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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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mustergiltig galt, wo man sich aus Boileau und Batteux über die Regeln der
Dichtkunst Rath erholte, wo man dem Lafontaine die Kunst ablernte, Fabeln
zu machen, wo man in Alexandrinern schrieb und nicht abgeneigt war. die
Henriade neben den Homer zu stellen: kurz das Zeitalter Gottsched's und sei¬
ner Schule, welches durch Klopstock und Lessing zertrümmert wurde. Daß in
dieser Periode von deutscher Poesie nur wenig die Rede sein konnte und daß
auch die französischen Muster, nach denen man sich bildete, in der Weltliteratur
nur einen sehr bescheidenen Rang beanspruchen dürfen, ist durch jene Männer
hinlänglich festgestellt. Neuerdings hat man dann wieder anerkannt, daß in
jener Periode, wenn man sie als Uebergang betrachtet, auch manches Gute
geleistet wurde; daß es bei der grenzenlosen Verwilderung der zweiten schlesi-
schen Dichterschule und der volksthümlichen Hanswurstspiele sehr nöthig war,
an Regel und Gesetz in der Kunst zu erinnern; daß die Regel der Franzosen
am nächsten lag, nicht blos weil sie in jener Periode am meisten ausgebildet
war, sondern auch weil die vornehme Welt in Deutschland, deren Schutz man
zur Förderung der jungen Literatur nicht entbehren konnte, soweit sie überhaupt
in dieser Beziehung zurechnungsfähig war. sich nur französisch verstündlich zu
machen wußte. Gottsched, der beiläufig sehr schlecht französisch schrieb, hatte
das ehrliche Bestreben, nach dem Muster der französischen Sprache die deutsche
Sprache zu reinigen und zu veredeln, worin ihm bereits Thomasius den Weg
gezeigt; wie nöthig eine solche Reinigung war, sieht man unter andern aus
seinen eigenen Briefen. Die deutsche Sprache war eine Hanswurstjacke, aus
Fetzen aller möglichen Sprachen zusammengesetzt, sie hatte alle organische Glie¬
derung verloren. Der sogenannte Curialstil war ihr angemessenster Ausdruck,
und die meisten Schriften jener Periode sehen aus, als wären sie von Fremden
geschrieben, die sich des Gesetzes und des Geistes der deutschen Sprache noch
nicht bemächtigt hätten. Trotz seiner Schwächen auch in der Grammatik und
Stilistik hat Gottsched doch das große Verdienst, mit Hilfe seiner "deutschen
Gesellschaften" in diese Verwilderung einige Disciplin gebracht zu haben, welche
dann die späteren befähigte, mit Freiheit zu schaffen, ohne dem Geist der
deutschen Sprache untreu zu werden.

Die zweite Periode des französischen Einflußcs, die man im Auge hat,
ist die sogenannte jungdeutsche. Unter dieser Bezeichnung hat man nicht eine
gewisse Anzahl von Schriftstellern zu verstehen, die von Menzel als gefährliche
Franzoscnfreunde gestempelt wurden, sondern ein halbes Menschenalter unserer
Literatur, welches noch vor der Julirevolution beginnt und dem sich erst in
der Mitte der vierziger Jahre eine siegreiche nationale Reaction entgegenstellt.
Auch hier begegnen wir wieder dem Einfluße Voltaires: nur ist es diesmal
nicht der Dichter der Henriade, sondern der frivole Spötter, der das Christen¬
thum lächerlich macht und mit seiner boshaften Analyse auch den Glauben


mustergiltig galt, wo man sich aus Boileau und Batteux über die Regeln der
Dichtkunst Rath erholte, wo man dem Lafontaine die Kunst ablernte, Fabeln
zu machen, wo man in Alexandrinern schrieb und nicht abgeneigt war. die
Henriade neben den Homer zu stellen: kurz das Zeitalter Gottsched's und sei¬
ner Schule, welches durch Klopstock und Lessing zertrümmert wurde. Daß in
dieser Periode von deutscher Poesie nur wenig die Rede sein konnte und daß
auch die französischen Muster, nach denen man sich bildete, in der Weltliteratur
nur einen sehr bescheidenen Rang beanspruchen dürfen, ist durch jene Männer
hinlänglich festgestellt. Neuerdings hat man dann wieder anerkannt, daß in
jener Periode, wenn man sie als Uebergang betrachtet, auch manches Gute
geleistet wurde; daß es bei der grenzenlosen Verwilderung der zweiten schlesi-
schen Dichterschule und der volksthümlichen Hanswurstspiele sehr nöthig war,
an Regel und Gesetz in der Kunst zu erinnern; daß die Regel der Franzosen
am nächsten lag, nicht blos weil sie in jener Periode am meisten ausgebildet
war, sondern auch weil die vornehme Welt in Deutschland, deren Schutz man
zur Förderung der jungen Literatur nicht entbehren konnte, soweit sie überhaupt
in dieser Beziehung zurechnungsfähig war. sich nur französisch verstündlich zu
machen wußte. Gottsched, der beiläufig sehr schlecht französisch schrieb, hatte
das ehrliche Bestreben, nach dem Muster der französischen Sprache die deutsche
Sprache zu reinigen und zu veredeln, worin ihm bereits Thomasius den Weg
gezeigt; wie nöthig eine solche Reinigung war, sieht man unter andern aus
seinen eigenen Briefen. Die deutsche Sprache war eine Hanswurstjacke, aus
Fetzen aller möglichen Sprachen zusammengesetzt, sie hatte alle organische Glie¬
derung verloren. Der sogenannte Curialstil war ihr angemessenster Ausdruck,
und die meisten Schriften jener Periode sehen aus, als wären sie von Fremden
geschrieben, die sich des Gesetzes und des Geistes der deutschen Sprache noch
nicht bemächtigt hätten. Trotz seiner Schwächen auch in der Grammatik und
Stilistik hat Gottsched doch das große Verdienst, mit Hilfe seiner „deutschen
Gesellschaften" in diese Verwilderung einige Disciplin gebracht zu haben, welche
dann die späteren befähigte, mit Freiheit zu schaffen, ohne dem Geist der
deutschen Sprache untreu zu werden.

