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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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fühlt, daß es immer weniger zu verlieren hat. Wem es zu sehr durch die
Finger sieht zur Zeit, da er sich noch zu erwerben hat. dem ist es nicht ge¬
wogen: es arbeitet darauf, vollkommene Greise zu haben/ --
"Wir sollten nie feste Wünsche des Herzens machen. Das Schicksal hat seine
eigne Art zu erfüllen, die oft von der. wie wirs wünschten, sehr verschieden
ist. und doch die vorteilhafteste für uns. Fügen in die Nothwendigkeit ist
wahrer Gehorsam, und nur dieser kann uns am Ende, zumal bei verwirrter
Lage, beruhigen und glücklich machen" (6. Den. 1784). -- Das Leben ist
voll eitel Müh und Stückwerk; indem wirs als solches betrachten, kommt uns
noch hier und da eine unerwartete stille Freude entgegen" (31. Jan. 1785).
-- "Wir müssen uns stets mit dem Leben etwas verändern; denn wenn wir
stehen bleiben, sind wir zu nichts. . . Leb du nur immer etwas in Leicht¬
sinn und Taumel, wo es möglich ist!" (27. Juni 1786).

Karl äußerte sich der Schwester gegenüber mit unbedingtem Vertrauen;
auch Erlebnisse, die sonst unter Männern bleiben, theilte er ihr unbefangen
mit. Wie wenig sie der Prüderie anzuklagen war. zeigt die Correspondenz
über ArdingheUo. "Die Moral des Verfassers, schreibt Knebel 24. Sept.
"87. ist freilich schwankend, aber das Buch ist voll Leben, und das ist ge¬
nug. Moral ist. denk ich. jedes eigne Sache." "Du wirst mir nicht ver-
"rgen. antwortet Henriette. daß ich mich über Ardinghcllo gefreut habe; denn
seine Unmoralität kann mich nichts angehn. da ich ihn nicht deswegen, weil
ich auch ein Mensch bin. als meines Gleichen betrachten kann, ebenso wenig
als ein fremdes vortreffliches Gewächs; denn so müßten mir die Sitten der
Einwohner von Otahaitc gefährlich sein. Jeden großen, vorzüglichen Men-
schen sehn wir doch am liebsten als freien Wilden, auf den weder sein Zeitalter
noch dessen Sitten viel Einfluß hat. Das Buch hat mir wirklich viel Ver¬
gnügen gemacht." Darauf findet Knebel denn doch zu erinnern (12. Nov.):
"Nur ist in der innern Vorstellungsart eine gewisse Unmoralität, die sich nicht
ganz mit der otahaiteschcn oder thierischen vergleichen läßt. Es ist nämlich
ein ander Ding. einen Wilden in dem freien Gebrauch seiner blos thierischen
Kräfte zu sehn, und ein ander Ding, einen Sophisten mit reizenden und ein-
nehmenden Bildern die Sache so vorstellen zu sehn, als wenn sie wirklich
das höchste Glück des Menschen sei. Letzteres ist nicht wahr, und deshalb
wirds uns widrig; wir verlangen von erhöhten Dcnkkräften auch erhöhte Vor¬
stellungsart." Inzwischen haben die glühenden Bilder Hcinses doch auf ihn
gewirkt: "Wir sollten alle die kalten, spröden Hülsen abstreifen, die uns an
dem Genuß des allzukurzen Daseins verhindern." -- "Des Menschen Bestim¬
mung ist Erkenntniß und Genuß. Soll ich ewig nach Schatten laufen? Je
mehr glückliche Momente er zusammenbringt, um desto mehr hat der Mensch'N


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fühlt, daß es immer weniger zu verlieren hat. Wem es zu sehr durch die
Finger sieht zur Zeit, da er sich noch zu erwerben hat. dem ist es nicht ge¬
wogen: es arbeitet darauf, vollkommene Greise zu haben/ —
»Wir sollten nie feste Wünsche des Herzens machen. Das Schicksal hat seine
eigne Art zu erfüllen, die oft von der. wie wirs wünschten, sehr verschieden
ist. und doch die vorteilhafteste für uns. Fügen in die Nothwendigkeit ist
wahrer Gehorsam, und nur dieser kann uns am Ende, zumal bei verwirrter
Lage, beruhigen und glücklich machen" (6. Den. 1784). — Das Leben ist
voll eitel Müh und Stückwerk; indem wirs als solches betrachten, kommt uns
noch hier und da eine unerwartete stille Freude entgegen" (31. Jan. 1785).
— »Wir müssen uns stets mit dem Leben etwas verändern; denn wenn wir
stehen bleiben, sind wir zu nichts. . . Leb du nur immer etwas in Leicht¬
sinn und Taumel, wo es möglich ist!" (27. Juni 1786).

Karl äußerte sich der Schwester gegenüber mit unbedingtem Vertrauen;
auch Erlebnisse, die sonst unter Männern bleiben, theilte er ihr unbefangen
mit. Wie wenig sie der Prüderie anzuklagen war. zeigt die Correspondenz
über ArdingheUo. „Die Moral des Verfassers, schreibt Knebel 24. Sept.
"87. ist freilich schwankend, aber das Buch ist voll Leben, und das ist ge¬
nug. Moral ist. denk ich. jedes eigne Sache." „Du wirst mir nicht ver-
"rgen. antwortet Henriette. daß ich mich über Ardinghcllo gefreut habe; denn
seine Unmoralität kann mich nichts angehn. da ich ihn nicht deswegen, weil
ich auch ein Mensch bin. als meines Gleichen betrachten kann, ebenso wenig
als ein fremdes vortreffliches Gewächs; denn so müßten mir die Sitten der
Einwohner von Otahaitc gefährlich sein. Jeden großen, vorzüglichen Men-
schen sehn wir doch am liebsten als freien Wilden, auf den weder sein Zeitalter
noch dessen Sitten viel Einfluß hat. Das Buch hat mir wirklich viel Ver¬
gnügen gemacht." Darauf findet Knebel denn doch zu erinnern (12. Nov.):
»Nur ist in der innern Vorstellungsart eine gewisse Unmoralität, die sich nicht
ganz mit der otahaiteschcn oder thierischen vergleichen läßt. Es ist nämlich
ein ander Ding. einen Wilden in dem freien Gebrauch seiner blos thierischen
Kräfte zu sehn, und ein ander Ding, einen Sophisten mit reizenden und ein-
nehmenden Bildern die Sache so vorstellen zu sehn, als wenn sie wirklich
das höchste Glück des Menschen sei. Letzteres ist nicht wahr, und deshalb
wirds uns widrig; wir verlangen von erhöhten Dcnkkräften auch erhöhte Vor¬
stellungsart." Inzwischen haben die glühenden Bilder Hcinses doch auf ihn
gewirkt: „Wir sollten alle die kalten, spröden Hülsen abstreifen, die uns an
dem Genuß des allzukurzen Daseins verhindern." — „Des Menschen Bestim¬
mung ist Erkenntniß und Genuß. Soll ich ewig nach Schatten laufen? Je
mehr glückliche Momente er zusammenbringt, um desto mehr hat der Mensch'N


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/53>, abgerufen am 24.07.2024.