Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sten die Entwicklung der neuhochdeutschen Sprache vor Augen, und es ist wirk¬
lich gleich bewundernswerth. wie unsre Sprache aus ihrem Zerfall am Schluß des
Mittelalters sich emporgearbeitet hat zu dem. was sie jetzt ist. in der Form die
fichtbarste Darstellung der Einheit und Größe unsres Vaterlandes, im Inhalt
die Trägerin, das Gesas, der bis jetzt höchsten rein menschlichen Bildung, deren
irgend ein Volk der Gegenwart sich rühmen kann, so daß schon Goethe aus-
sprechen konnte, sie sei bestimmt für diese höhere Bildung die Weltsprache zu
werden (Recens. der Volkslieder der Serben übers, v. Jakob).

Man muh fragen, wie ist es möglich geworden, diese Sprachcinheit
ins Werk zu setzen, ohne eine umschließende äußere Einheit, ja unter dem
Zerfall derselben, und ohne einen maßgebenden politischen Mittelpunkt? Denn
die deutschen Völker reden von Haus aus mehrere besondere Sprachen, die
bei aller ursprünglichen Einheit doch im Beginn unsrer Geschichte weit genug
auseinandergingen. und die sich im Lauf der Jahrhunderte an und für sich
noch weiter getrennt und zersplittert haben. Zwar einmal schon in der blühend¬
sten Zeit des Mittelalters, unter den hohenstaufischen Kaisern, war es gelungen,
eine von den verschiedenen Mundarten zu einer Gesammtsprache der Gebildeten
und der Schrift über die andern zu erheben, die schwäbische, die wir in diesem
Sinn mittelhochdeutsch nennen; und doch reichte die damit erzielte Einigung
kaum halb so weit, als die wir heute besitzen. Allerdings hat man an der
neuhochdeutschen Einigung drei ganze Jahrhunderte gearbeitet; denn erst gegen
die Mitte des vorigen Jahrhunderts war sie in der Hauptsache vollendet, kurz
vor der Zeit, als die ersten von den großen Denkern und Dichtern auftraten,
die sie zum Werkzeug ihrer Hcldcnarbeit brauchten, mit der sie dem deutschen
Volke gleichsam ein neues geistiges Vaterland schufen.

Woher stammt nun diese einheitliche Sprachschöpfung für so viele Millio¬
nen mit so zahlreichen verschiedenen Mundarten, die unter unsern äußeren na¬
tionalen Besitzthümern als das wahre Kleinod gelten muß? Sie ist zum Theil
und im Kern ein Erbe aus der mittelhochdeutschen Zeit, zum Theil die saure
und treue Arbeit der Gelehrten. Schriftsteller und Grammatiker vergangener
Jahrhunderte; aber sie hat auch in Form und Stoff der Sprache eine bestimmte
landschaftliche Heimat: was für das gebildete Deutsch des Mittelalters
Schwaben war, das wurde für die neuere Zeit das östliche Mitteldeutschland,
namentlich Sachsen. Es ist hier nicht der Ort, das in wissenschaftlicher Be¬
trachtung an der Sprache selbst zu zeigen; es sollen dafür Zeugnisse beigebracht
werden, die den Satz als geschichtliche Thatsache belegen.

Der Erste, der ihn mit einer gewissen wissenschaftlichen Begründung aus¬
sprach, war Adelung; er kommt in allen seinen sprachlichen Schriften mit Vor¬
liebe darauf zurück, am' eingehendsten im Magazin für die deutsche Sprache
in den Jahren 1781 und 82; er faßt ihn da u. a. bündig so zusammen:


sten die Entwicklung der neuhochdeutschen Sprache vor Augen, und es ist wirk¬
lich gleich bewundernswerth. wie unsre Sprache aus ihrem Zerfall am Schluß des
Mittelalters sich emporgearbeitet hat zu dem. was sie jetzt ist. in der Form die
fichtbarste Darstellung der Einheit und Größe unsres Vaterlandes, im Inhalt
die Trägerin, das Gesas, der bis jetzt höchsten rein menschlichen Bildung, deren
irgend ein Volk der Gegenwart sich rühmen kann, so daß schon Goethe aus-
sprechen konnte, sie sei bestimmt für diese höhere Bildung die Weltsprache zu
werden (Recens. der Volkslieder der Serben übers, v. Jakob).

