwendig als Kritik der Restaurationsliteratur, die theils in einer hohlen poetischen Convenienz, theils in einer steifen schwerfälligen Schulsprache versumpfte. Man sieht, daß in diesen beiden Perioden der Einfluß der Franzosen ein entgegengesetzter war, daß sie erst als Zuchtmeister, dann als Aufwiegler auftraten. Unter diesen beiden Formen pflegt man sie sich auch gewöhnlich vorzustellen: entweder mit der Allongenperrücke und dem Galanteriedegen. im Tünzerpas den Alexandriner declamirend. oder als Sansculotten/ die rothe Mütze auf dem Kopf, im Gefolge tobender Fischweiber betrunken die Marseillaise brüllend. Es liegt aber zwischen diesen beiden Perioden noch eine dritte, deren Einfluß auf unsere Literatur weniger auffällt und doch sehr hoch anzuschlagen ist. Will man sich diesen Einfluß sinnlich vors Auge stellen, so blättere man in dem Briefwechsel der Rahel. Der Ton dieses Briefwechsels weicht so we¬ sentlich von der Art ab, in der man früher zu schreiben Pflegte, und sieht trotz einzelner Schönheiten mitunter so gezwungen ans, daß man im ersten Augenblick über seinen Ursprung nicht ins Klare kommt: vergleicht man ferner den Ton dieser Briefe z. B. mit den Aphorismen des Athenäums, die in dieselbe Zeit fallen, kurz mit den Versuchen der jungen Dichter und Kritiker, die noch viel lauter und leidenschaftlicher als Lessing gegen das Franzosenthum declamirten, so findet man eine seltsame Uebereinstimmung. Man erinnert sich dann, daß die Schlegel, Tieck, Bernhardt u. s. w. viel in den Salons der Rahel und der übrigen geistreichen Berliner Jüdinnen verkehrten und daß ihre Richtung hier zuerst gewürdigt wurde. Die liebenswürdigste Frau dieses Kreises, Henriette Herz, gibt in ihrer Ehe mit dem Kantianer Markus Herz ein recht auffallendes Beispiel, wie hart die alte und neue Zeit an einander stoßen, nicht blos in Sprache und Denken, sondern auch in Sitte und Em¬ pfindung. Wo ist nun die eigentliche Quelle dieses veränderten Tons zu suchen? Der Einfluß Goethe's ist es nicht allein; denn zwischen Poesie und Prosa bleibt immer ein gewaltiger Unterschied, und in Goethe's Prosa, so schön sie ist. wird man selten oder nie an die Kühnheiten seiner poetischen Sprache er¬ innert: sie ist auch darin classisch, daß man aus ihr sofort die Regel eines guten d. h. sachgemäßen Stils entnehmen könnte. — Ein Licht geht uns auf. wenn wir in Rachel's Korrespondenz die französisch geschriebenen Briefe ins Auge fassen, darunter die Briefe des Mannes, dessen gesammelte Werke uns

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/193>, abgerufen am 23.07.2024.