Die zweite Periode des französischen Einflußcs, die man im Auge hat,
ist die sogenannte jungdeutsche. Unter dieser Bezeichnung hat man nicht eine
gewisse Anzahl von Schriftstellern zu verstehen, die von Menzel als gefährliche
Franzoscnfreunde gestempelt wurden, sondern ein halbes Menschenalter unserer
Literatur, welches noch vor der Julirevolution beginnt und dem sich erst in
der Mitte der vierziger Jahre eine siegreiche nationale Reaction entgegenstellt.
Auch hier begegnen wir wieder dem Einfluße Voltaires: nur ist es diesmal
nicht der Dichter der Henriade, sondern der frivole Spötter, der das Christen¬
thum lächerlich macht und mit seiner boshaften Analyse auch den Glauben


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[0192] mustergiltig galt, wo man sich aus Boileau und Batteux über die Regeln der Dichtkunst Rath erholte, wo man dem Lafontaine die Kunst ablernte, Fabeln zu machen, wo man in Alexandrinern schrieb und nicht abgeneigt war. die Henriade neben den Homer zu stellen: kurz das Zeitalter Gottsched's und sei¬ ner Schule, welches durch Klopstock und Lessing zertrümmert wurde. Daß in dieser Periode von deutscher Poesie nur wenig die Rede sein konnte und daß auch die französischen Muster, nach denen man sich bildete, in der Weltliteratur nur einen sehr bescheidenen Rang beanspruchen dürfen, ist durch jene Männer hinlänglich festgestellt. Neuerdings hat man dann wieder anerkannt, daß in jener Periode, wenn man sie als Uebergang betrachtet, auch manches Gute geleistet wurde; daß es bei der grenzenlosen Verwilderung der zweiten schlesi- schen Dichterschule und der volksthümlichen Hanswurstspiele sehr nöthig war, an Regel und Gesetz in der Kunst zu erinnern; daß die Regel der Franzosen am nächsten lag, nicht blos weil sie in jener Periode am meisten ausgebildet war, sondern auch weil die vornehme Welt in Deutschland, deren Schutz man zur Förderung der jungen Literatur nicht entbehren konnte, soweit sie überhaupt in dieser Beziehung zurechnungsfähig war. sich nur französisch verstündlich zu machen wußte. Gottsched, der beiläufig sehr schlecht französisch schrieb, hatte das ehrliche Bestreben, nach dem Muster der französischen Sprache die deutsche Sprache zu reinigen und zu veredeln, worin ihm bereits Thomasius den Weg gezeigt; wie nöthig eine solche Reinigung war, sieht man unter andern aus seinen eigenen Briefen. Die deutsche Sprache war eine Hanswurstjacke, aus Fetzen aller möglichen Sprachen zusammengesetzt, sie hatte alle organische Glie¬ derung verloren. Der sogenannte Curialstil war ihr angemessenster Ausdruck, und die meisten Schriften jener Periode sehen aus, als wären sie von Fremden geschrieben, die sich des Gesetzes und des Geistes der deutschen Sprache noch nicht bemächtigt hätten. Trotz seiner Schwächen auch in der Grammatik und Stilistik hat Gottsched doch das große Verdienst, mit Hilfe seiner „deutschen Gesellschaften" in diese Verwilderung einige Disciplin gebracht zu haben, welche dann die späteren befähigte, mit Freiheit zu schaffen, ohne dem Geist der deutschen Sprache untreu zu werden. Die zweite Periode des französischen Einflußcs, die man im Auge hat, ist die sogenannte jungdeutsche. Unter dieser Bezeichnung hat man nicht eine gewisse Anzahl von Schriftstellern zu verstehen, die von Menzel als gefährliche Franzoscnfreunde gestempelt wurden, sondern ein halbes Menschenalter unserer Literatur, welches noch vor der Julirevolution beginnt und dem sich erst in der Mitte der vierziger Jahre eine siegreiche nationale Reaction entgegenstellt. Auch hier begegnen wir wieder dem Einfluße Voltaires: nur ist es diesmal nicht der Dichter der Henriade, sondern der frivole Spötter, der das Christen¬ thum lächerlich macht und mit seiner boshaften Analyse auch den Glauben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/192>, abgerufen am 25.08.2024.