Man muh fragen, wie ist es möglich geworden, diese Sprachcinheit
ins Werk zu setzen, ohne eine umschließende äußere Einheit, ja unter dem
Zerfall derselben, und ohne einen maßgebenden politischen Mittelpunkt? Denn
die deutschen Völker reden von Haus aus mehrere besondere Sprachen, die
bei aller ursprünglichen Einheit doch im Beginn unsrer Geschichte weit genug
auseinandergingen. und die sich im Lauf der Jahrhunderte an und für sich
noch weiter getrennt und zersplittert haben. Zwar einmal schon in der blühend¬
sten Zeit des Mittelalters, unter den hohenstaufischen Kaisern, war es gelungen,
eine von den verschiedenen Mundarten zu einer Gesammtsprache der Gebildeten
und der Schrift über die andern zu erheben, die schwäbische, die wir in diesem
Sinn mittelhochdeutsch nennen; und doch reichte die damit erzielte Einigung
kaum halb so weit, als die wir heute besitzen. Allerdings hat man an der
neuhochdeutschen Einigung drei ganze Jahrhunderte gearbeitet; denn erst gegen
die Mitte des vorigen Jahrhunderts war sie in der Hauptsache vollendet, kurz
vor der Zeit, als die ersten von den großen Denkern und Dichtern auftraten,
die sie zum Werkzeug ihrer Hcldcnarbeit brauchten, mit der sie dem deutschen
Volke gleichsam ein neues geistiges Vaterland schufen.

Woher stammt nun diese einheitliche Sprachschöpfung für so viele Millio¬
nen mit so zahlreichen verschiedenen Mundarten, die unter unsern äußeren na¬
tionalen Besitzthümern als das wahre Kleinod gelten muß? Sie ist zum Theil
und im Kern ein Erbe aus der mittelhochdeutschen Zeit, zum Theil die saure
und treue Arbeit der Gelehrten. Schriftsteller und Grammatiker vergangener
Jahrhunderte; aber sie hat auch in Form und Stoff der Sprache eine bestimmte
landschaftliche Heimat: was für das gebildete Deutsch des Mittelalters
Schwaben war, das wurde für die neuere Zeit das östliche Mitteldeutschland,
namentlich Sachsen. Es ist hier nicht der Ort, das in wissenschaftlicher Be¬
trachtung an der Sprache selbst zu zeigen; es sollen dafür Zeugnisse beigebracht
werden, die den Satz als geschichtliche Thatsache belegen.

Der Erste, der ihn mit einer gewissen wissenschaftlichen Begründung aus¬
sprach, war Adelung; er kommt in allen seinen sprachlichen Schriften mit Vor¬
liebe darauf zurück, am' eingehendsten im Magazin für die deutsche Sprache
in den Jahren 1781 und 82; er faßt ihn da u. a. bündig so zusammen:


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0112" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/108834"/>
          <p xml:id="ID_316" prev="#ID_315"> sten die Entwicklung der neuhochdeutschen Sprache vor Augen, und es ist wirk¬<lb/>
lich gleich bewundernswerth. wie unsre Sprache aus ihrem Zerfall am Schluß des<lb/>
Mittelalters sich emporgearbeitet hat zu dem. was sie jetzt ist. in der Form die<lb/>
fichtbarste Darstellung der Einheit und Größe unsres Vaterlandes, im Inhalt<lb/>
die Trägerin, das Gesas, der bis jetzt höchsten rein menschlichen Bildung, deren<lb/>
irgend ein Volk der Gegenwart sich rühmen kann, so daß schon Goethe aus-<lb/>
sprechen konnte, sie sei bestimmt für diese höhere Bildung die Weltsprache zu<lb/>
werden (Recens. der Volkslieder der Serben übers, v. Jakob).</p><lb/>
          <p xml:id="ID_317"> Man muh fragen, wie ist es möglich geworden, diese Sprachcinheit<lb/>
ins Werk zu setzen, ohne eine umschließende äußere Einheit, ja unter dem<lb/>
Zerfall derselben, und ohne einen maßgebenden politischen Mittelpunkt? Denn<lb/>
die deutschen Völker reden von Haus aus mehrere besondere Sprachen, die<lb/>
bei aller ursprünglichen Einheit doch im Beginn unsrer Geschichte weit genug<lb/>
auseinandergingen. und die sich im Lauf der Jahrhunderte an und für sich<lb/>
noch weiter getrennt und zersplittert haben. Zwar einmal schon in der blühend¬<lb/>
sten Zeit des Mittelalters, unter den hohenstaufischen Kaisern, war es gelungen,<lb/>
eine von den verschiedenen Mundarten zu einer Gesammtsprache der Gebildeten<lb/>
und der Schrift über die andern zu erheben, die schwäbische, die wir in diesem<lb/>
Sinn mittelhochdeutsch nennen; und doch reichte die damit erzielte Einigung<lb/>
kaum halb so weit, als die wir heute besitzen. Allerdings hat man an der<lb/>
neuhochdeutschen Einigung drei ganze Jahrhunderte gearbeitet; denn erst gegen<lb/>
die Mitte des vorigen Jahrhunderts war sie in der Hauptsache vollendet, kurz<lb/>
vor der Zeit, als die ersten von den großen Denkern und Dichtern auftraten,<lb/>
die sie zum Werkzeug ihrer Hcldcnarbeit brauchten, mit der sie dem deutschen<lb/>
Volke gleichsam ein neues geistiges Vaterland schufen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_318"> Woher stammt nun diese einheitliche Sprachschöpfung für so viele Millio¬<lb/>
nen mit so zahlreichen verschiedenen Mundarten, die unter unsern äußeren na¬<lb/>
tionalen Besitzthümern als das wahre Kleinod gelten muß? Sie ist zum Theil<lb/>
und im Kern ein Erbe aus der mittelhochdeutschen Zeit, zum Theil die saure<lb/>
und treue Arbeit der Gelehrten. Schriftsteller und Grammatiker vergangener<lb/>
Jahrhunderte; aber sie hat auch in Form und Stoff der Sprache eine bestimmte<lb/>
landschaftliche Heimat: was für das gebildete Deutsch des Mittelalters<lb/>
Schwaben war, das wurde für die neuere Zeit das östliche Mitteldeutschland,<lb/>
namentlich Sachsen. Es ist hier nicht der Ort, das in wissenschaftlicher Be¬<lb/>
trachtung an der Sprache selbst zu zeigen; es sollen dafür Zeugnisse beigebracht<lb/>
werden, die den Satz als geschichtliche Thatsache belegen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_319" next="#ID_320"> Der Erste, der ihn mit einer gewissen wissenschaftlichen Begründung aus¬<lb/>
sprach, war Adelung; er kommt in allen seinen sprachlichen Schriften mit Vor¬<lb/>
liebe darauf zurück, am' eingehendsten im Magazin für die deutsche Sprache<lb/>
in den Jahren 1781 und 82; er faßt ihn da u. a. bündig so zusammen:</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0112] sten die Entwicklung der neuhochdeutschen Sprache vor Augen, und es ist wirk¬ lich gleich bewundernswerth. wie unsre Sprache aus ihrem Zerfall am Schluß des Mittelalters sich emporgearbeitet hat zu dem. was sie jetzt ist. in der Form die fichtbarste Darstellung der Einheit und Größe unsres Vaterlandes, im Inhalt die Trägerin, das Gesas, der bis jetzt höchsten rein menschlichen Bildung, deren irgend ein Volk der Gegenwart sich rühmen kann, so daß schon Goethe aus- sprechen konnte, sie sei bestimmt für diese höhere Bildung die Weltsprache zu werden (Recens. der Volkslieder der Serben übers, v. Jakob). Man muh fragen, wie ist es möglich geworden, diese Sprachcinheit ins Werk zu setzen, ohne eine umschließende äußere Einheit, ja unter dem Zerfall derselben, und ohne einen maßgebenden politischen Mittelpunkt? Denn die deutschen Völker reden von Haus aus mehrere besondere Sprachen, die bei aller ursprünglichen Einheit doch im Beginn unsrer Geschichte weit genug auseinandergingen. und die sich im Lauf der Jahrhunderte an und für sich noch weiter getrennt und zersplittert haben. Zwar einmal schon in der blühend¬ sten Zeit des Mittelalters, unter den hohenstaufischen Kaisern, war es gelungen, eine von den verschiedenen Mundarten zu einer Gesammtsprache der Gebildeten und der Schrift über die andern zu erheben, die schwäbische, die wir in diesem Sinn mittelhochdeutsch nennen; und doch reichte die damit erzielte Einigung kaum halb so weit, als die wir heute besitzen. Allerdings hat man an der neuhochdeutschen Einigung drei ganze Jahrhunderte gearbeitet; denn erst gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts war sie in der Hauptsache vollendet, kurz vor der Zeit, als die ersten von den großen Denkern und Dichtern auftraten, die sie zum Werkzeug ihrer Hcldcnarbeit brauchten, mit der sie dem deutschen Volke gleichsam ein neues geistiges Vaterland schufen. Woher stammt nun diese einheitliche Sprachschöpfung für so viele Millio¬ nen mit so zahlreichen verschiedenen Mundarten, die unter unsern äußeren na¬ tionalen Besitzthümern als das wahre Kleinod gelten muß? Sie ist zum Theil und im Kern ein Erbe aus der mittelhochdeutschen Zeit, zum Theil die saure und treue Arbeit der Gelehrten. Schriftsteller und Grammatiker vergangener Jahrhunderte; aber sie hat auch in Form und Stoff der Sprache eine bestimmte landschaftliche Heimat: was für das gebildete Deutsch des Mittelalters Schwaben war, das wurde für die neuere Zeit das östliche Mitteldeutschland, namentlich Sachsen. Es ist hier nicht der Ort, das in wissenschaftlicher Be¬ trachtung an der Sprache selbst zu zeigen; es sollen dafür Zeugnisse beigebracht werden, die den Satz als geschichtliche Thatsache belegen. Der Erste, der ihn mit einer gewissen wissenschaftlichen Begründung aus¬ sprach, war Adelung; er kommt in allen seinen sprachlichen Schriften mit Vor¬ liebe darauf zurück, am' eingehendsten im Magazin für die deutsche Sprache in den Jahren 1781 und 82; er faßt ihn da u. a. bündig so zusammen:

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/112
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/112>, abgerufen am 23.07.2024.